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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 30.04.2008
Aktenzeichen: 11 S 1705/06
Rechtsgebiete: ARB 1/80


Vorschriften:

ARB 1/80 Art. 7 Satz 1
Der Nachzugsgenehmigung im Sinne des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 steht es gleich, wenn ein bereits im Inland bestehender Aufenthalt im Hinblick auf die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem türkischen Arbeitnehmer genehmigt wird, ohne zuvor die Ausreise des Familienangehörigen zu verlangen.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

11 S 1705/06

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Ausweisung und Abschiebungsandrohung

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg auf Grund der mündlichen Verhandlung

am 30. April 2008

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 24. November 2004 - 7 K 4136/02 - geändert. Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 7. Oktober 2002 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland und die Androhung seiner Abschiebung.

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wurde am xx.xx.1979 in Batman in der Türkei geboren. Im Juni 1987 reiste er gemeinsam mit seinen Eltern und zwei Brüdern in das Bundesgebiet ein, wo er zunächst ein Asylverfahren erfolglos durchlief. Nach der Anerkennung seines Vaters als Flüchtling wurde dem Kläger im Mai 1994 eine Aufenthaltsbefugnis erteilt. Diese wurde zuletzt am 03.04.2001 bis zum 27.10.2003 verlängert.

Der Kläger besuchte die Grund- und Hauptschule, die er 1995 mit dem Hauptschulabschluss abschloss. Im Juni 1996 begann er eine Lehre als Koch. Als er diese wegen des Konkurses des Betriebes nach eineinhalb Jahren aufgeben musste, nahm er am 01.01.1998 eine solche Lehre in einem anderen Betrieb erneut auf. Mitte Juni 2001 bestand er den theoretischen Teil der Gesellenprüfung; den praktischen Teil legte er nicht ab.

Mit Urteil des Amtsgerichts Pforzheim vom 20.03.2001 (Az: 9 Ds 85 Js 14636/00) wurde der Kläger wegen im Oktober 2000 tateinheitlich begangener Beleidigung in zwei Fällen und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt.

Mit seit dem 11.07.2003 rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Tübingen vom 05.02.2002 (Az: 1 Kls 45 Js 11976/01) wurde der Kläger wegen schwerer räuberischer Erpressung in drei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hier hatte der Kläger in der Zeit von Ende Januar bis Ende Mai 2001 von seinem Opfer die Fortsetzung von zunächst freiwillig geleisteten, dann aber verweigerten Geldzahlungen erpresst, indem er es insgesamt drei Mal in einem abgelegenen Waldstück zunächst mit einem Schlagstock, dann mit einer Gasschreckschusspistole und schließlich mit einem Butterflymesser bedroht und auf diese Weise Zahlungen an ihn in Höhe von mindestens 110.000,-- DM veranlasst hatte. Das Geld hatte der Kläger für Anschaffungen und als Einsatz in Kasinos und an Geldspielautomaten verwendet.

Wegen der letztgenannten Straftaten war der Kläger ab dem 22.06.2001 in Untersuchungshaft, wobei zusätzlich die Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Pforzheim vom 20.03.2001 vollstreckt wurde. Die Vollstreckung des Restes der gegenüber dem Kläger verhängten Freiheitsstrafe wurde gemäß § 57 Abs. 1 StGB zum 17.07.2005 zur Bewährung ausgesetzt. Seit diesem Zeitpunkt befindet sich der Kläger wieder auf freiem Fuß. Während der Haft absolvierte der Kläger in der Schreinerei der Justizvollzugsanstalt Ravensburg eine Lehre als Schreiner, die er am 27.08.2005 erfolgreich abschloss.

Mit Bescheid vom 07.10.2002 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe - Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge - den Kläger nach vorheriger Anhörung aus der Bundesrepublik Deutschland aus (1) und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an (2). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der Kläger sei aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung zu einer mehr als dreijährigen Freiheitsstrafe nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (1990) zwingend auszuweisen. Ein besonderer Ausweisungsschutz sei nicht gegeben. In jedem Fall lägen auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Die Ausweisung sei sowohl aus spezial- als auch aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Ihr stünden weder Art. 6 GG noch Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegen. Aufgrund der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr sei die Ausweisung auch dann rechtmäßig, wenn ihm - was auf sich beruhen könne - ein Recht aus Art. 6 oder Art. 7 des ARB 1/80 zustehe. Für den Fall, dass eine Ausweisung des Klägers nur nach Ermessen verfügt werden könne, sei diese unter Abwägung aller entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte geboten. Denn das öffentliche Interesse daran, den Kläger an der Begehung weiterer Straftaten im Bundesgebiet zu hindern, überwiege auch nach Einstellung der für ihn sprechenden Sachverhalte gegenüber dessen persönlichen Belangen an einem Verbleib in Deutschland.

