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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 25.02.2002
Aktenzeichen: 11 S 160/01
Rechtsgebiete: AuslG, AufenthG/EWG, StGB


Vorschriften:

AuslG § 47 Abs. 2
AufenthG/EWG § 7a
AufenthG/EWG § 12
StGB § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1
1. Eine Ausweisung kann aus Gründen des Vertrauensschutzes in der Regel nicht mehr auf solche Tatbestände gestützt werden, in deren Kenntnis die Ausländerbehörde zuvor vorbehaltlos eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat (Bestätigung der Rechtsprechung des erkennenden Gerichtshofs, Beschl. v. 24.06.1997 - 13 S 2818/96 - InfAuslR 1997, 450).

2. Das gilt auch im Falle der nur deklaratorisch wirkenden Aufenthaltserlaubnis-EG.

3. Der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung eröffnet grundsätzlich keinen Rückgriff auf bekannte und in diesem Sinne "verbrauchte" frühere Strafurteile, wenn er auf Grund strafrechtlicher in der Bewährungszeit begangener Verfehlungen beruht, die ihrerseits bereits mit "verbrauchten" Strafurteilen geahndet wurden.


11 S 160/01

VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Ausweisung und Abschiebungsandrohung; vorläufiger Rechtsschutz

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schaeffer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Jakober und den Richter am Verwaltungsgericht Maußhardt

am 25. Februar 2002

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 16. Oktober 2000 - 9 K 2136/00 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsgegner.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die vom Senat zugelassene Beschwerde des Antragsgegners ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 21.09.2000 wiederhergestellt bzw. angeordnet. Auch nach Auffassung des Senats begegnet die angegriffene Verfügung des Antragsgegners, mit der der Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und ihm die Abschiebung nach Irland angedroht wurde, materiell-rechtlichen Bedenken. Die gegen diese Verfügung erhobene Klage wird aller Voraussicht nach Erfolg haben. Bei dieser Sachlage sind die mit der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Ausweisungsverfügung verbundenen Nachteile für den Antragsteller von größerem Gewicht als das vom Antragsgegner angenommene Sofortvollzugsinteresse.

Es spricht bereits einiges dafür, dass die dem Antragsteller in der Ausweisungsverfügung vom 21.09.2000 vorgehaltenen Verkehrsstraftaten, die der Antragsteller insbesondere zwischen April und November 1999 begangen hat, als Ausweisungsgründe im Zeitpunkt der Entscheidung des Antragsgegners "verbraucht" waren. Dem Antragsteller war nämlich, auf seinen Antrag vom 20.06.2000, am 04.07.2000 und damit nur wenige Wochen vor der angegriffenen Ausweisungsverfügung, durch die damals örtlich zuständige Ausländerbehörde der Stadt Reutlingen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis-EG erteilt worden. Darüber hinaus hat die Ausländerbehörde mit Schreiben vom 28.06.2000, mit dem der Antragsteller ein zweites Mal eindringlich ausländerrechtlich verwarnt wurde, in Kenntnis der gegen ihn ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen schriftlich erklärt, es werde dieses Mal von einer Ausweisung abgesehen. Der Antragsteller wurde lediglich darauf hingewiesen, dass er bei Begehung weiterer Straftaten eventuell mit seiner Ausweisung rechnen müsse.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 14.03.1996 - 12 TG 360/96 -, AuAS 1996, 136 = EZAR 030 Nr. 5; VGH Bad.-Württ. Beschlüsse v. 17.10.1996 - 13 S 1279/96 -, InfAuslR 1997, 111-114 und vom 24.06.1997 - 13 S 2818/96 -, InfAuslR 1997, 450-453), dass aus Gründen des Vertrauensschutzes eine Ausweisung in der Regel nicht mehr auf solche Tatbestände gestützt werden kann, in deren Kenntnis die Ausländerbehörde zuvor vorbehaltlos eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat. Dieser Grundsatz gilt auch im Falle der nur deklaratorisch wirkenden Aufenthaltserlaubnis-EG. Denn mit deren Erteilung gibt die Ausländerbehörde zugleich zu erkennen, sie sehe die Voraussetzungen für eine Einschränkung des Freizügigkeitsrechts des EU-Bürgers gemäß § 12 AufenthG/EWG als nicht erfüllt an. So liegt es hier. Im Zeitpunkt der Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis-EG waren der damals auch für eine Ausweisung örtlich zuständigen Ausländerbehörde sämtliche gegen den Antragsteller ergangenen Strafurteile und damit alle von ihm verübten Verkehrsstraftaten bekannt. Gleichwohl wurde dem Antragsteller am 04.07.2000 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis-EG erteilt und ein Vorbehalt, die vorliegenden Ausweisungsgründe ggf. noch berücksichtigen zu wollen, nicht gemacht.

