Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 05.02.2009
Aktenzeichen: 11 S 3244/08
Rechtsgebiete: EMRK, AufenthG, VwGO


Vorschriften:

EMRK Art. 8
AufenthG § 60a Abs. 2 Satz 1
VwGO § 123 Abs. 1
1. Die Beziehungen von jungen ledigen Erwachsenen zu ihren Eltern und anderen nahen Familienangehörigen fallen in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK, wenn die Betreffenden nach Erreichen der Volljährigkeit weiterhin mit ihren Eltern in häuslicher Gemeinschaft leben (im Anschluss an EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/08 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333).

2. Zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei "verwurzelten" Ausländern (im Anschluss an den Senatsbeschluss vom 25.10.2007 - 11 S 2091/07 - InfAuslR 2008, 29 = NVwZ 2008, 344).


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

11 S 3244/08

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Abschiebung;

hier: Antrag nach § 123 VwGO

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

am 5. Februar 2009

beschlossen:

Tenor:

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt xxxxxx xxxxx, xxxxxxxxxx. xx, xxxxx xxxxxxxx, bewilligt. Er hat auf die Prozesskosten monatliche Raten von xx,xx EUR zu zahlen.

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 12. Dezember 2008 - 3 K 2484/08 - geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Abschiebung des Antragstellers vorläufig auszusetzen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Der nach Aktenlage am 01.01.1985 geborene Antragsteller ist ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und alevitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Juli 1996 zusammen mit zwei seiner Geschwister zur Durchführung eines Asylverfahrens in das Bundesgebiet ein. Sein Vater war bereits im Oktober 1991 als Asylbewerber eingereist, zwei weitere Geschwister 1994. Seine Mutter folgte im Dezember 1996. Mit Bescheid vom 15.11.1996 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) seinen Asylantrag ab; ein 2001 durchgeführtes Folgeverfahren blieb ebenfalls ohne Erfolg. In der Folgezeit wurde der Aufenthalt des Antragstellers geduldet. Sein Antrag vom 28.10.2005 an die Härtefallkommission wurde am 22.03.2006 abgelehnt.

Den Eltern des Antragstellers wurden Aufenthaltserlaubnisse nach § 23 AufenthG i.V.m. der Anordnung des Innenministeriums vom 20.11.2006 (Bleiberechtsregelung) und den Geschwistern xxxx und xxxxxx Aufenthaltserlaubnisse nach § 23 a AufenthG (Härtefallregelung) erteilt. Sein Bruder xxx besitzt eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, seine Schwester xxxxx eine Niederlassungserlaubnis.

Der Antragsteller ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zuletzt wurde er, nachdem zuvor die Mehrzahl der Verfahren nach § 47 JGG eingestellt worden war, wie folgt verurteilt:

- Mit Urteil des Amtsgerichts xxxxxxxx vom 15.09.2005 wurde der Antragsteller wegen versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall, Nötigung in Tateinheit mit Sachbeschädigung und versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einem Jugendarrest von vier Wochen verurteilt. Der Antragsteller hatte u.a. eine Bierflasche auf den Besucher einer Diskothek geworfen und das Handy von dessen Freundin zerstört, als diese versuchte, die Polizei zu benachrichtigen. Außerdem hatte er versucht, einen Fahrscheinautomaten aufzubrechen, um das darin vermutete Bargeld zu stehlen.

- Mit Urteil des Amtsgerichts xxxxxxxx vom 14.02.2007 wurde er wegen versuchten Diebstahls zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 25,-- EUR verurteilt. Er hatte in Karlsruhe versucht, einen Fahrscheinautomaten aufzubrechen, um mit dem erbeuteten Geld einen Bordellbesuch zu finanzieren.

- Zuletzt wurde der Antragsteller mit Urteil des Amtsgerichts xxxxxxxx vom 17.04.2008 wegen Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Er hatte am 04.02.2007 zwei kleinere Geldtresore aus einem Wettbüro gestohlen, um an den Inhalt von erhofften 5.000,-- bis 10.000,-- EUR zu kommen. Unmittelbar nach Verlassen des Wettbüros wurden der Antragsteller und ein Mittäter von Beamten eines Sondereinsatzkommandos gestellt und überwältigt.

