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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 14.12.2005
Aktenzeichen: 11 S 2791/04
Rechtsgebiete: GKG 2004, GG


Vorschriften:

GKG 2004 § 39 Abs. 1
GKG 2004 § 52 Abs. 2
GG Art. 6
Klagen der ausgewiesene Ausländer und sein deutscher Ehegatte gemeinsam gegen die Ausweisungsverfügung, um ihre eheliche Lebensgemeinschaft (weiterhin) im Bundesgebiet führen zu können, ist ein einheitlicher Streitwert in Höhe des Auffangstreitwertes (hier: nach § 52 Abs. 2 GKG 2004) festzusetzen (wie BVerwG, Beschluss vom 28.01.1991 - 1 B 95/90 - , NVwZ- RR 1991, 669 f.).
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

11 S 2791/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Ausweisung und Abschiebungsandrohung

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schaeffer, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Dr. Thoren und den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Wenger

am 14. Dezember 2005

beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11. November 2004 - 2 K 931/03 - wird abgelehnt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Der rechtzeitig gestellte (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO) und begründete (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils) gestützte Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11.11.2004, mit dem das Gericht die den Kläger zu 1. betreffende Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 14.02.2003 aufgehoben hatte, bleibt ohne Erfolg.

I. 1. Der 1976 geborene Kläger zu 1. ist italienischer Staatsangehöriger. Er reiste im Wege des Familiennachzugs als Jugendlicher zu seinen Eltern in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er in der Folgezeit als Arbeitnehmer tätig war. 1998 heiratete er die Klägerin zu 2., welche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Die Kläger haben zwei 1996 und 1998 geborene gemeinsame Kinder. 1998 wurde dem Kläger zu 1. eine bis zum 27.10.2003 befristete Aufenthaltserlaubnis-EG erteilt.

Durch Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 24.10.2001 (1 Ks 93 Js 3909/01 1 AK 15/01) wurde der Kläger zu 1. wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Kläger zu 1. hatte das Opfer der Straftat, der zuvor die Klägerin zu 2. in deren Wohnung aufgesucht und ihr das Angebot gemacht hatte, mit ihr "ins Bett zu gehen", mit elf Messerstichen getötet. Trotz einer BAK von 2,29 Promille zur Tatzeit ging das Landgericht wegen der überdurchschnittlichen Alkoholgewöhnung des Klägers zu 1. nicht von einer verminderten Schuldfähigkeit des Klägers zu 1. aus und verneinte auch das Vorliegen mildernder Umstände, die ein Absehen von der lebenslangen Freiheitsstrafe hätten gebieten könnten.

Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Karlsruhe mit Verfügung vom 14.02.2003 den Kläger zu 1. aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung nach Italien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an. Das Regierungspräsidium begründete seine Verfügung im Wesentlichen wie folgt: Der Kläger zu 1. erfülle den (Ist-)Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG. Zu seinen Gunsten werde davon ausgegangen, dass er besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Nr. 4 AuslG (familiäre Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen) genieße und er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden könne. Diese lägen gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1 AuslG vor. Im Falle des Klägers zu 1. sei ein atypischer Geschehensablauf nicht erkennbar. Der besondere Ausweisungsschutz des Klägers zu 1. führe darüber hinaus auf der Rechtsfolgenseite zu einer Herabstufung der Ist- zu einer Regel-Ausweisung. Gründe für die Annahme einer Atypik, die ein Absehen von der Regelausweisung rechtfertige, lägen nicht vor. Die Ausweisung sei aus spezialpräventiven Gründen geboten. Es liege auch die für die Ausweisung erforderliche Wiederholungsgefahr vor. Nachdem ein Ausweisungstatbestand nach § 47 Abs. 1 AuslG erfüllt sei, lägen nach § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG in der Regel schwerwiegende Gründe der öffentliche Sicherheit und Ordnung vor. Durch die gesetzliche Regelvermutung sei im Falle des Klägers zu 1. deshalb von einer Wiederholungsgefahr auszugehen. Bei Verurteilungen wegen schwerer Gewalttaten, zu denen auch Mord gehöre, seien an die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten des Ausländers nur geringe Anforderungen zu stellen. Die Ausländerbehörden übten hier ihr Ermessen einwandfrei aus, wenn sie sich auf Erwägungen stützten, dass eine Wiederholungsgefahr (im weiteren Sinne) nicht ausgeschlossen werden könne. Auch Art. 6 GG, Art. 8 EMRK, Art. 2 Abs. 2 FV (Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik vom 21.11.1957, BGBl. II 1959, S. 949), Art. 3 Abs. 3 ENA (Europäisches Niederlassungsabkommen vom 13.12.1955, BGBl. II 1959, S. 997) und § 12 AufenthG/EWG stünden einer Ausweisung nicht entgegen. Selbst wenn ein atypischer Sachverhalt vorliegen würde, wäre die Ausweisung des Klägers zu 1. dringend erforderlich und geboten. Bei der Ausübung des ausländerbehördlichen Ermessens seien alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles in die Abwägung der öffentlichen und privaten Belange einzustellen. Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Verhältnismäßigkeit sei danach dem öffentlichen Interesse an der Ausreise des Klägers zu 1. und der Bekämpfung weiterer schwerwiegender Straftaten der Vorrang vor dem privaten Interesse des Klägers zu 1. an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet einzuräumen. Da diese Gesichtspunkte bereits bei der Regel-Ausweisung geprüft worden seien, werde darauf verwiesen.

