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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 19.12.2008
Aktenzeichen: 11 S 1453/07
Rechtsgebiete: FreizügG EU, AuslG 1990, EWGRL 64/221, EMRK, LVwVfG


Vorschriften:

FreizügG EU § 6
FreizügG EU § 7 Abs. 2 Satz 2
FreizügG EU § 7 Abs. 2 Satz 3
AuslG 1990 § 45
AuslG 1990 § 47 Abs. 2
EWGRL 64/221 Art. 9
EMRK Art. 8 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 2
LVwVfG § 48 Abs. 1 Satz 1
1. Ausweisungen von Unionsbürgern waren - sofern kein dringender Fall vorlag - wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG formell rechtswidrig, wenn zwar ein Widerspruchsverfahren durchgeführt wurde, Ausgangs- und Widerspruchsbehörde aber identisch waren. In diesem Fall wurde das gemeinschaftsrechtlich gebotene Vier-Augen-Prinzip nicht gewahrt (im Anschluss an EuGH, Urt. v. 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] - Slg. 2004, I-5257).

2. Im Rahmen der bei Befristungsentscheidungen nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU zu treffenden Ermessensentscheidung über die Länge der Frist ist es, wenn der Ausländer sich zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Befristungsantrag in Strafhaft befindet oder vor kurzem befunden hat, in der Regel geboten, die Strafvollstreckungsakten und die Gefangenenpersonalakten beizuziehen.


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

11 S 1453/07

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Rücknahme und Befristung der Wirkungen der Ausweisung

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

am 19. Dezember 2008

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 22. Mai 2007 - 9 K 214/05 - geändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Regierungspräsidiums Tübingen vom 24. Januar 2005 verpflichtet, über die Anträge des Klägers auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Tübingen vom 25. Mai 1999 sowie auf Befristung der Wirkungen dieser Ausweisungsverfügung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Kläger trägt zwei Drittel, der Beklagte ein Drittel der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Rücknahme seiner 1999 verfügten Ausweisung, hilfsweise die Befristung ihrer Wirkungen auf den heutigen Zeitpunkt.

Der 1977 in xxx geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er wuchs vorwiegend im Haushalt seiner Großeltern mütterlicherseits in xxxxxxx sowie teilweise bei seiner Mutter in Italien auf. Seinen leiblichen Vater lernte er nie kennen. Er besuchte von 1983 bis 1991 in xxxxxxx die Grund- und Hauptschule und nach seinen eigenen Angaben anschließend zwei Jahre lang die Mittelschule in Italien. Er ist ledig und hat mit einer deutschen Staatsangehörigen eine im Jahr 2001 geborene Tochter, zu der er keinen Kontakt hat.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1995 begann der Kläger eine Lehre als Bäcker, die er aber abbrach. Bis etwa 1997 oder 1998 war er gelegentlich als Hilfsarbeiter tätig. Seither ist er arbeitslos. Am 21.11.1995 erhielt er eine bis 13.11.2000 befristete Aufenthaltserlaubnis-EWG.

Bereits im Alter von 14 Jahren begann der Kläger nach eigenen Angaben damit, Marihuana zu konsumieren. Später nahm er auch Heroin, Kokain und LSD zu sich. Seit 1991 ist der Kläger mit Hepatitis C infiziert.

Strafrechtlich trat der Kläger vor seiner Ausweisung wie folgt in Erscheinung: Am 15.02.1996 wurde er vom Amtsgericht xxxxxxx wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt (1 Cs 23 Js 887/96). Am 29.10.1996 verurteilte ihn das Amtsgericht xxxxxxx wegen vorsätzlicher unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Geldauflage (1 Cs 22 Js 10199/96). Mit Urteil vom 23.03.1999 - 11 Ls 22 Js 20702/98 AK 102/98 - wurde er vom Amtsgericht xxx wegen schweren Raubs sowie versuchten schweren Raubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Dem lagen zwei Überfälle auf Bankkunden zugrunde: Der Kläger hatte gemeinsam mit zwei Mittätern am 19.10.1998 den Entschluss gefasst, einer Person, die an der Bankfiliale am xxxxxxxxxxx in xxxxxxx Geld abheben würde, dieses anschließend abzunehmen. Zu diesem Zweck trug er ein Reizgassprühgerät bei sich. Als der Geschädigte W. die Sparkassenfiliale verließ, versuchten der Kläger und seine Mittäter, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Der Kläger sprühte dem Geschädigten W. Reizgas ins Gesicht und die Mittäter entrissen ihm unter Anwendung erheblicher Gewalt die Jutetasche, die dieser über seiner Schulter trug. Sie flüchteten gemeinsam, fanden jedoch nur wertlose Gegenstände, die sie daraufhin wegwarfen. Am 27.10.1998 beobachtete der Kläger gemeinsam mit zwei Mittätern die Sparkassenfiliale xx xxxxxxxxxxx in xxxxxxx. Während ein Mittäter die Eingangstür bewachte, drückte der Kläger den 15jährigen Geschädigten C. G., der gerade 200,-- DM aus dem Geldautomaten herausgelassen hatte, in eine Ecke, bedrohte ihn mit dem Reizstoffsprühgerät und drückte mit der anderen Hand gegen seinen Hals. Dann nahm er ihm die 200,-- DM weg und lief gemeinsam mit dem einen Mittäter zu dem Pkw, in dem der zweite Mittäter gewartet hatte. Der Kläger war in dieser Sache seit dem 27.10.1998 in Untersuchungshaft.

Mit Verfügung vom 25.05.1999 wies das Regierungspräsidium Tübingen den Kläger unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus und drohte ihm die Abschiebung aus der Strafhaft nach Italien an. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass der Kläger die Voraussetzungen einer Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG erfülle. Besonderen Ausweisungsschutz genieße er nicht, da ihm bisher noch keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei. Es liege auch kein atypischer Sachverhalt vor, der es rechtfertige, von der Regelausweisung abzusehen. Die Ausweisung sei aus spezialpräventiven Gründen geboten. Auch die Anforderungen des § 12 AufenthG/EWG seien erfüllt.

Den gegen diese Verfügung eingelegten Widerspruch wies das Regierungspräsidium Tübingen mit Widerspruchsbescheid vom 08.12.1999 zurück. Das Regierungspräsidium führte ergänzend aus, dass der Kläger auch im Ermessenswege nach § 45 AuslG ausgewiesen werden könne. Der Widerspruchsbescheid wurde am 20.12.1999 zugestellt. Klage wurde nicht erhoben.

Am 26.05.2000 wurde der Kläger aus der Haft heraus nach Italien abgeschoben. Er kehrte im Januar 2001 in das Bundesgebiet zurück und verbüßte bis zum 18.04.2002 den Rest der mit Urteil vom 23.03.1999 verhängten Freiheitsstrafe. Am 29.05.2001 verurteilte ihn das Amtsgericht xxxxxxx wegen unerlaubter Einreise in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt im Bundesgebiet nach Abschiebung und vorsätzlicher unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 75 Tagessätzen (2 Ds 23 Js 2160/01).

Während der Haft erlitt der Kläger Anfang 2002 eine Einblutung, die nach den Feststellungen des Landgerichts xxx in seinem Urteil vom 03.06.2008 - 2 Ns 21 Js 8010/07 - nicht wegen Konsums verunreinigten Heroins, sondern wegen eines geplatzten Aneurhysmas eintrat. Es fand (entgegen der Darstellung des Klägers) keine Einblutung in das Gehirn statt, vielmehr ging die Blutung in die Zwischenräume, weswegen das Gehirn selbst davon nicht betroffen war. In der Folgezeit wurde der Kläger deshalb mehrfach am Kopf operiert. Nach Stabilisierung des Gesundheitszustands wurde er am 09.12.2002 erneut nach Italien abgeschoben.

Nur wenige Wochen später reiste der Kläger wiederum in das Bundesgebiet ein. Seinen anschließenden Aufenthalt in Deutschland finanzierte er - wie er gegenüber dem Landgericht xxx selbst einräumte - zumindest teilweise durch Diebstähle. Ab 07.02.2003 befand er sich erneut in Untersuchungshaft. Mit Urteil vom 10.10.2003 - 2 KLs 35 Js 2403/03 - verurteilte das Landgericht xxx den Kläger wegen versuchter schwerer räuberischen Erpressung (bewaffneter Überfall auf einen Supermarkt unter Einsatz eines 40 cm langen Fleischermessers am 03.02.2003) und vorsätzlicher Körperverletzung (Auseinandersetzung mit seiner damaligen Freundin, die er mehrfach so heftig ins Gesicht schlug, dass sie Hämatome an Wange und Stirn davontrug) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten und ordnete seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Ausweislich der strafgerichtlichen Feststellungen hatte der Kläger den bei dem Überfall erwarteten Erlös zum Erwerb von Alkohol und Drogen zum Eigenkonsum verwenden wollen. Das Gericht ging von einer eingeschränkten Schuldfähigkeit des Klägers wegen Vorliegens einer krankhaften seelischen Störung aus.