Seit September 2004 ist der Antragsteller erwerbstätig; er wohnt mit seinen Eltern sowie den Geschwistern xxxx und xxxxxx in häuslicher Gemeinschaft und trägt mit seinem Erwerbseinkommen zu den Mietkosten der Familie bei.

Mit Bescheid vom 19.08.2008 wies das Regierungspräsidium Freiburg den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus und lehnte seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Anordnung des Innenministeriums nach § 23 AufenthG über ein Bleiberecht für im Bundesgebiet wirtschaftlich und sozial integrierte ausländische Staatsangehörige vom 20.11.2006 ab. Am 19.09.2008 hat der Antragsteller hiergegen Klage zum Verwaltungsgericht Freiburg erhoben (Az.: 3 K 1783/08).

Am 04.12.2008 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Hinblick auf seine beabsichtigte Abschiebung nachgesucht. Er hat geltend gemacht, er habe einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 AufenthG und zudem einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK, sobald er im Besitz eines Passes sei. Die begangenen Straftaten seien überwiegend als Jugendverfehlungen einzustufen. Bei keiner der Straftaten seien Rauschmittel im Spiel gewesen. Das Amtsgericht Freiburg habe ihm eine günstige Sozialprognose bescheinigt, die er bislang gerechtfertigt habe. Alle Familienmitglieder unterstützten und betreuten die Mutter, die seit Jahren an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung leide. Im Juli 2002 habe er den Hauptschulabschluss erworben und nach wiederholten vergeblichen Versuchen, die Erlaubnis zur Ausübung der Erwerbstätigkeit zu erhalten, im September 2004 eine Anstellung als "Eisenbieger" in einem Betrieb für Stahlarmierungen gefunden. Er spreche fließend deutsch, verfüge über einen Freundeskreis, der sich auch aus gleichaltrigen Deutschen zusammensetze und engagiere sich u.a. in einem Verein, der sich der Förderung der Völkerverständigung verschrieben habe. In der Türkei lebten nur entferntere Verwandte, zu denen er keinen Kontakt habe. In seiner Familie werde die kurdische Sprache Kurmanci gesprochen. Im Fall seiner Abschiebung drohe eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands seiner Mutter. Bereits das Bekanntwerden der Ausweisungsverfügung habe bei ihr einen schweren psychischen Zusammenbruch ausgelöst.

Mit Beschluss vom 12.12.2008 - 3 K 2484/08 - hat das Verwaltungsgericht Freiburg den Antrag auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, es fehle am erforderlichen Anordnungsanspruch. Der Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG stehe der Abschiebung des ledigen und kinderlosen Antragstellers nicht entgegen. Dafür, dass die Mutter gerade auf seine Hilfe angewiesen sei, sei nichts ersichtlich. Auch auf den durch Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz des Familienlebens könne sich der Antragsteller nicht berufen. Der Eingriff in das Recht des Antragstellers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens sei nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. Gegen eine gelungene Integration sprächen insbesondere die von ihm begangenen Straftaten. Die Behauptung des Antragstellers, seine Abschiebung werde zu einer dauerhaften Verschlechterung des Gesundheitszustands seiner Mutter führen, sei nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden. In dem vorgelegten Attest der Frau xx. xxxxx werde eine solche Aussage nicht zuverlässig getroffen, sondern lediglich als - allerdings wahrscheinliche - Möglichkeit in den Raum gestellt. Hinzu komme, dass das Attest keinerlei Aussagen dazu enthalte, auf welche Anknüpfungs- und Befundtatsachen die entsprechende Aussage gestützt sei.

