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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 20.11.2007
Aktenzeichen: 11 S 2364/07
Rechtsgebiete: AuslG, AufenthG, VwGO


Vorschriften:

AuslG § 69 Abs. 3
AufenthG § 56 Abs. 1 Satz 4
AufenthG § 60 Abs. 4
AufenthG § 81 Abs. 3
AufenthG § 81 Abs. 4
VwGO § 80 Abs. 5
1. Bei Anfechtung der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO nur dann statthaft, wenn der abgelehnte Antrag eine gesetzliche Erlaubnis-, Duldungs- oder Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG oder - bei vor dem 1.1.2005 gestellten Anträgen - eine gesetzliche Duldungs- oder Erlaubnisfiktion nach § 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG oder nach § 69 Abs. 3 Satz 1 oder 2 AuslG ausgelöst hat (Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung; vgl. Beschlüsse vom 5.5.1992 - 11 S 3162/91 - ESVGH 43, 71, vom 2.9.1992 - 11 S 1251/92 - juris, vom 9.3.2004 - 11 S 1518/03 - juris und vom 1.9.2005 - 11 S 877/05 - VBlBW 2006, 111).

2. Auch Belange, die ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 a Abs. 2 AufenthG bilden und damit zu einer Aussetzung der Abschiebung führen können, können bei der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorliegt, berücksichtigt werden.

3. Günstige, eine Atypik begründende Umstände dürfen nicht im Wege einer Interessenabwägung mit der Folge relativiert werden, dass ein Ausnahmefall nicht vorliegt. Raum für eine umfassende Interessenabwägung ist erst bei der auf die Bejahung eines Ausnahmefalls folgenden Ermessensausübung (Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung, vgl. Urt. v. 16.3.2005 - 11 S 2885/04 - EZAR NF 044 Nr. 2).

4. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Unzulässigkeit der Auslieferung ein Abschiebungsverbot begründet.


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

11 S 2364/07

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungsandrohung und Abschiebungsanordnung

hier: vorläufiger Rechtsschutz

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

am 20. November 2007

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 28. September 2007 - 5 K 1836/07 - geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die im Bescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom 21. August 2007 enthaltene Ablehnung der Verlängerung des Aufenthaltstitels (II.), die Abschiebungsandrohung (III.) und die Abschiebungsanordnung (IV.) wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 28.09.2007 ist zulässig (vgl. §§ 146, 147 VwGO) und begründet. Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers hinsichtlich der Versagung der Verlängerung seines Aufenthaltstitels, der Abschiebungsandrohung und der Abschiebungsanordnung anzuordnen. Anders als das Verwaltungsgericht misst der Senat bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffenden eigenständigen Interessenabwägung dem privaten Interesse des Antragstellers, vorläufig vom Vollzug der angefochtenen Verfügung vom 21.08.2007 verschont zu bleiben, größere Bedeutung zu als dem öffentlichen Interesse an seiner sofortigen Ausreise. Der Senat legt den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage sachdienlich dahingehend aus, dass er sich auf die Ablehnung der Verlängerung des Aufenthaltstitels (II.), die Abschiebungsandrohung (III.) und die Abschiebungsanordnung (IV.) bezieht.

1. Gegen die Statthaftigkeit des Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO bestehen keine Bedenken. Diese setzt voraus, dass der angefochtene Verwaltungsakt eine den Antragsteller selbstständig belastende und vollziehungsfähige Regelung enthält. Das ist bei der Anfechtung der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nur dann der Fall, wenn der abgelehnte Antrag eine gesetzliche Erlaubnis-, Duldungs- oder Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG oder - bei vor dem 01.01.2005 gestellten Anträgen - eine gesetzliche Duldungs- oder Erlaubnisfiktion nach § 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG oder nach § 69 Abs. 3 Satz 1 oder 2 AuslG ausgelöst hat, die durch die insoweit im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO sofort vollziehbare (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) Ablehnungsentscheidung der Behörde erlischt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 15.10.2003 - 13 S 1618/03 - VBlBW 2004, 154 und Beschl. v. 28.07.1998 - 13 S 1588/97 - InfAuslR 1999, 27 m.w.N.; Hess. VGH, Beschl. v. 16.03.2005 - 12 TG 298/05 - NVwZ 2006, 111; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 30.08.2005 - 18 B 633/05 - InfAuslR 2006, 137; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 81 AufenthG Rn. 61 f.; Hailbronner, AuslR, § 81 AufenthG Rn. 32). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, da der mit Bescheid vom 21.08.2007 abgelehnte Antrag des Antragstellers vom 20.09.2001 auf Verlängerung seiner bis 04.10.2001 gültigen Aufenthaltserlaubnis die Erlaubnisfiktion nach § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG bewirkte, die gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bis zur Entscheidung über den Antrag fortwirkte (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 31.01.2005 - 18 B 915/04 - EZAR NF 094 Nr. 1; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 102 AufenthG Rn. 13). Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und der Abschiebungsanordnung, die vorliegend in der Form eines Verwaltungsakts erlassen wurde, ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ebenfalls statthaft (vgl. § 12 LVwVG).

Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsansicht, dass in allen Fällen der behördlichen Versagung eines Aufenthaltstitels, die kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stets das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft ist (vgl. Beschlüsse vom 05.05.1992 - 11 S 3162/91 - ESVGH 43, 71, vom 02.09.1992 - 11 S 1251/92 - juris, vom 09.03.2004 - 11 S 1518/03 - juris und vom 01.09.2005 - 11 S 877/05 - VBlBW 2006, 111), nicht weiter fest. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung eines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels führt nur in den Fällen des § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zum Wegfall der in § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geregelten Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. vom 23.10.2006 - 13 S 1943/06 - InfAuslR 2007, 59 m.w.N.; Funke-Kaiser, a.a.O., § 81 AufenthG Rn. 62; Renner, AuslR , 8. Aufl., § 81 AufenthG Rn. 33). Die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht ist im Falle der Beantragung eines Aufenthaltstitels untrennbar mit den gesetzlichen Fiktionswirkungen der Antragstellung nach § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG verknüpft. Das kommt bereits in § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zum Ausdruck, soweit danach der Fortbestand der vollziehbaren Ausreisepflicht im Falle verspäteter Antragstellung davon abhängt, dass keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG besteht. Es folgt aber auch aus § 58 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG, wonach die Ausreisepflicht bei der Ablehnung eines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels die Vollziehbarkeit dieser Behördenentscheidung voraussetzt. Denn vollziehbar ist die Ablehnung eines Antrages auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nur, soweit sie zu einem Rechtsverlust auf Seiten des Ausländers führt, weil eine Fiktionswirkung i. S. des § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG entfällt (vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 18.12.1969 - I C 5.69 - BVerwGE 34, 325). Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung lassen zwar die Wirksamkeit dieses Verwaltungsaktes und damit auch das Erlöschen der Fiktionswirkung unberührt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines gegen die Ablehnung eingelegten Rechtsbehelfs, die "unbeschadet" dessen eintritt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), stellt die Fiktionswirkung deshalb nicht wieder her. Folge der vom Gericht angeordneten aufschiebenden Wirkung ist aber, dass die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht entfällt und der Ausländer - solange er sich im Bundesgebiet befindet - nach § 80 Abs. 1 VwGO einstweilen so zu behandeln ist, als gelte die Fiktionswirkung fort (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. vom 15.10.2003 - 13 S 1618/03 - ESVGH 54, 185). Ist die Ausreisepflicht unabhängig von einer Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vollziehbar, weil der Antrag keine Fiktionswirkung ausgelöst hat, kann der ablehnende Verwaltungsakt, der allein Anknüpfungspunkt des vorläufigen Rechtschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO sein kann, die Rechtsposition des Betroffenen insoweit nicht negativ berühren. Es besteht dann keine Rechtsposition, die im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gesichert werden könnte. Deshalb kommt in diesen Fällen nur ein - bei Zweifeln über das Bestehen einer Fiktionswirkung gegebenenfalls hilfsweise zu stellender - Eilantrag nach § 123 VwGO in Betracht (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15.04.2004 - 18 B 471/04 - NWVBl 2004, 391; Sächs. OVG, Beschl. v. 11.04.2002 - 3 Bs 162/01 - SächsVBl 2002, 249; Funke-Kaiser, a.a.O., § 81 AufenthG Rn. 64, 95; Hailbronner, a.a.O., § 81 AufenthG Rn. 47). Damit entspricht auch die Ausgestaltung des vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes der gesetzgeberischen Bewertung der Interessenlage, wie sie § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zugrunde liegt.