In der Zeit vom 13.05.2004 bis 25.11.2004 war der Kläger aufgrund der Entscheidung des Landgerichts xxx in der xxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxx untergebracht. Es bestand der Verdacht der Polytoxikomanie und einer kombinierten Persönlichkeitsstörung. Der Kläger beging dort über 20 Regelverletzungen, so hatte er beispielsweise die Medikamenteneinnahme (Antiepileptika) verweigert und die Tabletten in seinem Zimmer gehortet. Im Verlauf der anschließenden Strafverbüßung war der Kläger mehrfach im Vollzugskrankenhaus xxxxxxxxxxx vorstellig geworden. Vom 15.06.2005 bis zum 27.06.2005 befand er sich dort wegen einer Anpassungsstörung und geäußerten Suizidideen, die er aber bereits bei Aufnahme in das Vollzugskrankenhaus dementierte. Er gab an, er habe die Suizididee lediglich vorgeschützt, weil er sich als Informant für Bedienstete der Justizvollzugsanstalt zur Verfügung gestellt und deshalb Drohungen von Mitgefangenen erhalten habe. Abermals befand er sich wegen vorgeblicher Oberbauchbeschwerden, die aber nicht verifiziert werden konnten, in der Zeit vom 12.07.2005 bis zum 25.07.2005 in der inneren Abteilung im Vollzugskrankenhaus xxxxxxxxxxx. Als die Entlassung anstand, gab der Kläger plötzlich wieder vor, Suizidgedanken zu haben. Vom 01.08.2005 bis 22.08.2005 war er erneut wegen Anpassungsstörungen im Vollzugskrankenhaus. Er gab an, er sei Drohungen von Mitgefangenen ausgesetzt. Vom 06.09.2005 bis 19.09.2005 befand er sich im Vollzugskrankenhaus, weil er halluzinatorische Störungen vorgab. So wollte er Stimmen gehört haben, die ihm befohlen haben, sich umzubringen. Letztlich ergaben die ärztlichen Untersuchungen aber, dass er lediglich beim Einschlafen "akustische Sensationen" gehabt habe, wie es bei vielen Menschen vorkomme, und es sich bei seinen Angaben um eine Simulation gehandelt haben müsse, um aus dem Regelvollzug entlassen zu werden.

Bereits unter dem 18. bzw. 27.10.2004 hatte der Kläger die Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 25.05.1999, hilfsweise die sofortige Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung sowie die Erteilung einer Duldung beantragt. Zur Begründung wurde geltend gemacht, dass die Ausweisung, da sie als Regelausweisung verfügt worden sei, gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Zudem sei kein den Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG entsprechendes Vorverfahren durchgeführt worden. Seine Bindungen im Bundesgebiet seien nicht berücksichtigt worden. Er leide an den Folgen eines Hirnschlags, sei schwerbehindert und nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Er bedürfe der Unterstützung seiner Familienangehörigen.

Mit Bescheid vom 24.01.2005, zugestellt am 27.01.2005, lehnte das Regierungspräsidium Tübingen den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 25.05.1999 ab und befristete die Wirkungen der Ausweisung unter der Bedingung der weiteren Straffreiheit nachträglich auf fünf Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Ausweisungsverfügung nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Sie sei nicht ausschließlich als Regelausweisung erfolgt. Im Widerspruchsbescheid sei explizit dargelegt worden, dass der Kläger auch im Ermessenswege ausgewiesen werden könne. Es seien Ermessenserwägungen angestellt worden, wobei die damaligen Bindungen des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland angemessen berücksichtigt worden seien. Auch die Anforderungen des § 12 AufenthG/EWG seien beachtet worden. Die Ausweisung sei daher rechtmäßig und nicht zurückzunehmen. Vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass eine Rücknahme ferner deshalb ausscheide, weil der Kläger durch sein Verhalten gezeigt habe, dass von ihm auch aktuell die Gefahr der künftigen Begehung schwerer Straftaten ausgehe. Die Wirkungen der Ausweisung seien auf fünf Jahre zu befristen. Es sei zu befürchten, dass der Kläger auch künftig Straftaten von erheblichem Gewicht begehen werde. Dem daraus resultierenden öffentlichen Interesse an seiner Fernhaltung aus dem Bundesgebiet stehe sein privates Interesse gegenüber. Dabei sei zu würdigen, dass er in Deutschland lebende Familienmitglieder habe und als Unionsbürger grundsätzlich das Recht auf Freizügigkeit genieße. Nicht nachvollzogen werden könne allerdings, dass er im Hinblick auf Gesundheitsprobleme auf die Betreuung durch seine in Deutschland lebende Mutter bzw. Geschwister angewiesen sein solle. Eine angemessene medizinische Versorgung und Betreuung sei auch in Italien gewährleistet. Unter Abwägung aller Gesichtspunkte sei daher eine Sperrfrist von fünf Jahren angemessen. Auszugehen sei von einer Regelsperrfrist von drei Jahren zuzüglich des festgesetzten Strafmaßes von hier insgesamt sechs Jahren und einem Monat, was eine Sperre von über neun Jahren bedeuten würde. Aufgrund der geltend gemachten persönlichen Belange des Klägers sei man aber vom Mindestmaß (sechs Monate zuzüglich Strafmaß) ausgegangen und habe dies noch einmal auf insgesamt fünf Jahre reduziert.

Am 28.01.2005 hat der Kläger Klage erhoben mit dem Antrag, den Beklagten unter Aufhebung seiner Verfügung vom 24.01.2005 zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung vom 25.05.1999 zurückzunehmen, hilfsweise die Ausweisung zu befristen. Er macht geltend, die auf § 47 Abs. 2 AuslG gestützte Regelausweisung sei gemeinschaftsrechtswidrig gewesen. Auch die Hilfserwägungen im Widerspruchsbescheid genügten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen nicht. Es werde der Gefahrenbegriff des deutschen Polizeirechts angelegt. Zudem hätte die Frage gestellt werden müssen, in welchem Land die Voraussetzungen für eine Resozialisierung am günstigsten seien. Der Beklagte habe die mit einem Gefängnisaufenthalt sonst verbundene Orientierung auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft durch die Ausweisung und Abschiebung verhindert. Im Hinblick auf die Folgen der Hirnoperation wäre für den Kläger die von ihm erstrebte Nähe zu seiner Familie günstig. Die verhängte Sperrfrist sei rechtswidrig, weil der Bescheid von einer Regelsperrfrist zuzüglich des verhängten Strafmaßes ausgehe. Der verwendete Schematismus löse sich von den Umständen des Einzelfalles und lasse die Entwicklung in der Strafhaft außer Acht. Dieses Schema habe generalpräventiven Charakter, weshalb zumindest Neubescheidung geboten sei. Überdies bedürfe es seit dem 01.01.2005 für die Beendigung des Aufenthalts von Unionsbürgern einer Feststellungsentscheidung nach § 6 FreizügG/EU. Das Gericht müsse die Feststellung bezogen auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung überprüfen. Es handle sich nicht um die Kontrolle einer Ermessensausübung. Mangels Übergangsregelungen im FreizügG/EU habe die Ausweisung ihre Wirksamkeit verloren. Die Ausweisung verstoße auch gegen Art. 8 EMRK. Das Ausmaß der Schwierigkeiten des Klägers bei einer Rückkehr sei bei der Entscheidung nicht berücksichtigt worden. Schließlich sei die Ausweisung zu Unrecht unbefristet erfolgt. Der Beklagte sei auch gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, die Ausweisung zurückzunehmen.

Während des Klageverfahrens wurde der Kläger, nachdem er ohne Erfolg um Eilrechtsschutz nachgesucht hatte, am 03.05.2006 nach Italien abgeschoben. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt vor dem 13.03.2007 reiste er erneut in das Bundesgebiet ein.