Mit seiner Beschwerde begehrt der Antragsteller, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, seine Abschiebung vorläufig auszusetzen. Er ergänzt und vertieft sein bisheriges Vorbringen: Nach der fachärztlichen Stellungnahme der Nervenärztin, die die Mutter seit dem Jahr 2000 behandele, habe diese ein besonders inniges Verhältnis zu dem Antragsteller. Zu Unrecht habe das Verwaltungsgericht eine Beistandsgemeinschaft verneint. Was das Recht auf Achtung des Privatlebens angehe, sei von einer völligen Entfremdung von den Lebensverhältnissen in der Türkei auszugehen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass das in den Personalpapieren vermerkte Geburtsdatum (01.01.1985) unzutreffend sei. Tatsächlich sei er im Juli 1996 geboren und daher bei seiner Ausreise erst 10 Jahre alt gewesen. Nach der letzten Straftat habe er sein Leben grundsätzlich neu ausgerichtet und sich insbesondere einen neuen Freundeskreis aufgebaut. Er lebe seit eineinhalb Jahren in einer festen Beziehung und habe sich von seiner früheren Delinquenz deutlich distanziert. Soweit im angefochtenen Beschluss Zweifel anklängen, ob von einer konkreten Suizidgefahr seiner Mutter ausgegangen werden könne, sei dem entgegenzuhalten, dass sich die Suizidalität wie ein roter Faden durch die Krankheitsgeschichte seiner Mutter ziehe.

Der Antragsgegner ist der Beschwerde entgegengetreten. Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und führt ergänzend aus, die Suizidalität der Mutter könne kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in der Person des Antragstellers begründen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die dem Senat vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsakten und die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

1. Wie sich aus dem Nachstehenden ergibt, hat die Beschwerde hinreichende Erfolgsaussicht. Dem Antragsteller ist mithin für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof gemäß § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO Prozesskostenhilfe gegen Ratenzahlung zu gewähren, weil er - wie sich aus seiner dahingehenden Erklärung ergibt - nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nur im Umfang der festgesetzten Raten aufbringen kann (vgl. § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 115, 117 Abs. 2 und Abs. 4 ZPO). Der Antragsteller verfügt über ein Bruttoeinkommen von x.xxx,xx EUR. Hiervon sind abzusetzen die in § 82 Abs. 2 SGB XII bezeichneten Beträge (Lohnsteuer, Rentenversicherung, Fahrtkosten, zusammen xxx,xx EUR), der Erwerbstätigenfreibetrag gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 b ZPO in Höhe von xxx,xx EUR, der Unterhaltsfreibetrag gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 a ZPO in Höhe von xxx,xx EUR und der auf ihn entfallende Anteil der Unterkunftskosten von xxx,xx EUR (§ 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 ZPO). Nicht abzusetzen sind demgegenüber die geltend gemachten Verpflegungskosten sowie die lediglich behauptete, aber nicht glaubhaft gemachte Ratenzahlungsverpflichtung aus einer Geldstrafe in Höhe von monatlich xxx,xx EUR. Dem Antragsteller verbleibt demnach ein einzusetzendes Einkommen in Höhe von xx,xx EUR monatlich, so dass gemäß § 115 Abs. 2 ZPO monatliche Raten von xx,xx EUR festzusetzen sind.

2. Die fristgerecht erhobene und begründete sowie inhaltlich den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechende Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Der Antragsteller hat sowohl das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - der Antragsgegner beabsichtigt, ihn abzuschieben -, als auch die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO, §§ 920, Abs. 2, 294 ZPO). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts geht der Senat bei der im Eilverfahren allein angezeigten und möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass der Antragsteller auch weiterhin zumindest einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG besitzt. Seine Abschiebung ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil der damit einhergehende Eingriff in sein Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein dürfte. Ob dem Antragsteller deshalb auch eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt werden muss oder kann und ob insoweit im Lichte aufenthaltsrechtlicher Schutzwirkungen aus Art. 8 EMRK trotz der rechtskräftigen Verurteilungen auch von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden muss (vgl. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG), bedarf im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keiner Klärung.