Der Kläger hat am 08.11.2002 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, seine Ausweisung verstoße gegen Art. 6 GG und gegen Art. 8 EMRK. Der Beklagte verkenne die besonders engen Bindungen zu seiner Familie. Auch sei er als faktischer Inländer anzusehen. Die Wertvorstellungen der Türkei seien ihm nicht vermittelt worden. Er sei auch nicht in der Lage, sich in türkischer Sprache zu verständigen. Die Prognose hinsichtlich seiner Gefährlichkeit treffe nicht zu. Er habe ein gutes Vollzugsverhalten gezeigt und die Straftat engagiert aufgearbeitet. Für den Fall der vorzeitigen Haftentlassung, die von der Justizvollzugsanstalt unterstützt werde, verfüge er über einen Arbeitsplatz.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ergänzend vorgetragen, der Kläger sei volljährig. Es sei davon auszugehen, dass er mit den Verhältnissen in der Türkei aus seiner Kindheit vertraut sei und er die in der Familie gesprochene Sprache beherrsche. Da der Kläger die Straftaten begangen habe, obwohl er in gut geordneten Verhältnissen gelebt und über eine Lehrstelle verfügt habe, könne aus dem Verhalten während des Vollzugs der Freiheitsstrafe nicht abgeleitet werden, dass die Gefahr einer weiteren Straffälligkeit nunmehr entfallen sei. Die Ausweisung des Klägers sei deshalb auch unter Berücksichtigung seiner gesamten persönlichen Verhältnisse aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt.

Mit Urteil vom 24.11.2004 - 7 K 4136/02 - hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe die Klage abgewiesen. Die zulässige Klage sei nicht begründet. Die Ausweisung sei rechtmäßig. Zwar sei zugunsten des Klägers davon auszugehen, dass dieser eine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworben habe und deshalb die Verfahrensgarantien des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG auch in seinem Fall zu beachten seien. Dennoch sei es nicht zu beanstanden, dass nach § 6a Satz 1 AGVwGO kein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden sei. Denn die in dieser Regelung geforderte umfassende Kontrolle der Ausweisung werde auch bei Ermessensentscheidungen im vollen Umfang durch den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet. Nach dem bisherigen Verhalten des Klägers bestehe eine hinreichende und gegenwärtige Gefahr, dass er auch künftig wieder erhebliche Straftaten begehen werde. Selbst wenn es während der Zeit der Inhaftierung des Klägers zu einer Nachreifung seiner Persönlichkeit gekommen sei, sei angesichts der in der Erpressungstat offenbarten hohen Gewaltbereitschaft und der bereits damals als relativ sicher einzustufenden familiären und wirtschaftlichen Situation des Klägers zu befürchten, dass dieser zur Befriedigung außergewöhnlicher Bedürfnisse erneut illegale Wege gehen werde. Der Beklagte habe auch die für die Ausweisung von assoziationsrechtlich privilegierten türkischen Staatsangehörigen notwendige Ermessensentscheidung getroffen. Er habe das zunächst hilfsweise ausgeübte Ausweisungsermessen in der mündlichen Verhandlung ergänzt und dabei in nicht zu beanstandender Weise dem öffentlichen Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet den Vorrang gegenüber dessen privaten Interessen an einem weiteren Verbleib eingeräumt. Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 GG stünden der Ausweisung nicht entgegen. Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass er die türkische Sprache jedenfalls bruchstückhaft beherrsche. Zudem habe er prägende Jahre seiner Kindheit in der Türkei verbracht und bis zu seiner Inhaftierung in einem türkisch geprägten Familienverbund gelebt.