Mit Urteil vom 22.05.2007 hat das Verwaltungsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe weder einen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 25.05.1999 noch einen Anspruch darauf, dass der Beklagte verpflichtet werde, das Verbot der Einreise und des Aufenthalts mit sofortiger Wirkung zu befristen bzw. über die Befristung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Das für die Klage erforderliche Rechtsschutzinteresse liege allerdings vor, da die Ausweisung des Klägers mit Inkrafttreten des FreizügG/EU ihre Wirksamkeit nicht verloren habe. Die Klage sei aber nicht begründet, da die Ablehnung der Rücknahme rechtmäßig gewesen sei. Eine Rücknahme nach § 48 LVwVfG setze die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsaktes voraus. Daran fehle es hier. Die Ausweisung sei nicht ausschließlich als Regelausweisung (§ 47 Abs. 2 AuslG) ergangen, vielmehr sei hilfsweise Ermessen ausgeübt worden. Die Ermessensausübung sei nicht zu beanstanden. Nachträgliche Entwicklungen seien für die Rechtmäßigkeit der Ausweisung ohne Belang, da diese bereits am 20.01.2000 bestandskräftig geworden sei. Verfahrensrechtliche Bedenken bestünden nicht. Im Zuge der Ausweisung habe ein Widerspruchsverfahren stattgefunden. Hiermit sei dem "Vier-Augen-Prinzip" des Art. 9 Abs. 1 der RL 64/221/EWG genügt worden. In materieller Hinsicht sei die Ausweisung ebenfalls rechtmäßig. Da nach nationalem Recht eine getrennte Entscheidung über Ausweisung und Befristung möglich sei, sei nicht zu beanstanden, dass über letztere erst nachträglich befunden wurde. Europarecht stehe zudem einer Ausweisung im Falle der Gefahr der Wiederholung schwerwiegenden kriminellen Verhaltens nicht entgegen. Auch mit Rücksicht auf familiäre Bindungen sei nicht von der Rechtswidrigkeit der Verfügung auszugehen. Der Kläger lebe namentlich nicht in familiärer Lebensgemeinschaft mit seiner früheren Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind. Familiäre Bindungen bestünden allenfalls zu seiner Großmutter. Selbst wenn diese in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK fallen sollten, sei die Ausweisung wegen der begangenen Straftaten und der bestehenden Wiederholungsgefahr nicht unverhältnismäßig. Gleiches gelte für den Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens. Selbst wenn man die Ausweisungsverfügung als rechtswidrig erachten wollte, sei das Rücknahmeermessen nicht fehlerhaft ausgeübt worden. Einer Ermessensreduzierung auf Null stehe schon entgegen, dass es der Kläger versäumt habe, gegen die Ausweisung gerichtlich vorzugehen. Zudem habe sich die festgestellte Gefahr der Begehung weiterer Straftaten zwischenzeitlich realisiert. Das Gemeinschaftsrecht führe ebenfalls nicht zu einer Ermessensreduzierung. Der EuGH anerkenne im Grundsatz die nationalen Verfahrensmodalitäten, solange rein innerstaatliche Angelegenheiten nicht privilegiert würden und die Ausübung des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werde. Dies sei nicht der Fall. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht habe, er wolle seinen Antrag auch als Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens verstanden wissen, habe er gleichwohl trotz ausdrücklicher Nachfrage keinen entsprechenden zusätzlichen Antrag gestellt. Da auch bei der Behörde bislang kein derartiger Antrag gestellt worden sei, sei insoweit kein Verwaltungsverfahren durchgeführt worden. Der Kläger habe zudem eingeräumt, erst durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 24.01.2007 - 13 S 451/06 - diese Möglichkeit erkannt zu haben. Schon deshalb könne sein Antrag vom 18./27.10.2004 nicht in diesem Sinne ausgelegt werden. Ein Anspruch auf Befristung mit sofortiger Wirkung bestehe ebenfalls nicht. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass das Befristungsermessen nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU bereits derzeit zu Gunsten einer Befristung mit sofortiger Wirkung reduziert sei. Dies könne nur dann der Fall sein, wenn die Gefahr, der durch die Befristung begegnet werden solle, zwischenzeitlich entfallen sei. Daran fehle es. So werde nicht einmal behauptet, dass der Kläger seinen "Hang zu übermäßigem Konsum von Betäubungsmitteln" inzwischen im Griff habe. Dieser sei aber nach den Feststellungen des Landgerichts xxx im Urteil vom 10.10.2003 mitursächlich für die Straftaten des Klägers gewesen. Schließlich leide die Befristungsentscheidung nicht an Ermessensfehlern. Der Beklagte sei bei der Bemessung der Frist nicht schematisch vorgegangen. Vielmehr seien auch die privaten Belange des Klägers sowie seine Eigenschaft als Unionsbürger berücksichtigt worden. Namentlich die nicht sehr ausgeprägten familiären Beziehungen des Klägers ließen die Bemessung der Frist nicht als fehlerhaft erscheinen. Auch die Krankheit des Klägers gebiete keine kürzere Frist.

Am 15.06.2007 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt. Zur Begründung der Berufung trägt er in Ergänzung zu seinem erstinstanzlichen Vorbringen vor, dass der Rücknahmeantrag bei der gebotenen sachdienlichen Auslegung sowohl die Rechtsgrundlage des § 48 LVwVfG als auch die des § 51 LVwVfG umfasst habe. Bezüglich der Fortgeltung alter Ausweisungen habe das Verwaltungsgericht verkannt, dass der Gesetzgeber mit dem Nichtverweis auf § 102 Abs. 1 AufenthG im FreizügG/EU einem Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission entgegengekommen sei, der Nichtverweis somit bewusst erfolgt sei. Gegen eine Fortgeltung spreche zudem, dass § 12 AufenthG/EWG vom EuGH als teilweise gemeinschaftswidrig angesehen worden sei. Hinzu komme, dass Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG eine Überprüfung durch ein Gericht oder eine gerichtsförmige, also in voller Unabhängigkeit handelnde Stelle verlange. Das Widerspruchsverfahren erfülle diese Voraussetzungen nicht. Dass über die Befristung nachträglich entschieden werden könne, habe eine schwebende (Un-)Wirksamkeit der Ausweisung zur Folge. Dies sei dem deutschen Recht fremd. Zudem liege eine Verletzung des Art. 8 EMRK vor. Die Ausweisung wäre nur zulässig gewesen, wenn sie durch überragende Gründe gerechtfertigt gewesen wäre. Solche Gründe habe das Verwaltungsgericht nicht festgestellt. Schließlich sei der Kläger wegen seiner Hirnoperation erhöht schutzbedürftig. Eine solche Operation bewirke immer eine Veränderung der Persönlichkeit und gebiete die Unterstützung durch die Familie.

Der Kläger beantragt - sachdienlich gefasst -,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 22. Mai 2007 - 9 K 214/05 - zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Regierungspräsidiums Tübingen vom 24. Januar 2005 zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Tübingen vom 25. Mai 1999 zurückzunehmen, hilfsweise die die Sperrwirkung dieser Ausweisungsverfügung auf sofort zu befristen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung und das erstinstanzliche Vorbringen.

Durch Urteil des Amtsgerichts xxx vom 26.11.2007 (Az.: 6 Cs 21 Js 8010/07 v.m. 6 Ds 26 Js 16713/07) wurde der Kläger zwischenzeitlich wegen tatmehrheitlich begangener Vergehen des Erschleichens von Leistungen, der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet, der vorsätzlichen Körperverletzung, der Beleidigung, der gefährlichen Körperverletzung sowie des Diebstahls in acht tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Dem lag u.a. zugrunde, dass er am 16.04.2007 einem körperlich weit unterlegenen Mitgefangenen, ohne von diesem angegriffen worden zu sein, mit der Faust ins Gesicht, auf den Rücken und in den Bauch schlug, so dass dieser zu Boden stürzte und Hämatome im Gesicht sowie Schürfwunden am Rücken erlitt (II. 3. des Urteils). Am 23.07.2007 ("xxxxxxxxxxxx") war der Kläger in der xxxxx Innenstadt mit einer Bierflasche auf den Geschädigten T. U. losgegangen und hatte diesem die Bierflasche mit einer derartigen Wucht auf den Kopf geschlagen, dass die Flasche dabei zerbrach. Unmittelbar danach versetzte er dem Geschädigten noch einen Faustschlag ins Gesicht und biss ihn, als er sich wehrte, in den kleinen Finger. Der Geschädigte erlitt eine Platzwunde an der linken Schläfe und ein Hämatom am rechten Auge (II. 5. des Urteils). Auf die Berufung des Klägers hat das Landgericht xxx mit Urteil vom 03.06.2008 - 2 Ns 21 Js 8010/07 - das Urteil des Amtsgerichts xxx vom 26.11.2007 dahingehend abgeändert, dass die Verurteilung wegen unerlaubter Einreise und des unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet entfällt. Im Übrigen hat es die Berufung verworfen. Eine verminderte Schuldfähigkeit des Klägers aufgrund seiner Erkrankungen hat das Landgericht verneint. Es hat hierzu ausgeführt:

"Die Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB kam nach dem Ergebnis des von der Kammer eingeholten und in der Berufungshauptverhandlung erläuterten forensisch psychiatrischen Gutachtens nicht in Betracht. Der Sachverständige Dr. xxxxxx, der seit Jahrzehnten dem Gericht als erfahrener und kompetenter Sachverständiger bekannt ist, hat den Angeklagten persönlich untersucht und die Krankengeschichten der letzten Jahre studiert. Eine Verlangsamung des Denkens konnte der Sachverständige zu keinem Zeitpunkt feststellen. Im Gegenteil hat er dargelegt, dass dem Angeklagten ein assoziationsreiches Denken zur Verfügung stehe und er eine rasche Auffassungsgabe habe.