2. Entgegen der Auffassung des Regierungspräsidiums und des Verwaltungsgerichts dürfte die Sperrwirkung der unter Nr. I des Bescheides vom 21.08.2007 verfügten Ausweisung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegenstehen.

Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und das Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG gebieten, im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sofort vollziehbare Versagung des Aufenthaltstitels die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs gegen die Ausweisung summarisch zu prüfen (vgl. Senatsbeschluss vom 26.03.2001 - 11 S 2111/00 - VBlBW 2001, 327 <328>).

Die Ausweisung dürfte sich im Klageverfahren als rechtswidrig erweisen.

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG vorliegen, weil der Antragsteller, ein 1985 geborener russischer Staatsangehöriger, der am 04.10.2000 mit einem mit Zustimmung der Ausländerbehörde erteilten Visum zu seiner deutschen Mutter ins Bundesgebiet eingereist ist und dem im Hinblick auf die familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner Mutter eine bis 04.10.2001 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu Jugend- und Freiheitsstrafen von zusammen vier Jahren und acht Monaten verurteilt worden ist. Weiter hat das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt, dass der Antragsteller besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG genießt und daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden darf (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), die vorliegend gegeben sind. Der Senat teilt auch die Auffassung, dass beim Antragsteller kein Ausnahmefall i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vorliegt, der zur Annahme führen könnte, dass keine schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen. Der Vorschrift des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegt die Erwägung zugrunde, dass in den Fällen der Ist-Ausweisung schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung regelmäßig deshalb vorliegen, weil das öffentliche Interesse an der Erhaltung von Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat. Hat ein Ausländer durch sein Verhalten die Voraussetzungen der zwingenden Ausweisung erfüllt, bedarf es keiner besonderen Begründung, dass darin zugleich die Verwirklichung eines besonders schwerwiegenden Grundes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegt, bei dem dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung im Vergleich zum Interesse des Ausländers ein deutliches Übergewicht zukommt. Allerdings ist stets zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Ausnahme von der Regel vorliegen. Die Worte "in der Regel", die das Aufenthaltsgesetz auch an anderer Stelle verwendet, beziehen sich auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichgelagerter Fälle unterscheiden. Den Gegensatz dazu bilden Ausnahmefälle, die durch einen abweichenden Geschehensablauf gekennzeichnet sind, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt (Hailbronner, Ausländerrecht, § 56 AufenthG Rn. 23). Indem § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Ausnahme zulässt, ist eine einzelfallbezogene Korrektur der vom Gesetzgeber für den Regelfall abstrakt-generell vorgenommenen Inhaltsbestimmung des Tatbestandsmerkmals "schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" möglich. Von der regelmäßigen Rechtsfolge der zwingenden Ausweisung ist nur abzusehen, wenn ein Ausnahmefall sowohl im Hinblick auf spezialpräventive wie auch auf generalpräventive Ausweisungsgründe vorliegt (vgl. zum AuslG: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 02.07.2001 - 13 S 2326/99 - InfAuslR 2002, 72). Die persönlichen Verhältnisse des Ausländers müssen bei der Beurteilung der Frage, ob besonders schwerwiegende Gründe für eine Ausweisung vorliegen, grundsätzlich unberücksichtigt bleiben (Hailbronner, a.a.O., § 56 AufenthG Rn. 25 m.w.N.). Daran gemessen ist vorliegend kein Ausnahmefall in diesem Sinne gegeben. Die Ausländerbehörde dürfte zutreffend davon ausgegangen sein, dass der Antragsteller seit dem Jahr 2000 eine Vielzahl von Straftaten aus dem Bereich Körperverletzung, Sachbeschädigung, Diebstahl und Drogen begangen hat, wobei er zuletzt zu einer Gesamtjugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt wurde. Angesichts der Vielzahl der Straftaten, die der Antragsteller binnen kurzer Zeit und trotz mehrfacher zwischenzeitlicher Verurteilungen begangen hat, dürfte der Antragsgegner unter Berücksichtigung der hohen Rückfallgeschwindigkeit auch in nicht zu beanstandender Weise von einer hinreichenden Wiederholungsgefahr ausgegangen sein. Anhaltspunkte für die Annahme, es lägen ausnahmsweise keine schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor, sind demgegenüber nicht ersichtlich.