a) Die beabsichtigte Abschiebung dürfte entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht nur in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens, sondern auch in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreifen. Bei Beziehungen zwischen nahen Verwandten außerhalb der klassischen Kleinfamilie kommt es darauf an, ob die tatsächlich bestehenden Bindungen hinreichend für die Annahme einer familiären Beziehung sind. Beziehungen zwischen Erwachsenen unterliegen nicht notwendig dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Ausprägung als Recht auf Achtung des Familienlebens. Es müssen besondere zusätzliche Aspekte der Abhängigkeit hinzutreten, die weiter reichen als normale affektive Beziehungen (EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147 Rn. 44 m.w.N.; Urt. v. 15.07.2003 - Nr. 52206/99 [Mokrani] - InfAuslR 2004, 183; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., § 22 Rn. 18 m.w.N.). Art. 8 EMRK vermittelt insoweit grundsätzlich keinen weitergehenden Schutz als Art. 6 GG bei familiären Beziehungen unter Volljährigen. Bei jungen Erwachsenen, die - wie der Antragsteller - nach Erreichen der Volljährigkeit weiterhin mit ihren Eltern in häuslicher Gemeinschaft leben, geht der EGMR allerdings davon aus, dass auch ihre Beziehung zu den Eltern und anderen nahen Familienmitgliedern Familienleben darstellt und aufenthaltsbeendende Maßnahmen daher auch in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingreifen (Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333). Der Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens dürfte hier auch deshalb eröffnet sein, weil die Beziehung des Antragstellers zu seiner psychisch schwer kranken Mutter ausweislich der vorgelegten fachärztlichen Bescheinigungen sehr innig ist und jedenfalls über das Normalmaß affektiver Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern weit hinausgeht (vgl. zu diesem Aspekt auch EGMR, Urt. v. 28.06.2007 - Nr. 31753/02 [Kaya] - InfAuslR 2007, 325 Rn. 58).

Daneben dürfte die beabsichtigte Abschiebung in das Recht auf Achtung des Privatlebens eingreifen. Der EGMR geht insoweit von einem weiten Begriff des "Privatlebens" aus, dessen Schutzbereich auch das "Recht auf Entwicklung einer Person" sowie das Recht, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu entwickeln und damit letztlich die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts - hier Deutschland - "gewachsenen Bindungen" umfasst. Allerdings darf die Vorschrift nicht so ausgelegt werden, als verbiete sie allgemein eine gegebenenfalls auch zwangsweise Aufenthaltsbeendigung bei Ausländern bereits deswegen, weil diese sich eine bestimmte Zeit im Aufnahmeland aufgehalten haben. Eine Aufenthaltsbeendigung kann vielmehr nur dann einen Eingriff in das "Privatleben" im Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, wenn der Ausländer aufgrund seines (längeren) Aufenthalts über "starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte" zum "Aufnahmestaat" verfügt, so dass er aufgrund der Gesamtentwicklung "faktisch zu einem Inländer" geworden ist. Nachdem der Antragsteller seit seinem 10. oder 11. Lebensjahr in Deutschland lebt, hier den überwiegenden Teil seiner Schulzeit verbracht und den Hauptschulabschluss erlangt hat, seit über vier Jahren über einen festen Arbeitsplatz verfügt und von Sozialleistungen unabhängig ist, er die deutsche Sprache beherrscht, über einen festen - auch deutschen - Freundeskreis verfügt und weitere Integrationsleistungen in Form von Vereinsaktivitäten aufweisen kann, können die für die rechtliche Annahme eines im Bundesgebiet geführten Privatlebens erforderlichen Bindungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht kaum verneint werden. Hinzu kommt, dass sowohl seine Eltern als auch seine Geschwister über gesicherte Aufenthaltsrechte verfügen. Wie sich hinreichend etwa aus den neueren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Sachen "Sisojeva I und II" (EGMR, Urteile vom 16.06.2005 und 15.01.2007, EuGRZ 2006, 554 und InfAuslR 2007, 140) sowie "Rodrigues da Silva und Hoogkamer" (EGMR, Urteil vom 31.01.2006, EuGRZ 2006, 562) ergibt, kommt es im Rahmen des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK wohl nicht entscheidungserheblich darauf an, ob der Ausländer über einen zumindest vorübergehenden legalen Aufenthalt verfügte (offen gelassen im Urteil vom 08.04.2008 - Nr. 21878/06 - "Nnyanzi"); der Schutzbereich dieses Menschenrechts dürfte vielmehr auch bei nur Geduldeten eröffnet sein können (Senatsbeschlüsse vom 25.10.2007 - 11 S 2091/07 - InfAuslR 2008, 29 = VBlBW 2008, 114 = NVwZ 2008, 344 und vom 03.11.2008 - 11 S 2235/08 - InfAuslR 2009, 72; ebenso Burr in GK-AufenthG, § 25 AufenthG Rn. 150; HK-AuslR/Fränkel, § 25 AufenthG Rn. 56; Benasssi, InfAuslR 2006, 397 <401 f.>; Hoppe, ZAR 2006, 125; Marx, ZAR 2006, 261 <266>; a.A. wohl Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 17.07.2008 - 8 ME 42/08 - juris und Storr in Storr u.a., ZuwG, 2. Aufl., § 25 AufenthG Rn. 31). Auch die von dem Antragsteller begangenen Straftaten, bei denen es sich überwiegend um Jugendstraftaten handelt, stellen seine gesellschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet nicht ernsthaft in Frage.

Ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK dürfte zu bejahen sein, weil die hier asylverfahrensrechtlich begründete Ausreisepflicht durchgesetzt, d.h. der Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland durch Abschiebung beendet werden soll. Der Senat geht - wie inzwischen wohl auch der Antragsteller - davon aus, dass diesem wegen der begangenen Straftaten weder ein aus der Anordnung des Innenministeriums nach § 23 AufenthG vom 20.11.2006 (Az.: 4-1340/29; vgl. insbesondere Nr. 3.3) ermöglichtes Bleiberecht noch ein Aufenthaltsrecht nach der gesetzlichen Altfallregelung des § 104 a AufenthG zusteht, weswegen eine aufenthaltsrechtliche Legalisierung seines Familien- und Privatlebens im Bundesgebiet insoweit ausgeschlossen sein dürfte.

Gleichwohl ergibt sich aus der Existenz der Bleiberechts- und Altfallregelungen keine hier relevante Sperrwirkung. Vielmehr bleibt neben den dort geregelten generalisierten Fallkonstellationen Raum für hiervon losgelöste Einzelfallabwägungen, auch bei einer Entscheidung über das Vorliegen eines zwingenden Duldungsgrundes nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (Senatsbeschlüsse vom 25.10.2007 - 11 S 2091/07 - und vom 03.11.2008 - 11 S 2235/08 - a.a.O. m.w.N.). Etwas anderes wäre gerade im Falle von Straftätern mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. die Nachweise in BVerfG, Beschluss vom 01.03.2004 - 2 BvR 1570/03 - NVwZ 2004, 852 = InfAuslR 2004, 280 = EuGRZ 2004, 317) nicht vereinbar.

b) Der Eingriff in das geschützte Familien- und Privatleben des Antragstellers dürfte im konkreten Einzelfall im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, weil unverhältnismäßig sein. Die Notwendigkeit des Eingriffs ist bei dem im Alter von 10 oder 11 Jahren eingereisten Antragsteller nach ähnlichen Kriterien zu prüfen, wie sie normalerweise bei Einwanderern der zweiten Generation angewendet werden (EGMR, Urt. v. 27.10.2005 - Nr. 32231/02 [Keles] - InfAuslR 2006, 3 Rn. 56). Insoweit ist insbesondere das öffentliche Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) mit dem Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten Bindungen im Bundesgebiet abzuwägen. Erforderlich ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Beachtung der vom EGMR entwickelten Kriterien, die im Wesentlichen in den Entscheidungen Boultif und Üner zusammengefasst worden sind (EGMR, Urt. v. 02.08.2001 - Nr. 54273/00 [Boultif] - InfAuslR 2001, 476; Urt. v. 05.07.2005 - Nr. 46410/99 [Üner] - InfAuslR 2005, 450 = DVBl 2006, 688). Dabei kommt es zunächst auf den jeweiligen Grad der "Verwurzelung" an; je stärker der Betroffene im Aufenthaltsstaat integriert ist, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen (vgl. auch EGMR, Urteil vom 22.06.2006 - Nr. 59643/00 - "Kaftailova"). Weiter ist auf den Grad der "Entwurzelung" abzustellen, d. h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Herkunftsstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und den dort lebenden und aufnahmebereiten Verwandten. Schließlich können im Rahmen der Schrankenprüfung sonstige Faktoren Berücksichtigung finden, etwa ob der Aufenthalt des Betroffenen zumindest vorübergehend legal war und damit - i.S. einer "Handreichung des Staates" - schutzwürdiges Vertrauen auf ein Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte.