Auf Antrag des Klägers hat der Senat die Berufung zugelassen. Zur Begründung der Berufung führt der Kläger aus, er sei aufgrund seiner Lehre als Koch als türkischer Arbeitnehmer assoziationsrechtlich privilegiert. Diese Rechtsstellung habe er weder durch die Haft noch aufgrund der während dieser Zeit erfolgten Ausbildung zum Schreiner verloren. Jedenfalls sei er als Kind eines türkischen Wanderarbeitnehmers privilegiert. Aufgrund der assoziationsrechtlichen Privilegierung sei seine Ausweisung nur dann rechtmäßig, wenn von ihm gegenwärtig die Gefahr ausgehe, dass er auch zukünftig wieder Straftaten begehe. Dies sei bei ihm jedoch nicht der Fall. Ein gemäß § 454 Abs. 2 StPO erstattetes Kriminalprognosegutachten vom 15.06.2005 komme zu dem Ergebnis, dass bei ihm kriminologisch von einem deutlich geringeren Wiederholungsrisiko auszugehen sei, als es dem Durchschnittsfall gewaltsamer bereicherungsmotivierter Delinquenz entspreche. Er habe sich während des Strafvollzugs und in der Zeit danach in nahezu beispielloser Weise positiv entwickelt. Sein Denken und seine Einstellung hätten sich grundlegend geändert. Die positive Entwicklung, die auch der Leiter der Vollzugsanstalt in seiner Stellungnahme zu einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB herausgestellt habe, werde durch den engen und tragfähigen Kontakt zu seiner Familie stabilisiert. Es verstehe sich von selbst, dass er sich seit seiner Entlassung am 17.07.2005 absolut beanstandungsfrei verhalten habe. Einen ihm nach der Haftentlassung sofort zur Verfügung gestellten Arbeitsplatz als Koch bei seinem ehemaligen Arbeitgeber habe er nicht annehmen können, weil ihm damals keine Arbeitserlaubnis erteilt worden sei. Aus den gleichen Gründen sei auch die Aufnahme einer anderen Tätigkeit gescheitert.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 24.11.2004 - 7 K 4136/02 - zu ändern und den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 07.10.2002 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erwidert, der Kläger sei weder nach Art. 6 ARB 1/80 noch nach Art. 7 ARB 1/80 privilegiert. Zwar habe der Kläger aufgrund der zum 01.01.1998 begonnenen Berufsausbildung zum Koch nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 das Recht erworben, sich als Koch zu bewerben und zu arbeiten und sich zu diesem Zweck im Bundesgebiet aufzuhalten. Dieser Anspruch sei jedoch durch die Aufnahme der Schreinerlehre im Oktober 2002 und den damit verbundenen Wechsel des Berufs erloschen. Die Privilegierung des Klägers als Kind eines türkischen Arbeitnehmers scheitere daran, dass dem Kläger nicht der Nachzug zu seinem Vater genehmigt worden sei. Die dem Kläger erteilte Aufenthaltsbefugnis stelle eine solche Nachzugsgenehmigung nicht dar. Denn zum einen sei der Vater des Klägers bei der erstmaligen Erteilung dieser Aufenthaltsbefugnis noch nicht assoziationsberechtigt gewesen. Zum anderen sei dieser Aufenthaltstitel nicht zur Herstellung oder Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft erteilt oder verlängert worden, sondern allein deshalb, weil man von einer rechtlichen oder tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung ausgegangen sei. Fehle es an der assoziationsrechtlichen Privilegierung des Klägers sei seine Ausweisung nicht an den Anforderungen des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG zu messen. Auch könne sie ungeachtet der persönlichen Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung zumindest durch generalpräventive Zwecke gerechtfertigt werden. Die Straftaten des Klägers seien der Schwerstkriminalität zuzurechnen, so dass eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen trotz der beträchtlichen Aufenthaltszeit des Klägers im Bundesgebiet auch weiterhin geboten und verhältnismäßig sei. Dies sei im Rahmen des Ermessens ergänzend ebenso zu berücksichtigen, wie der Umstand, dass sich der Kläger nach seiner Entlassung aus der Haft zwar strafrechtlich unauffällig verhalten habe, dass die Bewährungszeit jedoch noch nicht abgelaufen sei. Von Bedeutung sei schließlich auch, dass das Strafmaß von sechs Jahren Freiheitsstrafe deutlich über der nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU für Unionsbürger festgelegten Grenze liege, die die erforderlichen zwingenden Gründe für eine Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt definierten.

Der Kläger ist in der Berufungsverhandlung angehört worden und hat ergänzend angegeben: Sein Vater habe von 1991 bis 1996 durchgehend als Waldarbeiter und dann von 2001 bis 2003 beim Bauhof der Stadt xxx xxxxxxx gearbeitet. Seine Mutter sei dort seit 17 Jahren als Raumpflegerin tätig. Nachdem ihm nunmehr seit kurzem eine Arbeitserlaubnis erteilt worden sei, könne er demnächst als Malergehilfe arbeiten; er sei aber nach wie vor daran interessiert, wieder als Koch zu arbeiten. Er suche eine entsprechende Stelle. Sein ehemaliger Arbeitgeber habe ihm zugesichert, ihn bei entsprechendem Bedarf wieder einzustellen und ihm dabei die Möglichkeit zu geben, die Lehre als Koch abzuschließen. Die Schreinerlehre habe er im Rahmen der Resozialisierung absolviert. Sie sei ausschließlich anstaltsintern erfolgt; ein Lehrgehalt habe er nicht bezogen. Ihm sei ein Taschengeld ausbezahlt und ein weiterer Betrag als Starthilfe angespart worden. Die Beendigung der Ausbildung zum Koch sei während der Haft nicht möglich gewesen.

