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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 09.07.2003
Aktenzeichen: 11 S 420/03
Rechtsgebiete: AuslG, ENA, StGB


Vorschriften:

AuslG § 45
AuslG § 46 Nr. 2
AuslG § 48
ENA Art. 3 Abs. 1
ENA Art. 3 Abs. 3
StGB § 56
StGB § 176a Abs. 1 Nr. 1
1. Zu den Kriterien und den unterschiedlichen Anforderungen an die Wiederholungsgefahr (Wahrscheinlichkeit) bei einer Ermessensausweisung nach §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG von Straftätern ohne besonderen Ausweisungsschutz und solchen mit besonderem Ausweisungsschutz - hier: nach Art. 3 Abs. 3 ENA bzw. nach § 48 Abs. 1 AuslG.

2. Straftaten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176a Abs.1 StGB gehören zu den Deliktsgruppen, die regelmäßig auch nach dem Maßstab des Art. 3 Abs. 3 ENA die Ausweisung aus generalpräventiven Gründen rechtfertigen.


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

11 S 420/03

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Ausweisung und Abschiebungsandrohung

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schaeffer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Jakober und die Richterin am Verwaltungsgericht Fabian auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. Juli 2003

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 12. Juli 2002 - 1 K 1234/02 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am 19.2.1927 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist seit 1950 verheiratet und hat 6 Söhne und 3 Töchter. Die Töchter und ein Sohn leben mit eigenen Familien in Deutschland, die übrigen Söhne leben in der Türkei. Der Kläger kam erstmals 1963 bis 1965 als Gastarbeiter nach Deutschland. 1971 reiste er - zunächst allein - wieder in das Bundesgebiet ein und arbeitete, mit Unterbrechungen, bei verschiedenen Firmen. Nach 1973 holte er seine Ehefrau und seine Kinder nach. Seit 1995 ist der Kläger Rentner mit einer monatlichen Rente von ca. 310,--- EUR. Er wird von seinen Kindern finanziell unterstützt, die Ehefrau war nie berufstätig. Der Kläger erhielt seit dem 20.9.1971 befristete Aufenthaltserlaubnisse. Am 11.6.1980 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Auch seine Ehefrau ist im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.

Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Mannheim vom 27.4.2000 wurde der Kläger wegen Ladendiebstahls zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen verurteilt.

Durch Urteil des Landgerichts Mannheim vom 11.12.2001 wurde der Kläger wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt; die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Gegenstand der Verurteilung war folgender Tathergang:

"Am Nachmittag des 21.3.2001 klingelte die achtjährige M......, ein im gleichen Stockwerk lebendes Nachbarskind, dessen Alter dem Angeklagten bekannt war, da er es seit seiner Geburt kannte, an der Tür der Wohnung des Angeklagten in der J.-B.-Straße und fragte, ob sie, wie auch schon häufiger in der Vergangenheit, mit E..., der Enkelin des Angeklagten, die dieser oft beaufsichtigte, spielen könne. Nachdem der Angeklagte M... in die Wohnung gelassen hatte, zog er sich vollständig aus. Sodann zog er die Hose und die Unterhose des Mädchens herunter, schob ihr den Pulli nach oben, und fasste ihr zunächst an die Brust und zwickte hinein und leckte an der Brust, dem Po und dem Geschlechtsteil des Kindes. In der Folge führte der Angeklagte einen Finger in die Vagina von M... ein. Er forderte sie auf, ihre Zunge herauszustrecken, woraufhin der Angeklagte ihre Zunge mit seiner berührte. Während der Angeklagte erklärte, dass M... ein sehr hübsches Mädchen sei, musste sie sich auf den Angeklagten legen und seinen Penis in den Mund nehmen. Im Anschluss daran legte sich der Angeklagte so auf das Mädchen, dass sich ihre Geschlechtsteile berührten und ejakulierte dabei."

Im Urteil ist ausgeführt, der Kläger, der seit vier Jahren keinen Geschlechtsverkehr mehr mit seiner ebenfalls unter gesundheitlichen Problemen leidenden Ehefrau gehabt habe, leide unter Potenzstörungen, die trotz aufwändiger ärztlicher Diagnostik nicht hätten behoben werden können. Da der Kläger "noch über reges sexuelles Interesse" verfüge, quäle und beschäftige ihn dies sehr.