Gemessen daran dürfte das Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung seiner familiären und privaten Bindungen im Bundesgebiet das öffentliche Interesse insbesondere an Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von straffälligen Ausländern voraussichtlich überwiegen. Aufgrund seiner Einreise im Grundschulalter, der Erlangung eines Schulabschlusses, seinen familiären und sonstigen sozialen Bindungen und seiner Berufstätigkeit ist von einer weitreichenden "Verwurzelung" des Antragstellers in Deutschland auszugehen. Zu berücksichtigen ist insoweit auch, dass seine Eltern und Geschwister bereits ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet erlangt haben. Zu den engen familiären Bindungen des Antragstellers insbesondere zu seiner psychisch schwer kranken Mutter treten die sozialen Kontakte zu Deutschen und die weiteren Integrationsleistungen (Tätigkeit in Vereinen) hinzu.

Auch die Folgen einer Aufenthaltsbeendigung für die Mutter des Antragstellers können in diesem Zusammenhang nicht völlig ausgeblendet werden. Die Mutter des Antragstellers ist, wie im Beschwerdeverfahren durch Vorlage mehrerer ärztlicher Bescheinigungen jedenfalls für das Eilverfahren hinreichend glaubhaft gemacht wurde, seit dem Jahr 2000 wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit rezidivierenden schweren Depressionsphasen und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung in psychiatrischer Behandlung. Das fachärztliche Attest vom 05.12.2008 geht von einer ernsthaften Suizidgefahr aus und stuft die Gefahr einer dauerhaften Verschlechterung und Chronifizierung der psychischen Erkrankungen der Mutter als "sehr wahrscheinlich" ein. Für den Fall der Abschiebung des Antragstellers müsse eine erneute stationäre Einweisung der Mutter - die ausweislich der vorgelegten ärztlichen Zeugnisse bereits im August/September 2004 sowie vom 08.06. bis 02.08.2006 in stationärer Behandlung war - in das Zentrum für Psychiatrie erfolgen. Verbleibende Restzweifel an den fachärztlich prognostizierten Auswirkungen einer Abschiebung des Antragstellers auf den Gesundheitszustand seiner Mutter können gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens beseitigt werden.