Es gäbe im Übrigen bei allen bisher den Angeklagten explorierenden Ärzten und Gutachtern eine breite Übereinstimmung in der Bewertung der Persönlichkeit des Angeklagten, die er wie folgt beschreibt:

Der Angeklagte habe eine unreife Persönlichkeit ohne jede Struktur. Diese mag einerseits genetisch bedingt, andererseits aber auch aus der Biografie des Angeklagten ableitbar sein. Der Angeklagte habe in der Vergangenheit keinerlei stabile Beziehungen aufbauen können und sei eine primär labile Persönlichkeit. Sein Persönlichkeitsbild sei kaum in einen Katalog eines forensischen Psychiaters zu fassen. Jeder Behandler beschreibe den Angeklagten naturgemäß aus seiner eigenen Perspektive, dennoch sei einheitlich zu beobachten, dass der Angeklagte ausgeprägte egozentrische Bezüge ohne wirkliches echtes Interesse an Mitmenschen habe. Mitmenschen dienten ihm als Mittel zum Zweck. Empathie sei bei ihm nicht festzustellen, vielmehr eine Distanziertheit Menschen gegenüber, ohne mitschwingendes Gefühl. Der Angeklagte neige zu Dramatisierung und Simulation, sei aber gleichzeitig äußerst verführbar, bei festzustellender latenter Aggression. Er neige zu heftigen Gefühlsreaktionen und wolle immer und überall eine wichtige Rolle spielen. Er sei augenblicksverhaftet und antworte, wie es ihm gerade nütze. Er interessiere sich nicht für Normen oder für ein verantwortungsvolles Leben. Der Angeklagte habe keinerlei Schuldbewusstsein und schiebe anderen Menschen die Verantwortung zu. Er lerne nicht aus einer Bestrafung, sondern intensiviere danach seine Schuldzuweisungen nach außen.

Im Ergebnis sei eine Persönlichkeitsstörung im Sinne einer Abweichung von einer gedachten Durchschnittsnorm, die sozial störend sei, festzustellen. Allerdings hätten seine Auffälligkeiten nichts mit der früheren Einblutung zu tun, diese Störungen zögen sich durch sein ganzes Leben und stünden mit den Vorstrafen im Kontext. Es könne sein, dass sich die Ausfälle langsam mit dem Älterwerden des Angeklagten zurückzögen.

Nennenswerte psychische Ausfälle, die die Eingangsmerkmale des § 21 StGB ausfüllen würden, könnten jedenfalls nicht beobachtet werden. Ein Zusammenhang mit der früheren neurologischen Behandlung und den inkriminierten Handlungen könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, ebenfalls eine Verknüpfung mit seinem vorgeblichen Drogenkonsum.

Im Fall 2 habe der Angeklagte die Tat angekündigt, im Fall 3 sei eine mehrschrittige Handlungsweise vorgenommen worden, im Fall 4 seien die Feststellungen zum Alkoholgenuss nicht derart hinreichend, dass vom Vorliegen verminderter Schuldfähigkeit ausgegangen werden könne. Für die Fälle 5 bis 12 sei nach der Tatanalyse eine eingeschränkte Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit nicht anzunehmen, eine Schuldminderung daher auszuschließen. Die frühere Begutachtung, die der letzten Strafverurteilung des Angeklagten zugrunde gelegt wurde, sei aus seiner Sicht als forensischer Psychiater, der bereits seit 30 Jahren auf diesem Fachgebiet tätig sei, nicht haltbar.

Dass der Angeklagte gerne "die Puppen tanzen lässt", wie der Sachverständige erläuterte, zeigte sich für die Kammer bereits im Blick auf die vielen Anträge des Angeklagten auf Verteidigerwechsel während seiner Untersuchungshaft. Den Antrag auf Hinzuziehung eines Dolmetschers begründete der Angeklagte damit, dass er den Dolmetscher eben persönlich kenne und möge, "natürlich müsste er ihn wegen seiner guten Deutschkenntnisse nicht unbedingt haben"."

Die Strafaussetzung zur Bewährung hat das Landgericht versagt, weil bei dem Kläger eine "denkbar ungünstige Sozialprognose" vorliege. Dies gründe sich zum einen auf die mangelnde Persönlichkeitsstruktur, zum anderen auf seine fehlende soziale Eingebundenheit. In der Hauptverhandlung habe er zunächst angegeben, nach Italien ausreisen zu wollen, dann aber hinzugefügt, dass er eigentlich gar nicht wisse, was er dort solle, denn seine Familie sei schließlich in Deutschland. Darüber hinaus gehe der Kläger seit Jahren keiner Beschäftigung nach und lebe vorwiegend von - zum Teil erbettelten - Geldern Dritter oder von strafbaren Handlungen.

Nach Entlassung aus der Strafhaft im Juni 2008 lebte der Kläger zunächst bei verschiedenen Bekannten in xxx, bevor er sich vorübergehend nach xxxxxx und zuletzt nach xxxxxxxx begab. Eine polizeiliche Anmeldung ist dort nicht erfolgt. Ausweislich der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 07.08.2008 ist er ohne Einkommen und lebt "vom Betteln".

Mit Beschluss vom 13.08.2008 hat der Senat dem Kläger Prozesskostenhilfe für den zweiten Rechtszug bewilligt.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Dem Senat liegen die einschlägigen Akten des Beklagten, der unteren Ausländerbehörde und des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vor. Hierauf sowie auf die Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und die beigezogenen Akten der Verfahren 11 S 886/05, 11 S 886/05, 11 S 921/05, 11 S 205/06, 11 S 206/06, 11 S 207/06 und 11 S 885/06 wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hiermit einverstanden sind (§ 101 Abs. 2 VwGO).

I. Die Berufung ist nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaft und auch sonst zulässig. Die Berufungsbegründung wurde form- und fristgemäß vorgelegt (vgl. § 124 a Abs. 1 bis 3 VwGO).

Gegenstand der Berufung sind die Verpflichtungsanträge auf Rücknahme der Ausweisung (Hauptantrag) sowie auf Befristung der Sperrwirkungen derselben mit sofortiger Wirkung (Hilfsantrag). Beide Anträge enthalten als Minus - ohne dass es insoweit einer ausdrücklichen Antragstellung bedarf - jeweils einen Antrag auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats. Entgegen dem Berufungsvorbringen ist der auf Rücknahme gerichtete Antrag nicht auch als Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 LVwVfG zu verstehen. Eine (zusätzliche) Klage auf Wiederaufgreifen des Verfahrens i.S.d. § 51 VwVfG ist nicht erhoben worden, da der anwaltlich vertretene Kläger sowohl bei der Behörde als auch beim Verwaltungsgericht ausdrücklich einen Rücknahmeantrag gestellt hat (ebenso VGH BW, Urt. v. 24.01.2007 - 13 S 451/06 - InfAuslR 2007, 182 = EZAR NF 93 Nr. 3). Auf eine sachdienliche Auslegung seines Antrags in dem Sinne, dass er auch auf ein Wiederaufgreifen nach § 51 LVwVfG gerichtet ist, kann sich der Kläger auch deswegen nicht berufen, weil er trotz ausdrücklichen Hinweises nach § 86 Abs. 3 VwGO, dass das Gericht lediglich von einem Rücknahmeantrag ausgehe, in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht keinen weitergehenden Klageantrag gestellt hat. Ein solcher Antrag wäre aber auch nicht sachdienlich. Der Kläger kann sein Rechtsschutzziel - rückwirkende Beseitigung einer rechtswidrigen Ausweisung, hilfsweise Befristung ihrer Wirkungen - mit den gestellten Anträgen verfolgen. Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 LVwVfG liegen demgegenüber nicht vor. Insbesondere liegt in der Änderung der Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger, wie sie sich in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 (- 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 = InfAuslR 2005, 18) manifestiert, keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG (vgl. Senatsurteil vom 30.04.2008 - 11 S 759/06 - juris m.w.N.). Ein Wiederaufgreifen nach Ermessen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 51 Abs. 1 LVwVfG (vgl. hierzu wiederum Senatsurteil vom 30.04.2008 - 11 S 759/06 - juris m.w.N.) käme in Betracht, wenn der Anwendungsbereich des § 48 LVwVfG wegen der Bindungswirkung eines die Ausweisung als rechtmäßig bestätigenden rechtskräftigen Urteils nach § 121 VwGO nicht eröffnet wäre. Dies ist indessen nicht der Fall. Der Kläger kann sein Rechtsschutzziel im Rahmen des § 48 LVwVfG verfolgen. Auch ein auf Widerruf nach § 49 LVwVfG gerichteter Antrag wäre nicht sachdienlich. Der Widerruf einer rechtmäßigen Ausweisung ist jedenfalls insoweit ausgeschlossen, als es um die Berücksichtigung von Sachverhaltsänderungen geht, die für den Fortbestand des spezialpräventiven Zwecks dieser Verfügungen erheblich sind; insoweit wird § 49 LVwVfG durch den spezielleren § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bzw. durch § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU verdrängt (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 = NVwZ 2000, 688; Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 = NVwZ 2008, 82 = EZAR NF 10 Nr. 8).