Bei der Strafbemessung würdigte das Landgericht zum Nachteil des Klägers die "ins Gewicht fallende Tatintensität" und zu seinen Gunsten sein Geständnis, durch das er dem Kind eine Vernehmung in der Hauptverhandlung erspart und "durch das er Einsicht in sein Fehlverhalten gezeigt" habe; ferner würdigte das Gericht günstig die durch sein Alter, seinen Gesundheitszustand und die mangelnden Deutschkenntnisse bedingte Haftempfindlichkeit sowie den Umstand, dass er trotz eines schwierigen Lebenswegs ein sozial angepasstes Leben geführt habe und nicht vorbestraft sei. Zur Begründung der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung wurde auf § 56 StGB verwiesen. Mit Beschluss vom 11.12.2001 setzte das Landgericht die Bewährungszeit auf zwei Jahre fest; gleichzeitig wurde dem Kläger aufgegeben, jeden Wohnsitzwechsel unverzüglich mitzuteilen und ihm wurde untersagt, Kinder in seine Wohnung einzulassen, wenn er sich in dieser allein ohne Anwesenheit Erwachsener aufhalte, und allein Kinder zu beaufsichtigen. Mit späterem Beschluss vom 7.6.2002 wurde dem Kläger zusätzlich aufgegeben, das Anwesen J.B.- Straße, in dem sich seine bisherige Wohnung befand, nicht mehr zu betreten und sich nicht in der Umgebung der J.B.- Straße aufzuhalten.

Mit Verfügung vom 25.3.2002 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise (innerhalb eines Monats nach Vollziehbarkeit der Verfügung) die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen zur Aufnahme bereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat an. Zur Begründung wurde ausgeführt: Der Kläger erfülle aufgrund der letzten Verurteilung den Ausweisungstatbestand des § 45 Abs. 1 i.V.m. § 46 Nr. 2 AuslG. Besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 AuslG genieße er nicht. Auch Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens - ENA - stehe der Ausweisung nicht entgegen, da ein schwerwiegender Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinn dieser Vorschrift vorliege. Das dem Urteil wegen sexuellen Missbrauchs zugrundeliegende Fehlverhalten stelle einen Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht dar. Auch die im Hinblick auf die spezialpräventive Zielsetzung zu fordernde ernsthaft drohende Gefahr neuer Verfehlungen sei gegeben, wobei sich das erforderliche Maß an Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungsgefahr nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimme und deshalb bei Straftaten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern geringer als in anderen Fällen anzusetzen sei. Entscheidend für die Annahme einer Wiederholungsgefahr sei, dass der Kläger im Strafverfahren selbst angegeben habe, noch über ein reges sexuelles Interesse zu verfügen, das ihn sehr quäle und beschäftige. Die Tatsache der Strafaussetzung zur Bewährung stehe der Bejahung der Wiederholungsgefahr nicht entgegen, da dieser Maßnahme weitgehend andere Zwecke als dem Ausländerrecht zugrunde lägen. Dass der Kläger sich durch sein Alter und seinen Gesundheitszustand von weiteren Übergriffen auf Kinder abhalten lasse, erscheine unwahrscheinlich. Unabhängig davon lasse sich auch aufgrund gesicherter kriminologischer Erkenntnisse eine entfernte Möglichkeit weiterer einschlägiger Straftaten nicht ausschließen. Da der sexuelle Missbrauch von Kindern besonders verwerflich sei, reiche hier bereits aus, dass eine Wiederholungsgefahr nicht auszuschließen sei; dies sei beim Kläger der Fall. Neben der - selbst tragenden - Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen sei die Ausweisung auch aus generalpräventiven Gründen erforderlich und geboten. Die Abschreckungswirkung der Ausweisung auf andere Ausländer bei Sittlichkeitsdelikten sei anerkannt. Ob dem Kläger Rechte aus Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 zustünden, könne offen bleiben, da die Ausweisung jedenfalls durch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gerechtfertigt sei, dessen Gefahrenbegriff nicht höher als bei § 48 Abs. 1 AuslG und Art. 3 Abs. 3 ENA anzusiedeln sei. Die Ausweisung sei auch unter Berücksichtigung der persönlichen und durch Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Klägers verhältnismäßig. Der in der Türkei aufgewachsenen Ehefrau sei es zuzumuten, dem Kläger in die Türkei zu folgen. Auch die beim Kläger diagnostizierten Krankheiten (Hypertonie, Linksherzinsuffizienz, Koronare Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen, chronische obstruktive Lungenerkrankung, Hypercholesterinämie, Diabetes mell. II, Prostatahypertrophie, Refluxerkrankung) stünden der Ausweisung nicht entgegen. Es handle sich hierbei um typische Alterserkrankungen, die auch in der Türkei im dortigen Gesundheitssystem behandelbar seien. Da der Kläger in der Türkei ein Haus besitze und Rente beziehe, sei davon auszugehen, dass eine Behandlung und der Bezug der erforderlichen Medikamente ohne weiteres möglich sei, selbst wenn die in der Türkei lebenden Kinder es ablehnten, den Kläger aufzunehmen und zu versorgen. Die Versorgung könne auch die Ehefrau nach der gemeinsamen Rückkehr übernehmen. Besondere Eingliederungsschwierigkeiten seien beim Kläger nicht zu erwarten.

