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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 30.06.2008
Aktenzeichen: 11 S 1268/08
Rechtsgebiete: VwGO, AufenthG


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5
AufenthG § 33 Satz 3
AufenthG § 81 Abs. 3
Wird für ein im Bundesgebiet geborenes Kind, dessen Mutter oder Vater sich aufgrund der Fiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder § 81 Abs. 4 AufenthG im Bundesgebiet aufhalten darf, innerhalb von sechs Monaten nach der Geburt ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt, dann löst dieser Antrag die Erlaubnisfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG aus.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

11 S 1268/08

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Aufenthaltserlaubnis und Abschiebungsandrohung;

hier: vorläufiger Rechtsschutz, Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

am 30. Juni 2008

beschlossen:

Tenor:

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt xxxxxxxx xxxxxx, xxxxxxxxxx, bewilligt.

Auf die Beschwerden der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 17. April 2008 - 1 K 4043/07 - mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller zu 1 und 2 gegen die Ablehnung ihrer Anträge auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und des Widerspruchs des Antragstellers zu 3 gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie der Widersprüche aller Antragsteller gegen die Abschiebungsandrohungen im Bescheid des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis vom 31. Oktober 2007 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 12.500,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

I. Wie sich aus Nachstehendem ergibt, haben die Beschwerden hinreichende Erfolgsaussicht. Den Antragstellern ist mithin für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gemäß § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu gewähren, weil sie - wie sich aus ihrer dahingehenden Erklärung ergibt - nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen können (vgl. § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 117 Abs. 2 und Abs. 4 ZPO).

II. Die Beschwerden der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 17.04.2008 sind zulässig (vgl. §§ 146, 147 VwGO) und begründet. Der Senat misst bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffenden eigenständigen Interessenabwägung dem privaten Interesse der Antragsteller, vorläufig vom Vollzug der angefochtenen Verfügung vom 31.10.2007 verschont zu bleiben, größere Bedeutung zu als dem öffentlichen Interesse an ihrer sofortigen Ausreise.

1. Gegen die Statthaftigkeit insbesondere des Antrags des Antragstellers zu 3 gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 20.11.2007 - 11 S 2364/07 - InfAuslR 2008, 81) bestehen entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts keine Bedenken. Die Anträge der Antragsteller zu 1 und 2 vom 25.10.2005 auf Verlängerung der ihnen mit Geltung bis 26.10.2005 erteilten Aufenthaltserlaubnisse haben die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG ausgelöst. Bezüglich des am 08.08.2007 geborenen Antragstellers zu 3 liegt ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor, der die Erlaubnisfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgelöst hat. Mit Schriftsatz vom 15.05.2007 beantragte die Antragstellerin zu 1 noch einmal die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen für ihre Familie und wies darauf hin, dass sie in der 23. Woche schwanger sei. Am 11.09.2007 gab sie sodann dem Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis die Geburt ihres zweiten Kindes in Heidelberg bekannt; am 26.09.2007 reichte sie dessen Abstammungsurkunde nach. Damit wurde für den Antragsteller zu 3 am 11.09.2007 hinreichend deutlich ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt. Dies wurde vom Landratsamt auch so verstanden, wie die ausdrückliche Ablehnung des Antrags im angefochtenen Bescheid vom 31.10.2007 zeigt.

Dieser Antrag löste die Erlaubnisfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG aus, denn der Aufenthalt des Antragstellers zu 3 war im Zeitpunkt der Antragstellung rechtmäßig. Gemäß § 33 Satz 3 AufenthG gilt der Aufenthalt eines im Bundesgebiet geborenen Kindes, dessen Mutter oder Vater zum Zeitpunkt der Geburt im Besitz eines Visums ist oder sich visumfrei aufhalten darf, bis zum Ablauf des Visums oder des rechtmäßigen visumfreien Aufenthalts als erlaubt. Im Bundesgebiet visumfrei aufhalten darf sich ein Ausländer - wie die Mutter des Antragstellers zu 3 am 08.08.2007 aufgrund ihres Verlängerungsantrags vom 25.10.2005 - auch aufgrund der Erlaubnis- bzw. Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 1 bzw. Abs. 4 AufenthG (vgl. Nr. 33.9 der VAH des BMI sowie Marx in GK-AufenthG, § 33 Rn. 64). Auch dem Erfordernis des § 81 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, wonach für ein im Bundesgebiet geborenes Kind, dem nicht von Amts wegen ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, der entsprechende Antrag innerhalb von sechs Monaten nach der Geburt gestellt werden muss, wurde entsprochen. Der Antrag des Antragstellers zu 3 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde am 11.09.2007, mithin rund fünf Wochen nach seiner Geburt gestellt.