Dem Senat liegen die Ausländerakten des Landratsamts Calw und des Regierungspräsidiums Karlsruhe über den Kläger (jeweils ein Heft) sowie die Akten des Verwaltungsgerichts zu dem Asylverfahren des Klägers (A 1 K 10366/93) und dem Klageverfahren gegen die Ausweisungsverfügung (7 K 4136/02) vor. Auf den Inhalt dieser Akten wird ergänzend ebenso verwiesen wie auf den Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze in der Berufungsakte.

Entscheidungsgründe:

Die nach Zulassung durch den Senat statthafte Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt (vgl. § 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO) und den inhaltlichen Anforderungen entsprechend fristgerecht begründet worden (vgl. § 124a Abs. 3 Satz 1 und 4 VwGO).

Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hätte der Klage stattgeben und den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 07.10.2002 aufheben müssen, denn dieser ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hatte im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 inne (hierzu zu 1), so dass die ohne behördliches Vorverfahren verfügte Ausweisung gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verstößt (hierzu zu 2). Daneben ist die Ausweisung auch nach nationalem Recht rechtswidrig (hierzu zu 3).

1. a) Der Kläger besaß zu dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ausweisungsentscheidung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - ein Recht auf freien Zugang zur Beschäftigung in Deutschland, dessen praktische Wirksamkeit notwendig ein entsprechendes Aufenthaltsrecht voraussetzt (hierzu EuGH, Urt. v. 18.07.2007 - C-325/05 -, Derin, InfAuslR 2007, 326 = ZAR 2007, 365 = NVwZ 2007, 1393; Urt. v. 11.11.2004 - C 467/02 -, Cetinkaya, Slg. 2004, I-10895 = NVwZ 2005, 198 = DVBl. 2005, 103 = InfAuslR 2005, 13).

Nach dieser Bestimmung haben Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Diese Voraussetzungen lagen zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung vor. Dabei kann offen bleiben, ob der Kläger die Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 von seinem Vater ableiten kann. Zwar hat er mit dem Vater ohne Unterbrechung bis zu seiner Inhaftierung im Juni 2001 zusammengewohnt. Jedoch war der Vater des Klägers, der erst seit der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (1990) in dem Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 24.08.1993 über eine sichere Aufenthaltsposition verfügt, nur bis 1996 als Waldarbeiter und dann - nach einer Zeit der Krankheit und der Arbeitslosigkeit - erst wieder von 2001 bis 2003 als Mitarbeiter des Bauhofs der Stadt Bad Wildbad beschäftigt und damit nicht während der gesamten Dauer des für ihre Entstehung maßgebenden Zeitraums des Zusammenlebens erwerbstätig (zu diesem Erfordernis vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 16.12.2004 - 13 S 2510/04 -, EzAR-NF 019 Nr. 5 m.w.N.).

Der Kläger kann die Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 jedenfalls von seiner Mutter ableiten, mit welcher der Kläger ebenfalls ohne Unterbrechung bis zu seiner Inhaftierung zusammengelebt hat. Denn die Mutter des Klägers ist seit Mai 1994 im Besitz eines Aufenthaltsrechts und ist - wie sich in der mündliche Verhandlung zur Überzeugung des Senats herausgestellt hat - seit 1991 ununterbrochen bis heute bei der Stadt xxx xxxxxxx als Raumpflegerin tätig. Damit gehört sie seit Mai 1994 als türkische Arbeitnehmerin dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland an. Da die Mutter des Klägers stets beim gleichen Arbeitgeber und im gleichen Beruf beschäftigt war, hatte sie seit Mai 1995 zunächst die Rechtsstellung aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 und in der Folgezeit auch die Beschäftigungsrechte aus den weiteren Spiegelstrichen der Regelung erworben. Damit wären die Voraussetzungen für den Erwerb des Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 selbst dann erfüllt, wenn der Stammberechtigte - entgegen dem Wortlaut der Bestimmung, aber in Anlehnung an die Bezeichnung des Stammberechtigten als "Wanderarbeitnehmer" etwa in dem Urteil des EuGH vom 11.11.2004, a.a.O. - während der Zeit des maßgeblichen Zeitraums des Zusammenlebens selbst über eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 verfügen müsste. Vor diesem Hintergrund kann es den Erwerb der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 auch nicht hindern, dass die Mutter des Klägers ursprünglich nicht als Wanderarbeitnehmerin, sondern als Asylbewerberin in das Bundesgebiet eingereist ist (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 30.06.2005 - 13 S 881/05 -, NVwZ 2006, 219 = InfAuslR 2005, 408 m.w.N.; Hailbronner, AuslR Kommentar, D 5.2 Art. 7 ARB 1/80 Rn. 12).

Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dem Erwerb der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 durch den Kläger nicht entgegen, dass er 1987 zunächst ohne Aufenthaltserlaubnis als Asylbewerber in das Bundesgebiet eingereist ist und erst im Mai 1994 nach der Anerkennung seines Vaters als Flüchtling eine Aufenthaltsbefugnis erhalten hat. Denn die Erteilung dieser Aufenthaltsbefugnis erfolgte - ebenso wie ihre Verlängerungen in den Folgejahren - nach § 31 Abs. 1 i.V.m. § 30 Abs. 3 AuslG (1990) zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seinem Vater und seiner Mutter, weil es dem damals fünfzehnjährigen Kläger aufgrund des Schutzes seines Familienlebens in Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zumutbar war, sich über eine freiwillige Ausreise in die Türkei dauerhaft von seinen Eltern zu trennen und somit auch einer Abschiebung rechtliche Hindernisse entgegen standen, die er nicht zu vertreten hatte.

Die in der Erteilung dieser Aufenthaltsbefugnis liegende Genehmigung des Aufenthalts des Klägers bei seiner als Arbeitnehmerin im Sinne des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 beschäftigten Mutter ist für den Erwerb der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ausreichend.

Zwar erfordert der Wortlaut dieser Regelung, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört, die Genehmigung erhalten hat, zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen. Hieraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass der Erwerb der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nur dann möglich sein soll, wenn der Familienangehörige mit einer zum Zwecke der Familienzusammenführung erteilten Aufenthaltserlaubnis aus dem Ausland zu dem türkischen Familienangehörigen zieht. Denn die Voraussetzung, dass die Familienangehörigen die Genehmigung erhalten müssen, zum türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, erklärt sich allein daraus, dass die erstmalige Zulassung der Einreise solcher Staatsangehörigen in einen Mitgliedstaat, vorbehaltlich der Einhaltung etwa des Art. 8 EMRK, ausschließlich dem Recht dieses Staates unterliegt (vgl. EuGH, Urt. v. 30.09.2004 - C-275/02 -, Ayaz, Slg. 2004, I-8765 = InfAuslR 2004, 416 = NVwZ 2005, 73). Es soll verhindert werden, dass ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auch dann eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 erwirbt, wenn er unter Verstoß gegen die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet einreist und dann dort seinen Wohnsitz nimmt (EuGH, Urt. v. 11.11.2004, a.a.O.).

Eine solche Gefahr der Umgehung der Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise und den ersten Aufenthalt des Familienangehörigen besteht jedoch - ebenso wie in dem Fall des Familienangehörigen, der im Aufnahmestaat geboren ist und dort stets gelebt hat (vgl. EuGH, Urt. v. 18.07.2007, a.a.O.; Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 -, Aydinli, Slg. I-6183 = InfAuslR 2005, 352 = NVwZ 2005, 1294 = DVBl 2005, 1256) - dann nicht, wenn der Aufnahmemitgliedstaat - wie hier - einen bereits bestehenden, und sei es unrechtmäßigen, Aufenthalt eines Familienangehörigen bei einem türkischen Arbeitnehmer mit Blick auf deren Zusammenleben nachträglich genehmigt und dabei auf eine vorherige Ausreise des Familienangehörigen verzichtet hat. Vielmehr entspricht die Erstreckung der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 auf die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, deren Aufenthalt bei diesem erst nachträglich vom Inland aus genehmigt wurde, dem Zweck des Artikel 7 Satz 1 ARB 1/80, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen (zu diesem Zweck vgl. EuGH, Urt. v. 17.04.1997 - C-351/95, Kadiman, Slg. 1997, I-2133 = NVwZ 1997, 1104 = InfAuslR 1997, 281; Urt. v. 30.09.2004, a.a.O.).