Der besondere Ausweisungsschutz des Antragstellers hat gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG weiter zur Folge, dass er nicht zwingend, sondern nur in der Regel ausgewiesen wird. Zu prüfen ist auch insoweit, ob eine Ausnahme in Betracht kommt. Ein Regelausweisungsfall ist anzunehmen, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die ihn von der Menge gleichgelagerter Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind dagegen durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt. Ein Ausnahmefall liegt ferner vor, wenn der Ausweisung auch unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG höherrangiges Recht entgegen steht, diese insbesondere nicht mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen vereinbar ist (Senatsurteil vom 16.03.2005 - 11 S 2885/04 - EZAR NF 044 Nr. 2 m.w.N.). Auch Belange, die ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 a Abs. 2 AufenthG bilden und damit zu einer Aussetzung der Abschiebung führen können, können bei der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, berücksichtigt werden (zum AuslG: Senatsbeschluss vom 28.06.2000 - 11 S 1080/00 - InfAuslR 2000, 438). Damit wird das Verhältnis von Abschiebungsaussetzungsgründen zur Ausweisung nicht verkannt (a.A. Hailbronner, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 58). Zwar lassen Abschiebungshindernisse nach § 60 a Abs. 3 AufenthG die Ausreisepflicht unberührt. Daraus folgt jedoch nicht, das alles, was auf der Ebene der Durchsetzung der Ausreisepflicht eine Rolle spielt, für die Ebene der Begründung der Ausreisepflicht irrelevant wäre. Vielmehr zeigt gerade die Regelung des § 55 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG, dass es nach Auffassung des Gesetzgebers erforderlich ist, die Entscheidung über die Ausweisung gleichsam vorgreifend mit den eine Aussetzung der Abschiebung erfordernden Gründen zu verknüpfen (vgl. Discher in GK-AufenthG, § 54 AufenthG Rn. 125 m.w.N.). Dies bedeutet freilich nicht, dass das bloße Vorliegen eines Abschiebungshindernisses notwendig einen Ausnahmefall begründet. Vielmehr ist erforderlich, dass das Abschiebungshindernis eine Atypik bildet, die so bedeutsam ist, dass sie jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt, also die Regelvermutung, eine Ausweisung sei geboten und verhältnismäßig, entkräftet (Discher, a.a.O. Rn. 127).

Günstige, eine Atypik begründende Umstände dürfen nicht im Wege einer Interessenabwägung mit der Folge relativiert werden, dass ein Ausnahmefall nicht vorliegt. Raum für eine umfassende Interessenabwägung ist erst bei der auf die Bejahung eines Ausnahmefalls folgenden Ermessensausübung (Discher, a.a.O. § 54 AufenthG Rn. 158; zum AuslG: Hess. VGH, Urt. v. 04.10.2004 - 12 UE 1947/04 - InfAuslR 2005, 55). Der Senat hält an seiner im Urteil vom 16.03.2005 (- 11 S 2885/04 - EZAR NF 044 Nr. 2) geäußerten gegenteiligen Rechtsauffassung nicht länger fest. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Verpflichtung der Behörde, über die Ausweisung nach Ermessen zu entscheiden, nicht erst dann einsetzen kann, wenn die dem Ausländer infolge der Ausweisung drohende Härte "unangemessen" ist. Wäre die Härte nämlich unangemessen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, so wäre die Behörde an der Ausweisung gehindert: Die Zufügung einer unangemessenen, unverhältnismäßigen Rechtsfolge kann, wie schon aus dem Begriff folgt, mit der Rechtsordnung nicht vereinbar sein (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 28.03.2000 - 2 Bf 223/99 - InfAuslR 2000, 485). Die Verpflichtung, über die Ausweisung nach Ermessen zu entscheiden, muss daher bereits vor der Schwelle der Unangemessenheit der Ausweisung einsetzen (Discher, a.a.O., § 54 Rn. 55).