Gegen die Verfügung vom 14.02.2003 haben die Kläger Klage erhoben. Mit Ladung zur mündlichen Verhandlung wies das Verwaltungsgericht den Beklagten u.a. auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 (- 1 C 30.02 -, NVwZ 2005, 220 ff.) zur Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger hin, bat den Beklagten, zur Gefahrenprognose Stellung zu nehmen sowie aktuelle Ermessenserwägungen anzustellen und gab dem Beklagten auf, einen mit der Sache vertrauten Vertreter in die Sitzung zu entsenden. Mit Schriftsatz vom 26.08.2004 teilte das Regierungspräsidium Karlsruhe mit, dass sich aus seiner Sicht keine Änderung der Sach- und Rechtslage ergeben habe, die eine Änderung der Ermessensentscheidung erfordern würde. In der mündlichen Verhandlung vom 11.11.2004 erschien für den Beklagten niemand.

Mit Urteil vom 11.11.2004 hob das Verwaltungsgericht die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 14.02.2003 auf. In den Entscheidungsgründen heißt es sinngemäß und zusammengefasst, die vom Beklagten herangezogene Rechtsgrundlage des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG, die wegen §§ 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG zur Regelausweisung herabgestuft werde, scheide vorliegend aus, weil es sich beim Kläger zu 1. um einen nach Art. 39 EGV freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger handele. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 29.04.2004, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01 <Orfanopoulos und Oliveri>, DVBl 2004, 876 ff.) und des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 03.08.2004 (a.a.O.) dürfe der Kläger zu 1. nur auf Grund einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Rechtsgrundlage für die Ausweisung sei daher § 12 AufenthG/EWG i.V.m. §§ 45, 46 AuslG. Eine strafrechtliche Verurteilung dürfe nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lasse, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Darüber hinaus müsse das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegen. Im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung habe eine umfassende Abwägung aller Belange unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu erfolgen. Dabei sei auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen. Der Beklagte habe keine diesen Anforderungen genügende Ermessensentscheidung getroffen, obwohl er vom Gericht in der Ladung zur mündlichen Verhandlung hierauf hingewiesen worden sei. Die vom Regierungspräsidium in der angefochtenen Verfügung hilfsweise für den Fall, dass ein atypischer Fall im Sinne von § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG vorliege, getroffene Ermessensentscheidung genüge den Anforderungen nicht.

2. Mit seinem Zulassungsantrag macht der Beklagte ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend und trägt zusammengefasst vor, dass in der angefochtenen Verfügung alle vom Europäischen Gerichtshof und vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Kriterien für die Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers hinreichend berücksichtigt worden seien. Die Tatsache, dass nur hilfsweise Ermessenserwägungen getroffen worden seien, ändere an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung nichts. Wenn auch die hilfsweisen Erwägungen kurz seien, so werde doch deutlich, dass die zuvor im Rahmen der Regelausweisung ausführlich erörterten Erwägungen - zur Grundlage einer Ermessensentscheidung gemacht - zu keinem anderen Ergebnis führen können. In diesen Erwägungen sei auch die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers zu 1. berücksichtigt worden. Die im Rahmen der Klageerwiderung vorgenommene erneute Ermessensabwägung mache deutlich, dass keine neuen erheblichen Tatsachen vorgelegen hätten, die eine andere Ermessensentscheidung der Behörde begründen könne. Insbesondere lasse ein Wohlverhalten während der Inhaftierung nicht erkennen, dass die Wiederholungsgefahr auszuschließen sei.