Der Senat verkennt auf der anderen Seite nicht, dass der Antragsteller in erheblichem Maße straffällig geworden ist. Die Straftaten können allerdings zumindest überwiegend noch als Jugendverfehlungen betrachtet werden (vgl. EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - Nr. 52853/99 [Yilmaz] - NJW 2004, 2147 Rn. 46). Legt man zugrunde, dass der Antragsteller, wie er im Beschwerdeverfahren durch Vorlage eidesstattlicher Versicherungen seiner Eltern und seiner ältesten Schwester glaubhaft gemacht hat, nicht am 01.01.1985, sondern im Juli 1986 geboren wurde, war er auch bei Begehung der letzten Straftat am 04.02.2007 noch Heranwachsender. Von Bedeutung ist auch, dass der Antragsteller nicht wegen Betäubungsmitteldelikten und - abgesehen von einer am 05.09.2004 begangenen versuchten gefährlichen Körperverletzung - nicht wegen Gewaltdelikten verurteilt wurde (vgl. EGMR, Urt. v. 23.06.2008 - Nr. 1638/03 [Maslov II] - InfAuslR 2008, 333). Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Amtsgericht Freiburg dem Antragsteller eine positive Sozialprognose gestellt und die zuletzt verhängte Freiheitsstrafe daher zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Straffälligkeit des Antragstellers bewegt sich damit in einem Rahmen, der bei einem im gleichen Alter wie der Antragsteller im Wege des Familiennachzugs eingereisten Ausländer im Regelfall nicht zur Aufenthaltsbeendigung führen, sondern nur eine weitere Verfestigung durch Erteilung einer Niederlassungserlaubnis verhindern würde. Dieser Personenkreis fällt unter die Bestimmungen des § 35 AufenthG. Mit § 35 Abs. 1 AufenthG wollte der Gesetzgeber aus integrationspolitischen Gründen Personen, die in Deutschland einen großen Teil ihrer Jugend und Schulzeit verbracht haben, unter erleichterten Voraussetzungen eine Aufenthaltsverfestigung ermöglichen. Allerdings besteht nach § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG kein Rechtsanspruch auf die Niederlassungserlaubnis, wenn der Ausländer in den letzten drei Jahren zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verurteilt worden ist. Nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist bei in Deutschland aufgewachsenen Ausländern, die zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden sind, in der Regel die Aufenthaltserlaubnis bis zum Ablauf der Bewährungszeit zu verlängern. Diese Vorschrift, die bei in Deutschland aufgewachsenen Ausländern mit legalisiertem Aufenthalt dem Schutzzweck des Art. 8 EMRK Rechnung trägt, führt demnach bei Straftaten, wie sie hier in Rede stehen, im Regelfall nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung.

Bisher hat der Antragsteller die vom Strafgericht getroffene positive Prognose bestätigt. Ausweislich der im Beschwerdeverfahren vorgelegten Berichte der Jugendberatung xxxxxxxx e.V. ist der Antragsteller seit der Begehung seiner Straftaten erheblich gereift, hat seit dem letzten Delikt keinen Kontakt mehr zu seinen alten Freunden und distanziert sich deutlich von seinen damaligen Straftaten. Diese Einschätzung wird gestützt durch die Bescheinigung des Arbeitgebers vom 12.01.2009, in welcher dem Antragsteller, der seit 2008 die Funktion eines Vorarbeiters übernommen hat, ein hohes Maß an Verlässlichkeit attestiert wird. Bei einer Gesamtschau ergeben sich damit für den Senat greifbare Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller mit seiner (jugend-)kriminellen Vergangenheit abgeschlossen und als Erwachsener begonnen hat, diese aufzuarbeiten.

Nachdem der Antragsteller seit seiner Ausreise nicht mehr in der Türkei gewesen ist, dort keine nahen Verwandten hat, diese vielmehr alle in Deutschland leben, er der kurdischen Minderheit angehört und ihm im kurmancisprachigen Elternhaus auch die türkische Sprache nicht vermittelt worden ist, kann auch eine weitreichende "Entwurzelung" angenommen werden.

Dass der Aufenthalt des Antragstellers nie legalisiert war, ist zwar im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, fällt aber letztlich nicht entscheidend ins Gewicht. Angesichts der skizzierten konkreten Verwurzelungs- und Entwurzelungssituation erscheint der mit der Abschiebung verbundene Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK in der Gesamtabwägung derzeit unverhältnismäßig. Hierfür spricht zudem, dass der Antragsteller nach einer Abschiebung keine realistische Möglichkeit haben dürfte, in absehbarer Zeit legal wieder in das Bundesgebiet einzureisen. Die für sein Privatleben konstitutiven Beziehungen könnten bei einer Abschiebung mithin gegebenenfalls irreparabel beschädigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - InfAuslR 2007, 275 = NVwZ 2007, 946).

Sollten sich vor einer Entscheidung in der Hauptsache neue wesentliche Umstände ergeben (bspw. eine erneute Straffälligkeit des Antragstellers), könnte diesen Umständen im Rahmen eines Abänderungsverfahrens analog § 80 Abs. 7 VwGO Rechnung getragen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 Nr. 1, 39 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

Zurück