Daran gemessen dürfte vorliegend ein Ausnahmefall, der die weitere Herabstufung zur Ermessensausweisung zur Folge hat, anzunehmen sein. Allein die im letzten Strafverfahren bei dem Antragsteller vom gerichtlich bestellten Sachverständigen diagnostizierte Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline dürfte allerdings nicht das erforderliche Gewicht haben, um dass sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel zu beseitigen. Für eine hinreichende Schwere der psychischen Erkrankung ist nichts ersichtlich (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 28.06.2000 - 11 S 1080/00 - InfAuslR 2000, 438; OVG Hamburg, Urt. v. 28.03.2000 - 2 Bf 223/99 - a.a.O.). Eine Atypik dürfte hingegen darin begründet sein, dass das Oberlandesgericht Stuttgart mit Beschluss vom 15.04.2004 die Auslieferung des Antragstellers an die Russische Föderation zur dortigen Strafverfolgung für unzulässig erklärt hat. Die russischen Stellen werfen dem Antragsteller, der in der Russischen Föderation nicht vorbestraft und zur Tatzeit 14 Jahre alt war, vor, am 08.03.2000, verleitet durch einen volljährigen Mittäter, 120 m Aluminium-Doppelkabel im Wert von 1.368 Rubel entwendet zu haben. Am 12.03.2000 habe der Antragsteller unter Alkoholeinfluss und wiederum verleitet durch einen volljährigen, vorbestraften Mittäter einen Minderjährigen überfallen und mit den Füßen getreten, wodurch dieser leichte Gesundheitsbeschädigungen (Prellungen, Platzwunden) erlitten habe. Sodann hätten sie dem Geschädigten zwei Schachteln Zigaretten und einen Fingerring entwendet. Wegen dieser Taten wurde der Antragsteller zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Das Oberlandesgericht hat mit Beschluss vom 15.04.2004 zum einen festgestellt, dass die Grenzen, die Art. 8 EMRK der Auslieferung Jugendlicher und Heranwachsender setze, nicht hinreichend beachtet worden seien. Zum anderen hat es - selbstständig tragend - ein Auslieferungsverbot bejaht, weil dem Antragsteller der Vollzug einer mehrjährigen Freiheitsstrafe drohe, die - gemessen am Unrechts- und Schuldgehalt der zugrundeliegenden Taten - als schlechthin unangemessen und unerträglich hart anzusehen sei. Die Auslieferung sei weder mit dem nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard noch mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung vereinbar. Strafen, die im Einzelfall schlechthin unangemessen und unerträglich hart seien, hielten einer menschen- und verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand.

Diese Feststellungen bedürfen nicht deshalb einer neuen Bewertung, weil der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts 18-jährige Antragsteller mittlerweile 22 Jahre alt und damit kein Heranwachsender mehr ist. Die besonderen Grenzen, die Art. 8 EMRK der Auslieferung Jugendlicher und Heranwachsender setzt, wären danach heute zwar nicht mehr zu beachten. Es bleibt allerdings dabei, dass die gegen den Antragsteller verhängte Freiheitsstrafe von drei Jahren gemessen am Unrechts- und Schuldgehalt der zugrundeliegenden Taten als schlechthin unangemessen und unerträglich hart anzusehen ist. Diese Feststellung lässt sich auch nicht mit der Erwägung relativieren, dass der Antragsteller zwischenzeitlich weniger haftempfindlich sein dürfte, nachdem er in Deutschland mehrjährige Jugend- und Freiheitsstrafen verbüßt hat. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller in der Russischen Föderation nicht mehr zur Fahndung ausgeschrieben ist und ihm dort keine Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe mehr drohte, sind nicht ersichtlich. Folglich ist davon auszugehen, dass ein Auslieferungsverbot auch zum heutigen Zeitpunkt noch zu bejahen wäre.