Mit seiner am 22.4.2002 erhobenen Klage ließ der Kläger zusammengefasst vortragen: Der Kläger zeige in letzter Zeit nach Angaben von Familienangehörigen immer wieder Verwirrtheitszustände, die möglicherweise auf sein Alter zurückzuführen seien. Er sei daher über kurz oder lang auf familiäre Hilfe angewiesen. Die achteinhalbmonatige Untersuchungshaft habe den Kläger stark beeindruckt. Die nach Art. 3 Abs. 3 ENA erforderliche gesteigerte Wiederholungsgefahr sei beim Kläger daher nicht gegeben. Durch das Geständnis habe er sich von seiner Tat distanziert. All dies habe das Landgericht aufgrund eines persönlichen Eindrucks des Klägers festgestellt. Er habe sich nach Ende des Strafverfahrens und der Haftentlassung zudem erfolgreich um eine neue Wohnung bemüht, um räumliche Distanz zu dem geschädigten Mädchen herzustellen. Durch die Bewährungsauflagen des Landgerichts sei eine Wiederholung ähnlicher Straftaten mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen. Die Tatsache der Potenzstörungen und des fortbestehenden "regen sexuellen Interesses" könne die erforderliche Wiederholungswahrscheinlichkeit nicht begründen. Angesichts des erhöhten Ausweisungsschutzes komme auch eine generalpräventiv begründete Ausweisung nur sehr eingeschränkt und ausnahmsweise unter strenger Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Betracht. Hieran fehle es angesichts der Strafaussetzung zur Bewährung und des langjährigen Aufenthalts des Klägers in Deutschland. In der Ausweisungsverfügung würden zudem Verurteilungen und Straftaten herangezogen, die nicht mehr verwertbar seien. Ein Zentralregisterauszug vom 17.5.2001 sei frei von Eintragungen. In persönlicher Hinsicht habe der Kläger zwar noch familiäre Beziehungen in die Türkei. Diese seien aber nicht so ausgeprägt wie die persönlichen Beziehungen in Deutschland. Die Ehefrau des Klägers sei ebenfalls erheblich krank. Sie leide an chronischer Bronchitis, Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz, erhöhtem Blutdruck, Osteoporose, Arthrose, Sehbehinderung auf einem Auge und an Urininkontinenz; gleichzeitig habe sie zwei Bandscheibenvorfälle erlitten und sei zur Fortbewegung auf eine Gehhilfe angewiesen. Die in Mannheim lebende Tochter H., eine ausgebildete Altenpflegerin, könne adäquate Hilfe leisten. Die Behandlung der Krankheitsbilder des Klägers und seiner Ehefrau sei über kurz oder lang in der Türkei nicht gesichert. Dies gelte auch für die finanziellen Mittel. Zudem seien die in der Türkei lebenden Kinder nicht bereit, sich über einen längeren Zeitraum um den Kläger zu kümmern. Er sei daher auch auf die Hilfe seiner Angehörigen in Deutschland angewiesen.

Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat die Klage mit Urteil vom 12.7.2002 - 1 K 1234/02 - abgewiesen. Im Urteil ist ausgeführt: Die Ausweisung des Klägers aus spezialpräventiven Grünen sei nicht zu beanstanden. Der Kläger habe ein Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern begangen. Dieses begründe einen schwerwiegenden Ausweisungsanlass. Auch die Abweichung von der Zukunftsprognose des Strafgerichts hinsichtlich der Gefahr weiterer Straftaten könne nicht beanstandet werden. Angesichts des vor dem Landgericht geschilderten Leidensdrucks des Klägers (Potenzstörungen, gleichwohl noch reges sexuelles Interesse) könne es durchaus noch zu weiteren einschlägigen Verfehlungen kommen. Der Kläger habe die Problematik auch nicht aufgearbeitet. Im Übrigen sei an das Maß der Wiederholungsgefahr mit zunehmender Schwere der zu erwartenden Straftaten eine geringere Wiederholungswahrscheinlichkeit zu stellen. Daher reiche beim Kläger eine hinreichende Wahrscheinlichkeit aus, die zu bejahen sei. Die Ausweisung des Klägers sei aber auch aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Er habe einen besonders schwerwiegenden Verstoß im Sinne von Art. 3 Abs. 3 ENA begangen. Als Reaktion hierauf sei die Ausweisung verhältnismäßig. Der Kläger könne sich ohne Schwierigkeiten wieder in der Türkei einleben. Er habe im Strafverfahren angegeben, nur wegen des Gesundheitszustands seiner Ehefrau, der besseren ärztlichen Versorgung in Deutschland und wegen der geringen Rente nicht freiwillig in die Türkei zurückzukehren. In der Türkei könne er selbst bei Vermögenslosigkeit ausreichend medizinisch betreut werden. Notfalls könnten er und seine Ehefrau von den 5 in der Türkei lebenden Söhnen unterstützt werden. Familiäre Hilfe habe in der Türkei eine große Tradition.

Gegen dieses am 6.8.2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 5.9.2002 die Zulassung der Berufung beantragt und diesen Antrag am 7.10.2002 (Montag) begründet. Er hat vorgetragen: Das Verwaltungsgericht habe den ihm nach Art. 3 Abs. 3 ENA zustehenden Ausweisungsschutz verkannt. Insbesondere liege die erforderliche Wiederholungsgefahr aus den schon bisher vorgetragenen Gründen nicht vor; die bloß entfernte Möglichkeit eines Gefahreneintritts reiche nicht aus. Der Kläger habe in Deutschland einen starken familiären Rückhalt, der auch als Kontrolle wirke. Im Hinblick auf den generalpräventiven Zweck sei die Ausweisung wegen des Schutzes nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK unverhältnismäßig. Auf die Probleme der Ehefrau bei der medizinischen Behandlung werde erneut hingewiesen. In Adana gebe es ein Krankenhaus, das krankenversicherte Personen ohne zusätzliche - privat zu tragende - Kosten behandle. Der Ehefrau sei die Anfahrt und das stundenlange Warten dort aber nicht zuzumuten. Für Hausbesuche und Pflegehilfsmittel müsse sie privat aufkommen, ebenso anteilsmäßig für Medikamente (Eigenanteil von 15 - 25 %).

Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 20.2.2003, zugestellt am 28.2.2003, wegen tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage zugelassen, ob beim Kläger angesichts der Besonderheiten des Falls in spezialpräventiver Hinsicht die nach Art. 3 Abs. 3 ENA erforderliche Wiederholungsgefahr gegeben ist und ob gegebenenfalls zusätzlich die Voraussetzungen für eine generalpräventive Ausweisung vorliegen.

In seiner am 28.3.2003 eingegangenen Berufungsbegründung wiederholt und vertieft der Kläger sein Vorbringen, dass bei ihm die nach Art. 3 Abs. 3 ENA zu fordernde gesteigerte Wiederholungsgefahr hinsichtlich weiterer Verfehlungen nicht vorliege. Die Ausländerbehörde wie das Verwaltungsgericht hätten der Tatsache der Bewährungsaussetzung nicht das erforderliche Gewicht beigemessen. Überzeugende Gründe, von der Prognose des Strafgerichts abzuweichen, lägen nicht vor. Der vom Strafgericht nach § 56 StGB anzulegende Prognosemaßstab unterscheide sich im vorliegenden Fall nicht von dem ordnungsrechtlichen Maßstab. Das Landgericht habe trotz der Potenzstörung des Klägers und trotz fortbestehenden sexuellen Interesses aufgrund des gewonnenen persönlichen Eindrucks eine Bewährungsstrafe bejaht und mit den beschlossenen Bewährungsauflagen zudem eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen. Auf die rein statistische Wiederholungswahrscheinlichkeit bei Sexualdelikten könne nicht zurückgegriffen werden. Dies sei schon methodisch bedenklich. Er habe seit seiner letzten Verurteilung keine neuen Straftaten mehr begangen. Im Hinblick auf die generalpräventive Ausweisung müsse die Straftat besonders schwer wiegen und sei nur ausnahmsweise zulässig. Diese Voraussetzungen könnten angesichts der Strafaussetzung zur Bewährung nicht bejaht werden, wie sich aus der gesetzlichen Wertung in § 26 Abs. 3 Satz 3 AuslG ergebe. Zudem komme aus kriminologischer Sicht der Verurteilung alter Menschen kaum ein generalpräventiver Aspekt zu. In der Ausweisung werde auch gegen das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG verstoßen. Der Kläger sei in persönlicher Hinsicht sowohl wirtschaftlich als auch sozial in der Bundesrepublik Deutschland verwurzelt. Seine in der Türkei lebenden Kinder hätten sich wegen des Strafverfahrens von ihm abgewandt. Auf die medizinischen Versorgungs- und Finanzierungsprobleme bei seiner Ehefrau werde erneut hingewiesen. Der Kläger sei nicht Eigentümer eines Hauses in der Türkei; diese Haus gehöre vielmehr seiner in Deutschland lebenden Tochter H.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 12. 7.2002 - 1 K 1234/02 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 25.3.2002 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erwidert, dass das erforderliche Maß an Wiederholungswahrscheinlichkeit beim Kläger zu bejahen sei. Der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern sei ein Delikt, bei dem geringere Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit zu stellen seien. Aus den Gründen der angefochtenen Verfügung sei die Ausweisung auch generalpräventiv gerechtfertigt und nicht unverhältnismäßig.