II. Die Berufung ist jedoch nur zum Teil begründet. Der Kläger muss die Wirkungen des § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 als Folge der Ausweisungsverfügung vom 25.05.1999 gegen sich gelten lassen (unten 1.). Da die Ausweisungsverfügung rechtswidrig war, war das Rücknahmeermessen des - passiv legitimierten (unten 2.) - Beklagten nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnet (unten 3.). Weder nationales Recht noch Gemeinschaftsrecht gebieten es indes dem Beklagten, die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung zurückzunehmen (unten 4.). Der Kläger kann insoweit allerdings eine Neubescheidung verlangen, weil der Beklagte das ihm zustehende Rücknahmeermessen nicht hinreichend ausgeübt hat (unten 5.). Der weiter geltend gemachte Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf den heutigen Zeitpunkt ist nicht gegeben (unten 6.). Auch insoweit hat der Kläger aber, da die in dem Bescheid vom 24.01.2005 getroffene Befristungsentscheidung an Ermessensfehlern leidet, einen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO; unten 7.).

1. Die Ausweisungsverfügung vom 25.05.1999 hat zur Folge, dass der Kläger nicht erneut ins Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf (§ 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990). Diese Wirkungen entfaltet die Ausweisung auch heute noch, so dass die Klagebegehren nicht etwa deshalb ins Leere gehen und mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig sind, weil die Ausweisung gegenstandslos geworden wäre. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt (Senatsurteil vom 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429), ist geklärt, dass vor dem 01.01.2005 unter Geltung des AuslG 1990 und des AufenthG/EWG bestandskräftig gewordene Ausweisungen von Unionsbürgern nicht mit Inkrafttreten des FreizügG/EU gegenstandslos geworden, sondern weiterhin wirksam sind (BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 = NVwZ 2008, 82 = EZAR NF 10 Nr. 8; ebenso zuvor bereits VGH BW, Beschl. v. 18.08.2005 - 13 S 1253/05 - und Urt. v. 24.01.2007 - 13 S 451/06 - InfAuslR 2007, 182 = EZAR NF 93 Nr. 3; BayVGH, Beschl. v. 21.03.2006 - 19 CE 06.721 - juris; OVG RP, Urt. v. 08.02.2007 - 7 A 11318/06.OVG - InfAuslR 2007, 226; vgl. auch Epe in GK-AufenthG, IX-2 § 1 Rn. 21 m.w.N.; Harms in Storr u.a., ZuwG, 2. Aufl., § 6 FreizügG/EU Rn. 32; Hailbronner, AuslR, Kommentar, D 1 § 7 Rn. 25; a.A. OVG B-Brb., B. v. 15.03.2006 - OVG 8 S 123.05 - InfAuslR 2006, 259 = NVwZ 2006, 953; Gutmann, InfAuslR 2005, 125 und InfAuslR 2008, 105).

2. Die Beklagte ist für die Begehren des Klägers passiv legitimiert. Örtlich zuständige Behörde ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 lit. a LVwVfG diejenige, in deren Bezirk der Kläger seinen "gewöhnlichen Aufenthalt" hat oder zuletzt hatte. Seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (Senatsbeschluss vom 15.08.2008 - 11 S 1443/08 - juris m.w.N.). Daran gemessen geht der Senat in Übereinstimmung mit den Beteiligten davon aus, dass der Kläger weder in Berlin noch in Hannover seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat und es deshalb bei der Zuständigkeit des Beklagten verbleibt.

3. Da die Ausweisungsverfügung rechtswidrig ist, das Rücknahmeermessen der Behörde nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnet.

a) Die Rücknahme einer Ausweisung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist neben der Befristung ihrer gesetzlichen Wirkungen gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 bis 6 AufenthG bzw. § 7 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU möglich; denn die Rechtsgrundlagen von Rücknahme und Befristung unterscheiden sich sowohl in den Voraussetzungen als auch in den Rechtsfolgen (BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 <143>).

b) Die Rücknahmevoraussetzung der Rechtswidrigkeit i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist grundsätzlich dann gegeben, wenn der Verwaltungsakt, um dessen Aufhebung gestritten wird, zum Zeitpunkt seines Erlasses einer Rechtsgrundlage entbehrte (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 = InfAuslR 2008, 116 = NVwZ 2008, 326 = EZAR NF 48 Nr. 9; Beschl. v. 07.07.2004 - 6 C 24.03 - BVerwGE 121, 226 <229> m.w.N.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.01.2007 - 13 S 451/06 - InfAuslR 2007, 182 = EZAR NF 93 Nr. 3). Da der Kläger die Ausweisung nicht angefochten hat, steht § 121 VwGO ihrer gerichtlichen Inzidentprüfung im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht entgegen (vgl. dazu Senatsurteil vom 30.04.2008 - 11 S 759/06 - juris).

c) Die Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung schon zum Zeitpunkt ihres Erlasses folgt entgegen der Auffassung des Klägers nicht schon daraus, dass ihre Wirkungen von der Ausländerbehörde nicht bereits bei Erlass befristet worden sind. Die dem System des deutschen Ausländerrechts immanente Trennung zwischen der Ausweisung und der Befristung ihrer gesetzlichen Folgen erweist sich nicht als konventionswidrig (vgl. EGMR, Urt. v. 28.06.2007 - Individualbeschwerde Nr. 31753/02 [Kaya] - InfAuslR 2007, 325; BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 - a.a.O.). Zwar ist die Befristung eines Aufenthaltsverbots nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mitunter eines von mehreren Kriterien im Rahmen der einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausweisung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK (vgl. Urt. v. 17.04.2003 - Individualbeschwerde Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147; Urt. v. 27.10.2005 - Individualbeschwerde Nr. 32231/02 [Keles] - InfAuslR 2006, 3; Urt. v. 22.03.2007 - Individualbeschwerde Nr. 1638/03 [Maslov] - InfAuslR 2007, 221). Dies bedeutet jedoch nicht, dass unbefristete Ausweisungen, die einen schweren Eingriff in das Recht des Betroffenen auf Achtung seines Privat- und/oder Familienlebens darstellen, stets unverhältnismäßig sind. Auch das Bundesverfassungsgericht geht nicht davon aus, dass die Sperrwirkungen einer Ausweisung aufgrund der Bestimmung des Art. 8 Abs. 1 EMRK in jedem Falle zeitgleich mit deren Erlass befristet werden müssten. Vielmehr führt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 10.05.2007 (- 2 BvR 304/07 - InfAuslR 2007, 275) aus, dass die Befristung der Ausweisungswirkungen nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist. In diesem Zusammenhang ist auch in den Blick zu nehmen, ob der Betroffene über eine Rückkehrperspektive verfügt. Eine solche Rückkehrperspektive hat der Kläger. Seine Unionsbürgerschaft bietet ihm mit ihren aufenthaltsrechtlichen Inhalten (vgl. Art. 18 EG) einen Anknüpfungspunkt für die Neubegründung eines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet.

d) Die Ausweisung war auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sie als Regelausweisung ergangen wäre und Unionsbürger nur im Ermessenswege ausgewiesen dürfen (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <301 ff.> = InfAuslR 2005, 18). Denn das Regierungspräsidium hat im Widerspruchsbescheid hilfsweise Ermessen ausgeübt.

e) Die Ausweisungsverfügung in der maßgeblichen Gestalt des Widerspruchsbescheides entsprach entgegen der Auffassung des Klägers materiell gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen. Von dem Kläger ging eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, Urt. v. 28.10.1975 - Rs. 36/75 [Rutili] - Slg. 1975, 1219 = DÖV 1976, 129; Urt. v. 18.05.1989 - Rs. 249/86 [Kommission/Deutschland] - Slg. 1989, 1263; Urt. v. 19.01.1999 - Rs. C-348/96 [Calfa] - InfAuslR 1999, 165). Die Frage, ob die Begehung einer Straftat ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilen. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung besagt nicht, dass eine "gegenwärtige Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird. Für die Beantwortung der Frage, ob dies der Fall ist, sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist auch, ob eine Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird (vgl. zu alledem BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 30.02 - a.a.O., m.w.N.). Dabei können und müssen das Maß der Einsicht in das begangene Unrecht und die Aufarbeitung der Tat in die vorzunehmende Prognoseentscheidung einfließen.