Aufenthaltsrechtlich begründet das Auslieferungsverbot vorliegend ein Abschiebungsverbot. Dies ergibt sich allerdings nicht bereits aus § 60 Abs. 4 AufenthG. Denn dieses Verbot entfaltet nach Abschluss des Auslieferungsverfahrens keine Wirkung mehr (Hailbronner, AuslR, § 60 AufenthG Rn. 94; zum AuslG: Senatsbeschluss vom 30.03.1993 - 11 S 529/93 - InfAuslR 1994, 27). Eine negative Auslieferungsentscheidung entfaltet keine formelle Bindungswirkung für die Ausländerbehörde, doch muss es auf die ausländerrechtliche Entscheidung durchschlagen, wenn - wie hier - materielle Auslieferungshindernisse angenommen werden (vgl. Treiber in GK-AuslR, § 53 Rn. 169). Eine Abschiebung ist der Sache nach ausgeschlossen, wenn im Auslieferungsverfahren Tatsachen festgestellt wurden, die ein Abschiebungsverbot begründen und ausschließlich der Heimatstaat des Ausländers als Abschiebungsland in Frage kommt, der Abschiebung also eine auslieferungsgleiche Wirkung zukommt (Hailbronner, a.a.O.). Dies ist hier der Fall. Die vom Oberlandesgericht festgestellten Tatschen begründen aus ausländerrechtlicher Sicht ein verfassungsunmittelbares Abschiebungsverbot. Es gehört zu dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters zu der gesetzlich angedrohten oder der verhängten Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen müssen. Eine Strafandrohung oder Verurteilung darf nach Art und Maß dem unter Strafe stehenden Verhalten nicht schlechthin unangemessen sein. Der Kernbereich dieser Anforderungen zählt zu den unabdingbaren Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und ist deshalb auch bei der Abschiebung eines Ausländers zu beachten. Eine Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn die den Ausländer dort erwartende Strafe unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erschiene (Senatsbeschluss vom 30.03.1993 - 11 S 529/93 - a.a.O.; ähnlich VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 01.02.1995 - 1 S 3202/94 - AuAS 1995, 186). In dieser Situation wird der Grundsatz, dass die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung der Abschiebung nicht entgegen steht (vgl. § 60 Abs. 6 AufenthG), durchbrochen.

Das danach bestehende Abschiebungsverbot dürfte von solchem Gewicht sein, dass ein Ausnahmefall i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG anzunehmen ist. Entscheidend ist insoweit, dass das Abschiebungsverbot für einen unüberschaubaren Zeitraum besteht - es ist gegenwärtig nicht absehbar, dass die russischen Behörden von einer Vollstreckung der gegen den Antragsteller verhängten Freiheitsstrafe Abstand nehmen würden - und dass dem Antragsteller daher auch eine freiwillige Ausreise nicht zumutbar ist. Danach wäre über die Ausweisung des Antragstellers nach Ermessen zu entscheiden gewesen. Ermessenserwägungen finden sich in dem angefochtenen Bescheid indessen nicht.

3. Nach alledem dürfte die Ausländerbehörde die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu Unrecht unter Verweis auf die Sperrwirkung der Ausweisung abgelehnt haben.

Rechtsgrundlage für die Verlängerung der dem Antragsteller nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 AuslG erteilten Aufenthaltserlaubnis dürfte mangels einschlägiger Übergangsregelungen in § 104 AufenthG die Vorschrift des § 28 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sein. Danach wird die Aufenthaltserlaubnis verlängert, solange die familiäre Lebensgemeinschaft fortbesteht. Auch die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die Ersterteilung müssen fortbestehen. Dies dürfte hier der Fall sein, weil für das Erfordernis der Minderjährigkeit der Zeitpunkt maßgebend ist, in dem die Erteilung des Aufenthaltstitels beantragt wurde (Marx in GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 52 m.w.N.; zum AuslG: BVerwG, Urt. v. 18.11.1997 - 1 C 22.96 - InfAuslR 1998, 161). Hier hat der Antragsteller die Verlängerung am 20.09.2001 im Alter von 16 Jahren beantragt. Allerdings fehlt es an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, da aufgrund der vom Antragsteller verübten Straftaten ein Ausweisungsgrund vorliegt. Nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann aber von dieser Erteilungsvoraussetzung abgesehen werden. Dies bedeutet, dass über die Verlängerung nach behördlichem Ermessen zu entscheiden ist. An einer solchen Ermessensentscheidung fehlt es, so dass im Hauptsacheverfahren insoweit ein Anspruch auf Neubescheidung gegeben sein dürfte.

4. Mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entfällt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des Antragstellers, so dass hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und der Abschiebungsanordnung gleichfalls die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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