Hat der Kläger deshalb eine Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben, ist diese nicht deshalb erloschen, weil er zum Zeitpunkt der Ausweisung bereits älter als 21 Jahre sowie in Untersuchungshaft und ab Juli 2003 bis Juli 2005 im Strafvollzug war. Denn nach der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, der sich auch das Bundesverwaltungsgericht angeschlossen hat, gewährt Art. 7 ARB 1/80 lediglich ein Recht auf Zugang zu einer Beschäftigung, erlegt jedoch dem einmal Berechtigten keine Verpflichtung auf, eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, so dass es für das Bestehen dieser Rechtsposition nicht auf die Zugehörigkeit des Klägers zum regulären Arbeitsmarkt ankommt. Dem entsprechend kann ein aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat ausschließlich in den beiden Fällen erlöschen, wenn es wegen einer tatsächlichen und schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 beschränkt wird oder wenn der Betroffene das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt (vgl. EuGH, Urt. v. 4.10.2007 - C-349/06 -, Polat, = InfAuslR 2007, 425 = NVwZ 2008, 59 = ZAR 2007, 407; Urt. v. 18.7.2007, a.a.O.; Urt. v. 16.2.2006 - C-502/04 -, Torun, NVwZ 2006, 556 = DVBl 2006, 567 = InfAuslR 2006, 209 = BayVBl 2007, 206; Urt. v. 7.7.2005, a.a.O.; Urt. v. 11.11.2004, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 09.08.2007 - 1 C 47/06 -, BVerwGE 129, 162 = InfAuslR 2007, 431 = DVBl 2007, 1377; Urt. v. 28.06.2006 - 1 C 4/06 -, Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 47; Urt. v. 6.10.2005 - 1 C 5/04 -, BVerwGE 124, 243 = NVwZ 2006, 475 = InfAuslR 2006, 114 = DVBl. 2006, 376 = AuAS 2006, 38). Hierin liegt kein Verstoß gegen das Verbot der Besserstellung von türkischen Staatsangehörigen gegenüber Unionsbürgern nach Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei (BGBl. II 1972, 385) (EuGH, Urt. v. 18.7.2007, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 09.08.2007, a.a.O.).

b) Hatte der Kläger bei Erlass der Ausweisungsverfügung bereits ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80, kann offen gelassen werden, ob die Rechtsstellung, die er aufgrund seiner Beschäftigung während der Ausbildung zum Koch daneben nach Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hatte, in der Untersuchungshaft durch einen Wechsel des Berufs erloschen ist, wie der Beklagte meint. Dagegen könnte sprechen, dass der Kläger stets an seinem Wunsch festgehalten hat, nach der Entlassung aus der Haft wieder als Koch zu arbeiten, und dass die Ausbildung zum Schreiner ausschließlich innerhalb der Justizvollzugsanstalt zum Zwecke der Resozialisierung durchgeführt wurde (vgl. hierzu Gutmann, a.a.O., Art. 6 Rn. 121 m.w.N.), so dass mit ihr - anders als bei sog. Freigängern (hierzu BVerwG, Beschl. v. 08.05.1996 - 1 B 136.95 -, NVwZ 1996, 1109 = InfAuslR 1996, 299) - wohl keine Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt verbunden war.

2. Stand dem Kläger zum damaligen Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 zu, verstößt der Erlass der Ausweisungsverfügung gegen die deshalb auch in seinem Fall anzuwendende (EuGH, Urt. v. 02.06.2005 - Rs.-C 136/03 -, Dörr und Ünal, Slg. I-4759 = DVBl 2005, 1437 = NVwZ 2006, 72 = InfAuslR 2005, 289; BVerwG, , Urt. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110 = DVBl 2006, 372 = NVwZ 2006, 472 = BayVBl 2006, 253 = DÖV 2006, 430; Urt. v. 09.08.2007, a.a.O.) gemeinschaftsrechtliche Verfahrensgarantie nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG.

Nach dieser Regelung triff die Verwaltungsbehörde "sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben" die Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen "außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes", vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann, wobei "diese Stelle eine andere sein muss als diejenige, welche für die aufenthaltsbeendende Maßnahme zuständig ist". Diese Anforderungen waren bei Erlass der Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 07.10.2002 nicht erfüllt. Denn die Ausweisung wurde verfügt, ohne dass dem Kläger die Möglichkeit eingeräumt gewesen wäre, im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens durch eine zweite unabhängige Stelle auch die Zweckmäßigkeit der Ausweisung erschöpfend überprüfen zu lassen (vgl. § 6a Satz 1 AGVwGO i.d.F. des Gesetz zur Entlastung der Regierungspräsidien vom 10.05.1999, GBl. S. 173).