II. Dieser Vortrag des Beklagten begründet keine Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils.

1. Ob der auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Berufungszulassungsantrag Erfolg hat, ist stets nur im Rahmen der innerhalb der Berufungsbegründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vorgetragenen Gründe zu beurteilen (BVerwG, Beschluss vom 15.12.2003 - 7 AV 2/03 -, NVwZ 2004, 744; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.02.2005 - 13 S 2155/04 - und Beschluss vom 09.11.2004 - 11 S 2771/03 - <juris>). Dies hat zur Konsequenz, dass Rechtsänderungen, die erst nach dem Ablauf der Berufungsbegründungsfrist eingetreten sind und deshalb auch nicht innerhalb dieser Frist dargelegt werden konnten (wie hier das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005), bei der Prüfung, ob "ernstliche Zweifel" vorliegen, unberücksichtigt bleiben (BVerwG a.a.O.). Auch die durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 (a.a.O.) im Anschluss an die Entscheidung des EuGH vom 29.04.2004 (a.a.O.) eingeleitete Änderung der Rechtsprechung gebietet es nicht, von der Fristbindung des berücksichtigungsfähigen Vortrags im Berufungszulassungsverfahren nach § 124a Abs 4 Satz 4 VwGO abzusehen (Senatsbeschluss vom 09.11.2004 -, a.a.O.). Die maßgebliche Rechtslage für das Vorliegen ernstlicher Zweifel ergibt sich daher nach wie vor aus den Vorschriften des Ausländergesetzes.

2. Die Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfordert, dass ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine dafür erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Beschl. v. 23.06.2000 - 1 BvR 830/00 -, VBlBW 2000, 392 = NVwZ 2000, 1163). Der Antrag ist begründet, wenn eine Überprüfung des dargelegten Vorbringens aufgrund der Akten ergibt, dass derartige beachtliche Zweifel tatsächlich vorliegen. Letzteres ist hier nicht der Fall. Der Beklagte hat keine erheblichen Gründe vorgebracht, die dafür sprechen, dass das verwaltungsgerichtliche Urteil im Ergebnis einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten werde.

3. Das Verwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung umfassend und in rechtlich nicht zu beanstandender Weise die Voraussetzungen dargelegt, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 29.04.2004, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 03.08.2004, a.a.O.) eine Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers erfolgen kann. Zweifel an der Freizügigkeitsberechtigung des Klägers zu 1. hat der Beklagte nicht substantiiert dargelegt. Ebenso wie das Verwaltungsgericht ist auch der Senat der Auffassung, dass die Verfügung des Beklagten vom 14.02.2003 den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ausweisungsentscheidung nicht genügt.

a) Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Würdigung der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers zu 1. sowie die Beurteilung der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr.

aa) Die rechtmäßige Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers setzt nach der o.g. Rechtsprechung voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Eine strafrechtliche Verurteilung kann eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig. Ob die Begehung einer Straftat nach deren Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich ebenfalls nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen. Anhaltspunkte hierfür können sich aus einer Verurteilung wegen in § 47 Abs. 1 und 2 AuslG aufgeführter Straftaten ergeben. Dies ist indessen nicht im Sinne einer Regelvermutung zu verstehen. Erforderlich und ausschlaggebend ist vielmehr in jedem Fall die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und die insoweit anzustellende aktuelle Gefährdungsprognose.

Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt darüber hinaus eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 39 Abs. 3 EG beeinträchtigen wird (zu diesem Wahrscheinlichkeitsmaßstab vgl. auch Urteil des Senats vom 09.07.2003 - 11 S 420/03 -, ZAR 2003, 323 [Ls]). Ob bei der Ausweisung eines Straftäters eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nicht - gleichsam automatisch - bereits aus der Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung geschlossen, sondern nur aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Dabei sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist u.a. auch, ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird. Fehlt es danach bereits an einer gegenwärtigen und schwer wiegenden Gefahr für wichtige Rechtsgüter, so darf eine Ausweisung nicht verfügt und aufrechterhalten werden (s. dazu im einzelnen BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, a.a.O., m.w.N.).

bb) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Verfügung nicht gerecht. Der Beklagte hat in dieser Verfügung die vom Kläger zu 1. ausgehende Gefahr aus der gesetzliche Regelvermutung des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG hergeleitet, ohne sich mit den konkreten Umständen des Einzelfalls auch nur ansatzweise auseinander zu setzen und eine individuelle Gefahrenprognose aufzustellen. Darüber hinaus heißt es in der Verfügung, an die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten des Ausländers seien nur geringe Anforderungen zu stellen; es genüge, dass eine Wiederholungsgefahr (im weiteren Sinne) nicht ausgeschlossen werden könne. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt dagegen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 39 Abs. 3 EG beeinträchtigen wird, auch wenn dabei - wertend - der möglich Grad des Schadens berücksichtigt werden kann. Eine von den Umständen des Einzelfalles losgelöste Beurteilung der Wahrscheinlichkeit, wie sie das Regierungspräsidium vorgenommen hat, ist jedoch unzulässig (vgl. dazu auch Urteile des Senats vom 10.09.2003 - 11 S 973/03 -, EZAR 037 Nr. 8, und vom 09.07.2003 a.a.O.).