Damit steht der Grundsatz des Vertrauensschutzes vorliegend einer Ausweisung entgegen, die ausschließlich auf die zuvor abgeurteilten Straftaten des Antragstellers Bezug nimmt. Weitere Straftaten des Antragstellers sind nicht bekannt geworden. An veränderten Umständen ist lediglich hinzugetreten, dass der Antragsteller zum einen auf Grund der vorangegangenen und bekannten Urteile zum Haftantritt geladen worden ist, woraus sich gemäß § 7 Abs. 1 der Verordnung der Landesregierung und des Innenministeriums über Zuständigkeiten nach dem Ausländergesetz und dem Asylverfahrensgesetz (AAZuVO) ein Zuständigkeitswechsel von der Stadt Reutlingen zum Antragsgegner als der nunmehr sachlich zuständigen Ausländerbehörde ergab. Zum anderen hat das Amtsgericht Stuttgart mit Beschluss vom 10.07.2000 seine zuvor mit Urteil vom 12.08.1999 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, nachdem es von den neuerlichen Verurteilungen erfahren hatte. Beide Umstände führen nicht dazu, dass der aus Vertrauensschutzgründen gesperrte Rückgriff auf die früheren Straftaten und auf die daran ausgerichtete Gefahrenprognose wieder eröffnet wäre.

Der Zuständigkeitswechsel durch den Haftantritt des Klägers ist insoweit ohne Bedeutung. Eine neu - örtlich oder sachlich - zuständige Behörde hat ein Verfahren grundsätzlich in dem Stadium aufzunehmen und zu bearbeiten, in dem es sich durch die Tätigkeit der zuvor zuständigen Behörde tatsächlich befindet. Hat die ursprüngliche Behörde - wie hier - vorbehaltlos eine Aufenthaltserlaubnis verlängert und darüber hinaus in einer schriftlichen Verwarnung erklärt, von einer Ausweisung werde abgesehen, ist - aus Gründen des Vertrauensschutzes - auch die auf Grund einer Inhaftierung des Ausländers zuständig gewordene neue Ausländerbehörde hieran gebunden. Ohne das Hinzutreten neuer relevanter Umstände, zu denen der Haftantritt auf Grund vorangegangener und bekannter strafrechtlicher Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung nicht zählen kann, scheidet eine Ausweisung dann grundsätzlich aus.

Entgegen der Ansicht des Antragsgegners liegt ein solch neuer Umstand, der trotz des eingetretenen Vertrauensschutzes nunmehr eine Ausweisung zuließe, auch nicht im Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 10.07.2000 über den Widerruf der zuvor gewährten Strafaussetzung zur Bewährung im Urteil vom 12.08.1999. Bei Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis-EG an den Antragsteller und im Zeitpunkt der zweiten ausländerrechtlichen Verwarnung war dieser Umstand bereits absehbar. Denn nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung durch Beschluss (vgl. §§ 453 und 462 a StPO), wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Nachdem die Ausländerbehörde bei Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis-EG von den späteren Straftaten des Antragstellers und den hierauf beruhenden Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung wusste, lag es nahe, dass der Widerruf der Bewährung aus dem vorangegangenen Urteil des Amtsgerichts Stuttgart alsbald folgen würde. Daneben wäre diese Widerrufsentscheidung aber auch deswegen nicht geeignet, den Vertrauensschutz zu überwinden, weil sie nicht auf einem neuen, noch nicht bekannten Sachverhalt fußt, sondern an ein früheres Verhalten anknüpft.

Auf die für das Verwaltungsgericht erhebliche Frage, ob die Straftaten des Antragstellers die Annahme einer beachtlichen Gefahr erneuter Straffälligkeit rechtfertigen und damit seine Ausweisung als EU-Bürger überhaupt möglich wäre, kommt es daher nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 25 Abs. 2, 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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