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts genügt das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsmittelverfahren nicht den Anforderungen, die notwendig wären, um die gemeinschaftsrechtliche Erfordernis der Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde ("Vier-Augen-Prinzip") entbehrlich zu machen. Denn dieses sieht lediglich eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vor und ist insbesondere bei behördlichen Ermessenserwägungen auf die Überprüfung beschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind bzw. von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.; Urt. v. 06.10.2005, a.a.O., Urt. v. 09.08.2007; Urteil des Senats v. 29.06.2006 - 11 S 2299/05 -, VBlBW 2007, 109 = EzAR-NF 40 Nr. 5).

An der sich hieraus ergebenden Rechtswidrigkeit der Ausweisung ändert sich nichts dadurch, dass die Richtlinie 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden und die Rechtmäßigkeit der Verfügung nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats zu beurteilen ist. Denn die Anforderung des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG betrifft das Verwaltungsverfahren, und dieses war bereits im Oktober 2002 abgeschlossen (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.08.2007, a.a.O.; Urteil des Senats v. 29.06.2006, a.a.O.).

Schließlich lag auch kein dringender Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vor, der es ausnahmsweise erlaubt hätte, die Ausweisung ohne die Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle zu verfügen (zu den Anforderungen an einen "dringenden Fall" vgl. Urteil des Senats v. 29.06.2006, a.a.O.). Denn zu dem Zeitpunkt, zu dem die Behörde ihre Ausweisungsentscheidung getroffen hatte, bestanden keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger, der damals bereits inhaftiert war und sich im Strafvollzug beanstandungsfrei führte, kurzfristig Straftaten begehen werde, so dass eine weitere Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung durch die Einschaltung einer zweiten Verwaltungsstelle als nicht hinnehmbar erschien.

3. Unabhängig von der sich aus dem - unheilbaren - Verstoß gegen die Verfahrensgarantie des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ergebenden Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung in dem Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 07.10.2002 verstößt die Ausweisung des Klägers auch gegen nationales Recht.

Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist auch ohne Berücksichtigung einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung des Klägers nach Maßgabe der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung zu beurteilen (BVerwG, Urt. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 -, AuAS 2008, 40 = DVBl. 2008, 392 = InfAuslR 2008, 156 = NVwZ 2008, 434 = DÖV 2008, 334 = VBlBW 2008, 180).

Der Kläger ist zu einer Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden. Damit ist der Tatbestand des § 53 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt und der Kläger grundsätzlich zwingend auszuweisen. Allerdings genießt der Kläger nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz. Denn er war bislang im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis, die ohne die Ausweisung nach § 101 Abs. 2 AufenthG als Aufenthaltserlaubnis fort gelten würde und deshalb dem Besitz einer solchen gleichzustellen ist. Auch ist der Kläger 1987 als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist, wo er sich seit 1994 bis zur Ausweisung auch mindestens fünf Jahre rechtmäßig aufgehalten hat. Dieser besondere Ausweisungsschutz führt nach § 56 Abs. 1 Satz 2 und 4 AufenthG dazu, dass der Kläger nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und nur in der Regel ausgewiesen wird.

a) Solche schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen nicht (mehr) vor. Da der Kläger den Ausweisungstatbestand des § 53 AufenthG erfüllt, kann das Vorliegen der schwerwiegenden Gründe für die Ausweisung nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG allerdings nur dann verneint werden, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls die mit der Erfüllung eines zwingenden Ausweisungstatbestandes verbundenen spezial- und generalpräventiven Ausweisungszwecke nicht in dem erforderlichen Maße zum Tragen kommen (vgl. zu § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG BVerwG, Urt. v. 31.08.2004 - 1 C 25/03 -, BVerwGE 121, 356 = NVwZ 2005, 229 = InfAuslR 2005, 49 = DVBl 2005, 128 = DÖV 2005, 476). Diese Voraussetzungen sind jedoch erfüllt.