Daran gemessen hat der Beklagte eine konkrete Wiederholungsgefahr bezüglich der Begehung schwerer Gewaltdelikte und damit eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, zu Recht bejaht. Dass in dem Widerspruchsbescheid - terminologisch unzutreffend - eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bejaht wurde, führt nicht zur Rechtswidrigkeit des Bescheides.

f) Der Beklagte hat auch die privaten Interessen des Klägers mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Ermessensausübung eingestellt. Er hat berücksichtigt, dass zwischen dem Kläger und seinen Verwandten keine Beistandsgemeinschaft vorlag und dass der Kläger über ausreichende italienische Sprachkenntnisse verfügt. Da, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, der Kläger zum einen keine besonderen Integrationsleistungen in Deutschland aufwies und er zum anderen seine Kindheit und Jugend teilweise in Italien verbracht hatte, begegnete die Ausweisung auch mit Blick auf Art. 8 EMRK keinen Bedenken.

g) Die Ausweisungsverfügung war indes formell rechtswidrig. Der Kläger hätte nur unter Beachtung der Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ausgewiesen werden dürfen.

aa) Diese Vorschrift ist vorliegend anzuwenden, da die Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG erst mit Wirkung vom 30.04.2006 (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) aufgehoben wurde. Die formelle Rechtmäßigkeit von Verfügungen gegen den von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erfassten Personenkreis ist nach dem Grundsatz des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts, dass neues Verfahrensrecht auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren keine Anwendung findet, nach der Rechtslage zur Zeit der letzten Behördenentscheidung zu prüfen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49 = EZAR NF 19 Nr. 18).

bb) In Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige wurde - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfand noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wurde (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110 = NVwZ 2006, 472 = EZAR NF 40 Nr. 1).

cc) Hier wurde zwar ein Widerspruchsverfahren durchgeführt, doch hat dieses den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen deshalb nicht genügt, weil keine zweite unabhängige Stelle eingeschaltet war und deshalb das Vier-Augen-Prinzip nicht gewahrt wurde. Ausgangsbehörde und Widerspruchsbehörde waren identisch. Die zweite Stelle muss aber, wie sich aus der Rechtssprechung des EuGH ergibt, eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist (EuGH, Urt. v. 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01 [Orfanopoulos und Oliveri] - Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14; in diesem Sinne wohl auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.10.2006 - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49 <52> = EZAR NF 19 Nr. 18).

dd) Es lag auch kein dringender Fall vor, der die Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle entbehrlich gemacht hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, a.a.O.) ist das Merkmal der Dringlichkeit als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit "besonders eng auszulegen"; ein dringender Fall kann erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung nicht zu verantworten ist, etwa weil die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des "Hauptverfahrens" realisieren. Die Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde ist dann nicht hinnehmbar. Daher genügt für die Annahme eines dringenden Falles nicht, dass die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat. Vielmehr muss (vergleichbar den Anforderungen aus § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO für die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt werden, das "Hauptverfahren" nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer "weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung" der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Daran gemessen lag kein dringender Fall vor. Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung in Haft. Er wurde erst ein Jahr später aus der Haft heraus nach Italien abgeschoben. Zudem wurde tatsächlich ein Widerspruchsverfahren durchgeführt, wenngleich nicht ein solches, dass den Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG genügt hat.

4. Weder nationales Recht noch Gemeinschaftsrecht gebieten es im vorliegenden Fall dem Beklagten, die gegen den Kläger ergangene - lediglich formell rechtswidrige - Ausweisungsverfügung zurückzunehmen.

a) Für das nationale Recht folgt dies daraus, dass im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch besteht; die Aufrechterhaltung des Bescheides müsste dann "schlechthin unerträglich" sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme zu rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007, a.a.O. m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung ist hier nicht gegeben. Insbesondere war die Ausweisung nicht offensichtlich rechtswidrig. Denn die Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG war zum damaligen Zeitpunkt dem Gesetzgeber, den Behörden und auch den Gerichten noch nicht bewusst. Erst durch die Entscheidung des EuGH in Sachen "Orfanopoulos und Oliveri" (EuGH, Urt. v. 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01 - Slg. 2004, I-5257 = InfAuslR 2004, 268 = NVwZ 2004, 1099 = EZAR 810 Nr. 14) offenbarte sich die Fehlerhaftigkeit des Verfahrens.

b) Die dargestellten Grundsätze werden vorliegend durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Der EuGH erkennt die Rechtssicherheit als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts an, der auch das Institut der Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen umfasst. Er verlangt daher nicht, dass eine Verwaltungsbehörde verpflichtet werden muss, eine gemeinschaftsrechtswidrige bestandskräftige Verwaltungsentscheidung in jedem Fall zurückzunehmen (U. v. 13.01.2004 - Rs. C-453/00 [Kühne & Heitz NV] - Slg. 2004, I-837 Rdn. 24 = NVwZ 2004, 459 = DVBl 2004, 373 = InfAuslR 2004, 139; U. v. 12.02.2008 - Rs. C-2/06 [Kempter] - Slg. 2008, I-0000 Rdn. 37 = EuZW 2008, 148 = DÖV 2008, 505 = NVwZ 2008, 870). Der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet eine Verwaltungsbehörde auf einen entsprechenden Antrag hin aber jedenfalls dann, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen und ggf. zurückzunehmen, wenn

- die Behörde nach nationalem Recht zur Rücknahme befugt ist,

- die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,

- das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofs zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 EG erfüllt war, und

- der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat (EuGH, U. v. 13.01.2004 - Rs. C-453/00 [Kühne & Heitz NV] - a.a.O. Rdn. 28; zustimmend Ruffert, JZ 2004, 620; ebenso BVerwG, B. v. 15.3.2005 - 3 B 86.04 - DÖV 2005, 651).

Die dritte im Urteil Kühne & Heitz aufgestellte Voraussetzung ist immer dann erfüllt, wenn der gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkt, dessen Auslegung sich in Anbetracht eines späteren Urteils des Gerichtshofs als unrichtig erwiesen hat, von dem in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gericht entweder geprüft wurde oder von Amts wegen hätte geprüft werden können. Es ist nicht erforderlich, dass die Parteien die betreffende gemeinschaftsrechtliche Frage vor dem nationalen Gericht aufgeworfen haben (EuGH, U. v. 12.02.2008 - Rs. C-2/06 [Kempter] - Slg. 2008, I-0000 Rdn. 44 = EuZW 2008, 148 = DÖV 2008, 505 = NVwZ 2008, 870). Hinsichtlich der vierten Voraussetzung hat der Gerichtshof im Urteil Kempter (a.a.O. Rdn. 60) klargestellt, dass die Möglichkeit, einen Antrag auf Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung zu stellen, durch das Gemeinschaftsrecht in zeitlicher Hinsicht nicht beschränkt wird, die Mitgliedstaaten jedoch berechtigt sind, angemessene Rechtsbehelfsfristen festzulegen. Bei Erfüllung aller genannten Voraussetzungen verdichtet sich das in § 48 LVwVfG eingeräumte Rücknahmeermessen auf Null zugunsten der Rücknahme (Epe in GK-AufenthG, Vor § 1 FreizügG/EU Rdn. 54; Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. AufenthG Rdn. 596; ähnlich Weiß, DÖV 2008, 477 <485 f.>).

Daran gemessen hat sich hier das Rücknahmeermessen schon deshalb nicht zugunsten der Rücknahme verdichtet, weil der Kläger die Ausweisungsverfügung bestandskräftig werden ließ, ohne gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.

5. Der Beklagte hat indes das ihm zustehende Rücknahmeermessen nicht hinreichend ausgeübt, so dass der Kläger auf seinen als Minus im Verpflichtungsantrag enthaltenen Bescheidungsantrag einen Anspruch auf Aufhebung von Nr. 1 des angefochtenen Bescheides und auf Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) hat. Der Beklagte hat die Ausweisung als rechtmäßig angesehen und daher bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG verneint. Soweit der Beklagte unter II. 2. des Bescheides vorsorglich darauf hingewiesen hat, dass eine Rücknahme ferner deshalb ausscheide, weil der Kläger durch sein Verhalten gezeigt habe, dass von ihm auch aktuell die Gefahr der künftigen Begehung schwerer Straftaten ausgehe, kann darin keine - hilfsweise - Ermessensausübung erblickt werden. Dem steht schon der Wortlaut ("vorsorglich wird darauf hingewiesen") entgegen. Es ist auch nicht zu erkennen, dass der Beklagte sich, was Voraussetzung für eine Ermessensausübung im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG wäre, von der Bewertung der Ausweisung als rechtmäßig gelöst hätte. Soweit der Senat in seinen Beschlüssen vom 02.01.2006 - 11 S 886/05 - und vom 09.11.2006 - 11 S 885/06 - (PKH-Beschwerden) aufgrund summarischer Prüfung davon ausgegangen ist, der Beklagte habe das ihm eingeräumte Rücknahmeermessen hilfsweise fehlerfrei ausgeübt, hält er hieran nach nochmaliger Überprüfung nicht fest. Das Rücknahmeermessen ist auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden; insbesondere liegt kein "Ergänzen" im Sinne des § 114 Satz 2 VwGO vor. Im gerichtlichen Verfahren hat der Beklagte an seiner Auffassung zur Rechtmäßigkeit der Verfügung festgehalten. Im Übrigen wäre wegen des ursprünglichen Fehlens von Ermessenserwägungen eine bloße "Ergänzung" im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO nicht zulässig (siehe dazu BVerwG, Urt. v. 05.09.2006 - 1 C 20.05 - NVwZ 2007, 470 = DÖV 2007, 255 = EZAR NF 48 Nr. 5).

6. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass die Wirkungen der Ausweisung auf den heutigen Zeitpunkt befristet werden.

a) Über den geltend gemachten Befristungsanspruch ist nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats zu befinden (Senatsurteil vom 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429).

b) Bei der im behördlichen Auswahlermessen verbleibenden Bestimmung der Länge der Frist sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O.) in einem ersten Schritt das Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung bzw. Ausweisung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der Prüfung im Einzelfall, ob die vorliegenden Umstände auch jetzt noch das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkungen als Dauereingriff in das Freizügigkeitsrecht mit Blick auf die Anforderungen des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU tragen. Die Behörde hat dazu auch das Verhalten des Betroffenen nach der Ausweisung zu würdigen und im Wege einer Prognose auf der Grundlage einer aktualisierten Tatsachenbasis die (Höchst-)Frist nach dem mutmaßlichen Eintritt der Zweckerreichung zu bemessen. Im Falle einer langfristig fortbestehenden Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers aber auch bei Unionsbürgern ein langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise nicht ausgeschlossen (BT-Drs. 15/420 S. 105). Die im Rahmen des ersten Schritts von der Behörde zu treffende Gefahrprognose muss - ebenso wie bei der Ausweisung (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 16.10.1989 - I B 106.89 - EZAR 124 Nr. 11 = InfAuslR 1990, 4 <5> m.w.N.; Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 1711 ff.) - gerichtlich voll überprüfbar sein.

In einem zweiten Schritt muss sich die an der Erreichung des Zwecks der Verlustfeststellung bzw. Ausweisung orientierende äußerste Frist an höherrangigem Recht, d.h. gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen und ggf. relativieren lassen (BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O.). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.08.2000 - 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 <373> = InfAuslR 2000, 483 zur Regelbefristung). Dabei sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu nehmen. Haben z.B. familiäre Belange des Betroffenen durch die Geburt eines Kindes im Bundesgebiet nach der Ausweisung an Gewicht gewonnen, folgt daraus eine Ermessensverdichtung in Richtung auf eine kürzere Frist. Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles nach Gewichtung der jeweiligen Belange vorzunehmen ist, kann im Extremfall bis zu einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ergebnis einer Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt, d.h. auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, führen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O. u. Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 <150 f.> = InfAuslR 2000, 176). Kraft des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts muss in diesen Fällen die Befristung so erfolgen, dass sich das dem Unionsbürger zustehende Freizügigkeitsrecht sogleich entfalten kann. Der Anwendungsvorrang erfordert es, dass die Befristung nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht wird, wie insbesondere der Regelung in § 7 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU, wonach eine Frist erst mit der Ausreise beginnt (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - a.a.O. zu § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG 1990). In den Fällen des Wegfalls der notwendigen qualifizierten Wiederholungsgefahr ist daher auch nach Ergehen einer Feststellungsentscheidung nach § 6 FreizügG/EU die Ausreise des ansonsten Freizügigkeitsberechtigten entgegen der Regelung in § 7 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU nicht Voraussetzung für das erneute Entstehen des Aufenthaltsrechts.

c) Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Beklagte nicht verpflichtet, die Befristung auf den heutigen Tag - d.h. ohne Einhaltung einer mit der Ausreise beginnenden angemessenen Frist - auszusprechen. Der Senat vermag nicht festzustellen, dass eine Befristung auf den heutigen Tag nach dem Zweck der Ermächtigung die allein rechtmäßige Ermessensbetätigung wäre (vgl. § 114 VwGO).

aa) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der spezialpräventive Zweck der Ausweisung schon jetzt erreicht ist. Vielmehr geht von dem Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung für die öffentliche Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die vom Regierungspräsidium Tübingen getroffene Prognose, die gerichtlich voll überprüfbar ist, ist nicht zu beanstanden: Die vom Kläger nach Bestandskraft der Ausweisungsverfügung im Jahr 2003 begangenen Straftaten der versuchten schweren räuberischen Erpressung und der vorsätzlichen Körperverletzung sind ebenso wie die im Jahr 2007 begangenen Körperverletzungsdelikte der mittleren Kriminalität zuzuordnen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Strafvollzug den Kläger jeweils völlig unbeeindruckt gelassen hat. Das Landgericht Ulm ging zuletzt von einer "denkbar ungünstigen" Sozialprognose aus. Der vom Landgericht bestellte Gutachter sieht die unstrukturierte und unreife Persönlichkeit des Klägers, die er als schizotypisch, dissozial, emotional-instabil, impulsiv und histrionisch charakterisiert, als ursächlich für dessen Delinquenz. Aufgrund dieser Persönlichkeitsstruktur und der unbewältigten Drogenproblematik ist eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer Gewaltdelikte gegeben. Das Verhalten des Klägers ist dabei völlig unberechenbar. Die Gewalt richtet sich sowohl gegen Personen in seinem persönlichen Umfeld (Ex-Freundin) wie auch gegen Fremde, wobei teilweise der Aspekt der Beschaffungskriminalität im Vordergrund steht, teilweise aber auch - wie bei der am 23.07.2007 begangenen gefährlichen Körperverletzung - keine finanziellen Motive vorliegen. Damit liegt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU). Die Gefahr, dass der Kläger, der nach seiner Haftentlassung bei diversen Bekannten gelebt hat und seinen Lebensunterhalt nach eigenen Angaben durch "Betteln" bestreitet, weiterhin Drogen konsumieren und zur Finanzierung des Drogenkonsums wie auch aufgrund seiner Persönlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, erscheint relativ hoch. Anhaltspunkte für eine Verhaltensänderung des Klägers sind nicht gegeben. Die notwendige qualifizierte Wiederholungsgefahr besteht daher zur Überzeugung des Senats fort.

bb) Aus Art. 8 EMRK folgt keine zu einem Anspruch auf sofortige Befristung führende Ermessensreduzierung auf Null.

(1) Der Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens ist nicht eröffnet. Zu seiner deutschen Tochter unterhält der Kläger keinen Kontakt. Er beruft sich ausschließlich auf die Beziehung zu seiner Großmutter und zu anderen Verwandten, ohne dies näher darzulegen. Bei Beziehungen zwischen nahen Verwandten außerhalb der klassischen Kleinfamilie (hier: Beziehung des volljährigen Klägers zu seiner Großmutter und eventuell weiteren erwachsenen Verwandten) kommt es darauf an, ob die tatsächlich bestehenden Bindungen hinreichend für die Annahme einer familiären Beziehung sind. Beziehungen zwischen Erwachsenen unterliegen nicht notwendig dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Es müssen besondere zusätzliche Aspekte der Abhängigkeit hinzutreten, die weiter reichen als normale affektive Beziehungen (EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147 Rn. 44 m.w.N.; Urt. v. 15.07.2003 - Nr. 52206/99 [Mokrani] - InfAuslR 2004, 183). Art. 8 EMRK vermittelt insoweit keinen weitergehenden Schutz als Art. 6 GG bei familiären Beziehungen unter Volljährigen. Hierzu ist festzustellen, dass Anhaltspunkte für ein besonderes Angewiesensein des Klägers auf ein Zusammenleben mit seiner Großmutter oder anderen Verwandten nicht ersichtlich sind. Es ist bereits zweifelhaft, ob der Kläger, der derzeit in xxxxxxxx lebt, überhaupt noch familiäre Kontakte pflegt.

(2) Unzweifelhaft stellt die Ausweisung, die nach der nunmehr erfolgten Befristung ihrer Wirkungen ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot im Bundesgebiet zur Folge hat, einen Eingriff in das Recht des Klägers auf Achtung seines Privatlebens dar. Dieser Eingriff verfolgt indes legitime Ziele im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhinderung von strafbaren Handlungen. Er ist darüber hinaus notwendig zur Erreichung dieser Ziele. Ein Eingriff ist nach der Rechtsprechung des EGMR notwendig, wenn ein dringendes soziales Bedürfnis besteht und er verhältnismäßig zum legitimen Ziel ist (Urt. v. 22.04.2004 - Nr. 42703/98 [Radovanovic] - InfAuslR 2004, 374). Es muss ein gerechter Ausgleich getroffen werden zwischen dem Recht des Klägers auf Achtung des Privatlebens auf der einen und den Interessen der öffentlichen Sicherheit und der Verhinderung von Straftaten auf der anderen Seite. Erforderlich ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Beachtung der vom EGMR entwickelten Kriterien, die im Wesentlichen in den Entscheidungen Boultif und Üner zusammengefasst worden sind (EGMR, Urt. v. 02.08.2001 - Nr. 54273/00 [Boultif] - InfAuslR 2001, 476; Urt. v. 05.07.2005 - Nr. 46410/99 [Üner] - InfAuslR 2005, 450 = DVBl 2006, 688). Nach diesen Entscheidungen sind zu berücksichtigen die Art und Schwere der begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthalts in dem Staat, aus dem der Betreffende ausgewiesen werden soll, die seit Begehen der Straftat vergangene Zeit und das Verhalten des Betroffenen seit der Tat, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation des Betroffenen und gegebenenfalls die Dauer seiner Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben hinweisen, ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte, ob der Verbindung Kinder entstammen und schließlich die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das der Betroffene ausgewiesen werden soll. Von Bedeutung ist ferner das Interesse und Wohl der Kinder sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland oder zum Bestimmungsland. Bei Ausweisungen von Immigranten der zweiten Generation, zu denen der Kläger gehört, berücksichtigt der EGMR neben den genannten allgemeinen Kriterien die besonderen Bindungen, die diese Personen mit dem Aufenthaltsstaat eingegangen sind, in dem sie ihre Erziehung erhalten, den Großteil ihrer sozialen Kontakte geknüpft und folglich ihre eigene Identität entwickelt haben (EGMR, Urt. v. 26.09.1997 - 85/1996/704/896 [Mehemi] - InfAuslR 1997, 30 = NVwZ 1998, 164; Urt. v. 21.10.1997 - 122/1996/741/940 [Boujlifa] - InfAuslR 1998, 1). Demgemäß erachtet es der EGMR neben der Intensität der Bindung und dem Alter des Ausgewiesenen für maßgeblich, welche Sprache der Ausgewiesene spricht und ob es Verwandte oder andere soziale Beziehungen im Herkunftsstaat bzw. umgekehrt familiäre Bindungen oder Verwandte im Aufenthaltsstaat gibt (EGMR, Entsch. v. 04.10.2001 - 43359/98 [Adam] - EuGRZ 2002, 582 = NJW 2003, 2595).