Hinsichtlich der Abschiebungsandrohungen sind die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche ebenfalls statthaft (vgl. § 12 LVwVG).

2. Die Anträge sind bei Zugrundelegung der fristgerecht vorgebrachten Gründe, auf deren Prüfung sich das Beschwerdeverfahren grundsätzlich zu beschränken hat (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), auch begründet. Der Ausgang des Widerspruchsverfahrens ist nach Auffassung des Senats als offen anzusehen, weswegen insbesondere im Hinblick auf das Kindeswohl der Antragsteller zu 2 und 3 bei einer Abschiebung das private Aufschubinteresse das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes überwiegt. Bei der im Eilverfahren angezeigten summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage lässt sich jedenfalls weder eine offensichtliche Rechtmäßigkeit noch eine offensichtliche Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 31.10.2007 feststellen.

a) Nach derzeitiger Sach- und Rechtslage erscheint es möglich, dass der Antragstellerin zu 1 ein Ermessensanspruch auf Verlängerung der am 26.10.2005 abgelaufenen Aufenthaltserlaubnis gemäß § 31 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 101 Abs. 2 AufenthG (§ 19 AuslG) zusteht und deshalb auch den Antragstellern zu 2 und 3 nach § 34 Abs. 1 AufenthG bzw. § 33 Satz 1 oder 2 AufenthG Aufenthaltserlaubnisse zu verlängern bzw. zu erteilen sind. Die Antragstellerin zu 1 war ab 17.12.1999 bis 29.08.2002 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis als Ehefrau des deutschen Staatsangehörigen M.B.. Der im Sinne des § 69 Abs. 3 AuslG am 19.07.2002 rechtzeitig gestellte Verlängerungsantrag wurde vom Antragsgegner zunächst durch Bescheid des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis vom 02.10.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.01.2004 abgelehnt. Diese Bescheide wurden jedoch durch Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 02.07.2004 - 1 K 394/04 - (rechtskräftig seit 20.08.2004) aufgehoben, weil der Antragstellerin zu 1 aufgrund der Misshandlungen ihres Ehemannes ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 AuslG zustand. Damit lebte die Fiktionswirkung des § 69 Abs. 3 AuslG wieder auf und galt mithin vom 30.08.2002 bis 25.10.2004. In Befolgung des Urteils des Verwaltungsgerichts Karlsruhe erteilte das Landratsamt der Antragstellerin zu 1 am 26.10.2004 eine bis 26.10.2005 gültige Aufenthaltserlaubnis. Insgesamt war sie somit von 17.12.1999 bis 26.10.2005 im Besitz einer (fiktiven) Aufenthaltserlaubnis. Diese Aufenthaltserlaubnis könnte nunmehr aufgrund des Antrags vom 25.10.2005 gemäß § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG weiter verlängert werden müssen. Ein diesbezügliches Ermessen wurde von dem Antragsgegner bislang nicht ausgeübt.

Nach Auffassung des Senats ist es nicht ausgeschlossen, dass die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG gegeben sind, die bei der weiteren Verlängerung des eigenständigen Ehegattenaufenthaltsrechts nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG allesamt vorliegen müssen. Zwar ist der Lebensunterhalt der Antragstellerin zu 1 derzeit im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht gesichert. Von dieser Regelerteilungsvoraussetzung könnte aber abgesehen werden müssen, weil ein Ausnahmefall vorliegt (vgl. zu § 7 Abs. 2 AuslG: BVerwG, Urteil vom 29. Juli 1993 - 1 C 25.93 - BVerwGE 94, 36). Die Antragstellerin zu 1 ist alleinerziehende Mutter des heute achtjährigen Antragstellers zu 2 und des zehn Monate alten Antragstellers zu 3. Insbesondere aufgrund des Säuglings dürfte der Antragstellerin zu 1 heute, und dieser Zeitpunkt ist aufgrund des laufenden Widerspruchsverfahrens maßgebend, eine Arbeitaufnahme zur Vermeidung eines Härtefalles nicht zugemutet werden können. Dieses Ergebnis entspricht auch der Wertung des Gesetzgebers in § 104 a Abs. 6 Satz 2 Nr. 3 AufenthG und § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II, auf die insoweit wohl zurückgegriffen werden kann.