Aufgrund der langjährigen, positiven und zur Überzeugung des Senats auch stabilen Entwicklung des Klägers während der Haft und in der Zeit danach bestehen keine Anhaltspunkte mehr für eine ernsthafte Gefahr, dass der Kläger zukünftig erneut straffällig wird (zum spezialpräventiven Ausweisungszweck vgl. BVerwG, Urt. v. 31.08.2004, a. a. O.; Urt. v. 11.06.1996 - 1 C 24.94 - BVerwGE 101, 247 = DVBl 1997, 170 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297 = VBlBW 1997, 172). Sowohl der Bericht des Leiters der Vollzugsanstalt Ravensburg vom 19.04.2005 zu einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB als auch das im Auftrag der Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Ravensburg gemäß § 454 Abs. 2 StPO erstattete Kriminalprognosegutachten des Fachpsychologen für Rechtspsychologie Dr. xxxx xxxxxxxxxx vom 15.06.2005 machen deutlich, dass der Kläger seine Einstellung zur Gewalt und der Begehung von Straftaten als Mittel zur Erreichung sozialer Anerkennung grundlegend geändert hat. Diese Entwicklung wird nicht nur über die nun - trotz schwieriger Rahmenbedingungen - mehr als siebenjährige Straffreiheit des Klägers, sondern auch durch den in der Berufungsverhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck vom Kläger bestätigt. So macht der Kläger einen durch die Erfahrungen der Straftat und des Strafvollzugs gereiften Eindruck. Er setzte sich sehr selbstkritisch und ohne Verharmlosung auch mit der fortdauernden Verantwortung gegenüber seinem ehemaligen Opfer auseinander und konnte dabei ein realistisches Bild der ihn deshalb auch in Zukunft noch erwartenden wirtschaftlichen und beruflichen Schwierigkeiten zeichnen. Hinzu kommt, dass der Kläger glaubhaft darlegen konnte, dass er nach wie vor in seiner Familie einen engen Rückhalt findet. Wegen des langen Zeitraums, der seit der Begehung der Straftaten vergangen ist, ist mittlerweile trotz der Schwere dieser Taten auch das dringende Bedürfnis für eine über eine etwaige strafrechtliche Sanktion hinausgehende Abschreckung anderer Ausländer entfallen.

b) Fehlt es an den für die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers notwendigen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, leidet die Ausweisung weiter auch an einem gemäß § 114 VwGO relevanten Ermessensfehler.

Die an sich zwingende Ausweisung des Klägers ist aufgrund des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu einer Regelausweisung herabgestuft. Da der Kläger jedoch als Achtjähriger nach Deutschland gekommen ist und hier seit 20 Jahren ununterbrochen lebt, gebieten die über Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten familiären und privaten Belange des Klägers eine umfassende und individuelle Würdigung unter Berücksichtigung aller Umstände seines Falles und begründen damit einen atypischen Fall, der abweichend vom Regelfall eine Ermessensentscheidung über die Ausweisung erfordert (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 -, InfAuslR 2008, 116 = AuAS 2008, 28 = NVwZ 2008, 326 = DVBl 2008, 189).

Zwar hat der Beklagte - hilfsweise - eine solche Ermessensentscheidung über die Ausweisung des Klägers getroffen, die er unter Berücksichtigung der Entwicklung des Klägers bis zur Verhandlung vor dem Senat auch in zulässiger Weise ergänzt hat. Er hat dabei allerdings dennoch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten. Denn die Ausweisung steht angesichts der dargestellten Entwicklung des Klägers in der Zeit nach der Begehung der Straftaten in keinem angemessenen Verhältnis zu den generalpräventiven und spezialpräventiven Zielen und entspricht deshalb auch keinem dringenden sozialen Bedürfnis mehr (ausführlich zur Verhältnismäßigkeit der Ausweisung bei Ausländern mit langjährigem Aufenthalt im Aufnahmestaat vgl. EGMR, Urt. v. 02.08.2001, Nr. 54273/00, Boultif, InfAuslR 2001, 476; Urt. v. 31.10.2002, Nr. 37295/97, Yildiz, InfAuslR 2003, 126; Urt. v. 15.07.2003, Nr. 52206/99, Mokrani, InfAuslR 2004, 183; Urt. v. 05.07.2005, Nr. 46410/99, Üner, InfAuslR 2005, 450; Urt. v. 31.01.2006, Nr. 50252/99, Sezen, InfAuslR 2006, 255). Damit sind die mit der Ausweisung verbundenen Eingriffe in das Recht des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nicht mehr nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt.

4. Bei einer Aufhebung der Ausweisung kann auch die Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben. Denn durch die Aufhebung der Ausweisung entfällt die durch diese begründete Ausreisepflicht des Klägers (§§ 58 Abs. 1, 59 Abs. 1, 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 AufenthG). Da dem Kläger ein Aufenthaltsrecht unmittelbar nach dem ARB 1/80 zustand, ist eine Ausreisepflicht auch nicht damit entstanden, dass er es unterlassen hat, die Verlängerung seiner bis zum 27.10.2003 befristeten Aufenthaltsbefugnis zu beantragen.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.

Beschluss vom 10. Oktober 2007

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird nach §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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