Zwar ist die Frage, ob sich aus begangenen Straftaten ein persönliches Verhalten des Ausländers ergibt, das eine gegenwärtige Gefährdung für die öffentliche Ordnung darstellt, gerichtlich voll überprüfbar und im Zweifel von Amts wegen auszuklären (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 -, a.a.O.). Der Senat hat aber keine Veranlassung, dieser Frage im Zulassungsverfahren nachzugehen, da das Verwaltungsgericht seine Entscheidung selbständig tragend auf das Fehlen ausreichender Ermessenserwägungen des Beklagten, die vom Gericht nicht ersetzt werden können, gestützt hat.

b) Ernstliche Zweifel daran, dass die (hilfsweise für den Fall des Vorliegens einer im Rahmen des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG zu prüfenden Atypik angestellten) Ermessenserwägungen den Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht an die Ermessenserwägungen bei der Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers stellt, nicht genügen, werden durch das Zulassungsvorbringen nicht begründet.

Ist die Ausweisung nach der Auffassung der Ausländerbehörde als Regelfall geboten, darf sie zwar hilfsweise auch von einem Ausnahmefall ausgehen und die Ausweisung auf eine Ermessensentscheidung stützen (BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 C 25/94 -, InfAuslR 1997, 152 ff.). Erforderlich ist dabei aber stets eine eigenständige, erkennbar von den Maßgaben der Regelausweisung losgelöste Ermessensbetätigung (vgl. dazu etwa GK zum AuslR, § 47 Rn. 106). Bereits nach diesen allgemeinen Grundsätzen dürfte der bloße Verweis des Regierungspräsidiums auf die im Rahmen der Regelausweisung geprüften Gesichtspunkte für eine ordnungsgemäße Ermessensentscheidung nicht ausreichend sein.

Die Ermessenserwägungen sind aber jedenfalls schon deshalb nicht tragfähig, weil das Regierungspräsidium, wie oben dargelegt, eine auf dem persönlichen Verhalten des Klägers zu 1. beruhende gegenwärtige Gefährdung für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit als gemeinschaftsrechtliche Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Ermessensausweisung (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, a.a.O.) weder geprüft noch festgestellt hat. Ist aber die Behörde von unzutreffenden rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen, kann die darauf beruhende Ermessensentscheidung nicht ordnungsgemäß sein. Die betrifft im vorliegenden Fall insbesondere die Frage, ob das Regierungspräsidium das durch eine etwaige Wiederholungsgefahr begründete öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Klägers zu 1. ohne Rechtsfehler mit seinem privaten Interesse an einem Verbleiben im Bundesgebiet abgewogen hat.

Bei der Prüfung, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen jeweils liegt, ist im Ausweisungsverfahren eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers darüber hinaus stets die besondere Rechtsstellung der vom Gemeinschaftsrecht privilegierten Person und die besondere Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall ist das Regierungspräsidium zwar bei der Prüfung von Ausweisungsanlass und Wiederholungsgefahr im Rahmen des § 12 AufenthG/EWG davon ausgegangen, dass der Kläger zu 1. freizügigkeitsberechtigt ist. Dass das Regierungspräsidium aber - auch und gerade - im Rahmen des hilfsweise ausgeübten Ermessens die besondere Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit gewürdigt hätte, ist der angefochtenen Verfügung nicht zu entnehmen.

Bei der Beurteilung, ob der beabsichtigte Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, dem Schutz der öffentlichen Ordnung, steht, sind bei der Ausweisung eines Straftäters ferner Art und Schwere der begangenen Straftat, die Dauer seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, die Zeit, die seit der Begehung der Straftat verstrichen ist, und die familiäre Situation des Betroffenen zu berücksichtigen. Die Ausländerbehörde darf in ihre Abwägung auch die in den §§ 46 bis 48 AuslG aufgeführten Ausweisungsgründe und die Gründe für einen besonderen Ausweisungsschutz als - weder abschließende noch zwingende - Wertungen des Bundesgesetzgebers einbeziehen. Die darin normierten Tatbestände dürfen allerdings auch hier nicht im Sinne einer Regelvermutung oder einer sonstigen schematisierenden Entscheidungsdirektive angewendet werden, die auch nur den Anschein eines Automatismus begründet. Vielmehr ist stets auf die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen (vgl. im einzelnen EuGH, Urteil vom 29.04.2004, a.a.O., und BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, a.a.O., m.w.N.). Auch an dieser individuellen Würdigung der Straftat des Klägers zu 1 fehlt es im vorliegenden Fall.