Der Antragsgegner geht des Weiteren vom Vorliegen eines Ausweisungsgrundes im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aus, weil die Klägerin im Jahr 2006 durch zwei Strafbefehle mit jeweils 20 Tagessätzen zu 10 EUR bestraft worden ist. Der eine Strafbefehl betraf das Zulassen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG), der andere einen Ladendiebstahl von Bekleidung im Wert von 42 EUR (§ 242 Abs. 1 StGB). Ob hierdurch der Tatbestand der Ermessensausweisung nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt wurde, ist indessen nicht eindeutig. Die beiden Straftaten könnten im konkreten Einzelfall als geringfügige Verstöße gegen Rechtsvorschriften zu bewerten sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.11.2004 - 1 C 23.03 - BVerwGE 122, 193 und Nr. 55.2.2.3.1 der VAH des BMI zu § 55 AufenthG). Auch im Hinblick auf den langjährigen straffreien Aufenthalt der Antragstellerin zu 1 im Bundesgebiet (seit 31.01.1992) könnten sie zudem gegebenenfalls als vereinzelt eingestuft werden müssen; eine "Vielzahl" von Verstößen gegen Rechtsvorschriften (Renner, AuslR, 8. Aufl., § 55 Rn. 18) oder eine "Häufung" solcher Verstöße (Albrecht in Storr u.a., ZuwG, 2. Aufl., § 55 Rn. 11) ist zumindest nicht gegeben. Im Hinblick auf den langjährigen, davon über fünf Jahre erlaubten Aufenthalt der Antragstellerin zu 1 im Bundesgebiet könnte unter Berücksichtigung der aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zudem ein Ausnahmefall im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthG zu bejahen sein.

Nach alledem muss auf die mit der Beschwerdebegründung sinngemäß aufgeworfene Frage einer verfassungskonformen Auslegung von § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Lichte des in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Diskriminierungsverbots (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.05.2007 - 2 BvR 2483/06 - NVwZ 2007, 1302) nicht weiter eingegangen werden. Als aus dem Kosovo stammende alleinerziehende Roma wäre die Antragstellerin zu 1 voraussichtlich in dem insoweit maßgeblichen Zeitraum 01.07.2001 bis 01.07.2007 durchgängig geduldet worden (s. Begründung der sechsmonatigen Duldungsverlängerung des Landratsamts vom 02.09.2003 "gemäß Erlass"). Da die Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden soll und gemäß § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen nicht schaden, hätten die Antragsteller wohl einen Anspruch nach § 104 a Abs. 1 AufenthG erwerben können. Allein weil die Antragstellerin zu 1 einen deutschen Staatsangehörigen geheiratet hatte und deshalb zeitweise über eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen verfügte, scheidet dies nun aus, was möglicherweise gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen könnte.

b) Mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche gegen die Versagung der Verlängerung bzw. Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse entfällt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht der Antragsteller, so dass hinsichtlich der Abschiebungsandrohung gleichfalls die aufschiebende Wirkung der Widersprüche anzuordnen war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG (2 x 5000.-- und 1 x 2.500.--). Nach ständiger Rechtsprechung des Senats entspricht der Streitwert in aufenthaltsrechtlichen Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dem Auffangwert des § 52 Abs. 2 VwGO, wenn dem Ausländer - wie im Falle der Antragsteller zu 1 und 2 - bereits durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels ein legaler Aufenthalt im Bundesgebiet ermöglicht worden ist (grundlegend: Senatsbeschluss vom 04.11.1992 - 11 S 2216/92 - juris; ebenso VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.12.2004 - 13 S 2510/04 -).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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