Daran gemessen gebietet Art. 8 Abs. 2 EMRK es nicht, von einer Aufenthaltsbeendigung abzusehen und die Wirkungen der Ausweisung auf sofort zu befristen:

Negativ fallen zunächst Art und Schwere der begangenen Straftaten ins Gewicht. Die vom Kläger 2003 begangenen Delikte der versuchten schweren räuberischen Erpressung und der vorsätzlichen Körperverletzung, die zu der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten geführt haben, sind ebenso wie die 2007 begangene gefährliche Körperverletzung, die mit einer Einsatzstrafe von sieben Monaten in die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten eingeflossen ist, der mittleren Kriminalität zuzuordnen. Erschwerend ist zu berücksichtigen, dass es sich nicht um Jugendverfehlungen gehandelt hat und dass die Taten mit - teilweise erheblicher - Gewaltanwendung gegenüber Personen aus dem persönlichen Umfeld wie auch gegenüber Dritten einhergingen.

Bei der Würdigung der Vorgeschichte und des Nachtatverhaltens fällt negativ ins Gewicht, dass der Kläger sich weder die Verurteilungen zu Freiheitsstrafen noch die Ausweisung hat zur Warnung dienen lassen. Dass er seit der letzten Verurteilung keine weiteren Straftaten begangen hat, kann ebenfalls nicht zu seinen Gunsten gewertet werden, weil er erst seit kurzem wieder auf freiem Fuß ist und daher noch keine Gelegenheit hatte, sich für längere Zeit in Freiheit zu bewähren. Negativ schlägt auch die unbewältigte Drogenproblematik zu Buche.

Zu Gunsten des Klägers fällt ins Gewicht, dass er in Deutschland geboren und teilweise aufgewachsen ist und dementsprechend auch den größeren Teil seiner Schulzeit im Bundesgebiet verbracht hat. Gleichwohl ist - gemessen an der Aufenthaltsdauer - der Grad der Integration im Bundesgebiet nicht besonders ausgeprägt: Der Kläger hat weder einen Schulabschluss erlangt noch verfügt er über eine Berufsausbildung. Soweit er einer Erwerbstätigkeit nachging, handelte es sich um Aushilfstätigkeiten. Besondere Integrationsleistungen (beispielsweise Aktivitäten in Parteien oder Vereinen, Teilnahme am gesellschaftlichen/kulturellen Leben) sind nicht feststellbar. Um eine Einbürgerung hat sich der Kläger offenbar nie bemüht. Er hat zwar eine eigene Familie gegründet, doch ist die nichteheliche Beziehung in die Brüche gegangen und er unterhält auch - was seiner dissozialen Persönlichkeit entspricht - keinen Kontakt zu seiner aus dieser Beziehung hervorgegangenen Tochter.

Bei der Würdigung des Grades der Entwurzelung im Herkunftsstaat ist davon auszugehen, dass der Kläger über ordentliche Kenntnisse der italienischen Sprache verfügt, nachdem er für zwei Jahre in Italien die Mittelschule besucht und sich auch nach seiner Schulzeit noch wiederholt in Italien aufgehalten hat. Auch wenn der Kläger über keine familiären Bindungen und sonstigen sozialen Kontakte nach Italien verfügen sollte, ist zu berücksichtigen, dass er auch im Bundesgebiet über keine ausgeprägten sozialen Kontakte verfügt.

Schließlich ist im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen, dass der Kläger infolge der ausgesprochenen Befristung eine konkrete Rückkehrperspektive hat. Als Unionsbürger kann er nach Ablauf der Frist bei Erfüllung der der Befristungsentscheidung beigefügten Bedingung unter Berufung auf sein Freizügigkeitsrecht aus Art. 18 EG wieder in das Bundesgebiet einreisen. Diese Bedingung der Straffreiheit ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie dient dem Zweck des Verwaltungsakts in der Hauptsache, indem sie sicherstellt, dass der spezialpräventive Ausweisungszweck bei Wirksamwerden der Befristung erfüllt ist und von dem Kläger keine erhebliche Gefahr mehr ausgeht. Die Bedingung ist allerdings entsprechend den für die Verlustfeststellung bei Unionsbürgern geltenden Maßstäben einschränkend dahingehend auszulegen, dass nur solche Straftaten schädlich sind und den Eintritt der Bedingung hindern, die die weitere Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkungen als Dauereingriff in das Freizügigkeitsrecht mit Blick auf die Anforderungen des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU tragen. Bei einer solchen Auslegung ist die Bedingung mit § 36 Abs. 3 LVwVfG vereinbar. Auch Gemeinschaftsrecht steht der Bedingung nicht entgegen. Aus Art. 32 Abs. 1 RL 2004/38/EG folgt lediglich ein Bescheidungsanspruch; inhaltliche Vorgaben für die Befristung des Aufenthaltsverbots finden sich dort nicht. Auch dem primären Gemeinschaftsrecht lässt sich nicht entnehmen, dass bei Fortbestehen einer qualifizierten Wiederholungsgefahr gleichwohl die Wirkungen einer Ausweisung befristet werden müssten.

7. Der Befristungsbescheid vom 24.01.2005 ist gleichwohl rechtswidrig, weil er an Ermessensfehlern leidet, die nicht nach § 114 Satz 2 VwGO geheilt worden sind. Der Kläger hat daher - sofern der Beklagte nicht sein Rücknahmeermessen im Sinne einer Rücknahme der Ausweisungsverfügung ausübt und damit dem Befristungsbegehren die Grundlage entzieht - auf seinen als Minus im Verpflichtungsantrag enthaltenen Bescheidungsantrag einen Anspruch auf Aufhebung von Nr. 2 des angefochtenen Bescheides und auf Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

a) Ermessensfehlerhaft ist es, dass die Dauer der gegen den Kläger verhängten Haftstrafen maßgeblich in die Bemessung der Sperrfrist eingeflossen ist. Im Rahmen der bei Befristungsentscheidungen nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU vorzunehmenden Prüfung, ob die Aufrechterhaltung der Sperrwirkungen gemessen an § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU heute (noch) gerechtfertigt ist, ist die Dauer der verhängten Haftstrafen, nur von begrenzter Aussagekraft (vgl. eingehend Senatsurteil vom 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429). Die Berücksichtigung des Strafmaßes bei der Bemessung der Frist ist danach grundsätzlich sachwidrig.

b) Ein weiterer Ermessensfehler liegt darin, dass der Beklagte es unterlassen hat, die Strafvollstreckungsakten und die Gefangenenpersonalakten heranzuziehen. Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Befristungsantrag in Strafhaft. Es wäre daher für eine fehlerfreie Ermessensentscheidung geboten gewesen, diese Akten beizuziehen (vgl. - zur Ausweisung - Discher in GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 1261.1 m.w.N. und - zur Heranziehung der Strafakten - BVerfG, Beschl. v. 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300 = InfAuslR 2007, 443). Diesen Akten kommt - bezogen auf die damalige Haft - heute allerdings nur noch eine begrenzte Aussagekraft zu. Nachdem der Kläger zwischenzeitlich aber erneut eine Freiheitsstrafe verbüßt hat und erst seit Mitte Juni dieses Jahres wieder auf freiem Fuß ist, erscheint es jedoch angezeigt, dass der Beklagte bei der Neubescheidung jedenfalls die die letzte Inhaftierung betreffenden Strafvollstreckungsakten und Gefangenenpersonalakten beizieht und auswertet.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.

Beschluss vom 19. Dezember 2008

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird nach §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 39 Abs. 1, 45 Abs. 1 Satz 2 GKG auf 10.000,-- EUR festgesetzt.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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