cc) Der vom Beklagten mit Schriftsatz vom 15.11.2005 - und damit außerhalb der Zulassungsbegründungsfrist - vorgebrachte Einwand, im vorliegenden Fall läge offenkundig eine "Ermessensreduzierung auf Null" vor, da es sich beim Kläger zu 1. um einen "strafrechtlich verurteilten Mörder" handele, kann nicht zu einer anderen rechtlichen Beurteilung führen.

Aus der dargestellten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts folgt, dass eine nur schematisch mit der Schwere der Tat begründete Ausweisung mit Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar ist. Vielmehr ist stets auf die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen. Allein die Tatsache, dass der Kläger zu 1. wegen Mordes verurteilt ist, führt nach diesen Maßgaben grundsätzlich noch nicht zu einer Ermessensreduzierung dergestalt, dass jede andere Entscheidung als eine Ausweisung sich als ermessensfehlerhaft darstellen würde.

4. Nach alledem kommt es nicht darauf an, ob sich im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.09.2005 (1 C 7.04) das Urteil des Verwaltungsgerichts auch deshalb im Ergebnis als richtig erweist, weil die Ausweisung entgegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG ohne vorherige Einschaltung einer anderen Stelle neben dem Regierungspräsidium verfügt worden ist. Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, sei darauf hingewiesen, dass sich die Zulässigkeit einer Ausweisung ohne Einschaltung einer anderen Stelle entgegen der im Schriftsatz vom 15.11.2005 vom Beklagten vertretenen Auffassung im vorliegenden Fall nicht aus dem vorgelegten Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 26.10.2005 (4 K 730/05) herleiten lässt. Das Verwaltungsgericht hatte in diesem Urteil (über dessen Richtigkeit im anhängigen Verfahren nicht zu entscheiden ist) entscheidungserheblich darauf abgestellt, dass ein "dringender Fall" vorliege, und darauf hingewiesen, dass die Ausweisungsverfügung wegen der vom dortigen Kläger ausgehenden Gefahr mit Sofortvollzug versehen worden war und die Staatsanwaltschaft ungewöhnlich früh von der weiteren Strafvollstreckung im Falle der Abschiebung abgesehen habe. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Das Regierungspräsidium hat selbst die Anordnung des Sofortvollzugs nicht für erforderlich gehalten. Darüber hinaus hatte die Staatsanwaltschaft Karlsruhe dem Regierungspräsidium mit Schreiben vom 14.03.2003 mitgeteilt, dass im Falle des Klägers zu 1. in naher Zukunft noch keine Entscheidung gemäß § 456a StPO getroffen werde; eine entsprechende Prüfung werde voraussichtlich nicht vor dem Jahre 2008 erfolgen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2, 72 Nr. 1 2. HS GKG i. d.F. des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 05.05.2004 (BGBl. I, S. 718 ff.). Dass hier ein Fall subjektiver Klagehäufung vorliegt, hat nicht zur Folge, dass für die Begehren der beiden Kläger jeweils der Wert des § 52 Abs. 2 GKG anzusetzen ist und beide Werte nach § 39 Abs. 1 GKG zusammen zu rechnen sind. Der Senat folgt insoweit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 28.01.1991 - 1 B 95/90 -, <juris>, m.w.N.), welches in den Fällen, in denen beide Ehegatten sich im Interesse ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 GG) gegen die Ausweisung des einen wenden, die Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung begehren oder die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ihn erstreben, von einem wirtschaftlich einheitlichen Streitgegen-stand ausgeht (vgl. auch Senatsbeschluss vom 17.09.1992 - 11 S 1704/92 -, InfAuslR 1993, 55 ff. zum Streitwert im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis für den ausländischen Ehegatten; ebenso Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., Anh. § 164, Rn. 11, Stichwort Klagehäufung; zu den Fällen subjektiver Klage- bzw. Antragshäufung s. auch Anders/Gehle/Kunze, Streitwertlexikon, 4. Aufl., Verwaltungsgerichtliches Verfahren, Rn. 304). Davon, dass im vorliegenden Fall von einer Verdopplung des Auffangstreitwertes abzusehen ist, ist auch das Verwaltungsgericht ausgegangen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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