In der mündlichen Verhandlung war der Kläger nicht anwesend.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere fristgerecht begründet worden (§ 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) und die Begründung wird auch den inhaltlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, Darlegung der Berufungsgründe) gerecht (§ 124a Abs. 6 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 VwGO). Sie greift zwar Elemente des Zulassungsantrags auf, erschöpft sich jedoch nicht in deren bloßer Wiederholung und gibt zudem klar zu erkennen, dass sie die in Bezug genommenen Passagen des Zulassungsantrags (zum Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nunmehr zum Gegenstand der Berufung "umwidmen" will (zu diesen Voraussetzungen einer Berufungsbegründung vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.12.1997 - A 16 S 1934/97 -; Juris).

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die - zulässige - Anfechtungsklage des Klägers zu Recht abgewiesen. Denn die streitgegenständliche Ausweisung des - hierfür nach § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 AuslG i.V.m. § 7 Abs. 1 AAZuVO sachlich zuständigen - Regierungspräsidiums ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, 114 VwGO - dazu A. -). Dies gilt sowohl nach dem Maßstab des Ausländergesetzes, wonach die Ausweisung aus spezial- wie generalpräventiven Gründen zulässig ist (A. I.), als auch unter Berücksichtigung des dem Kläger zustehenden besonderen Ausweisungsschutzes nach Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens - ENA -, wonach die Ausweisung zumindest in generalpräventiver Hinsicht zulässig und auch unter Berücksichtigung der schützenswerten Belange des Klägers nicht unverhältnismäßig ist (A.II.). Einer Prüfung der Ausweisung dahingehend, ob sie den Anforderungen des Assoziationsabkommens EWG/Türkei in seiner Konkretisierung durch den Beschluss des Assoziationsrats vom 19.9.1980 - ARB 1/80 - (insbesondere Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80) entspricht, bedarf es nicht. Denn einen früher wohl innegehabten Status nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 hat der Kläger spätestens 1995 verloren, als er - nach Erreichung des Rentenalters - auf Dauer aus dem deutschen Arbeitsmarkt ausgeschieden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 6.6.1995 - RS C-434/93 - [Bozkurt], Nr. 39 der Entscheidungsgründe, InfAuslR 1995, 261,263). Außer der Ausweisung ist auch die Abschiebungsandrohung rechtlich nicht zu beanstanden (dazu B.).

A. I . Zutreffend hat das Regierungspräsidium die Ausweisung auf §§ 45 , 46 Nr. 2 AuslG gestützt. Danach kann ein Ausländer wegen Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen werden, wenn er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Der Kläger hat einen - gravierenden - Verstoß gegen § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB (schwerer sexueller Missbrauch von Kindern) begangen und ist deswegen auch rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern nach § 176a Abs. 1 StGB gehört nach der Einteilung des Strafgesetzbuchs zur Kategorie der Verbrechen (vgl. § 12 Abs. 1 und Abs. 3 StGB). Die ausgeworfene Freiheitsstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden. Deswegen greift der Grundtatbestand einer Ermessensausweisung ein und scheidet der - sonst gegebene - Regelausweisungsgrund nach § 47 Abs. 2 Nr. 2 AuslG aus. Außer diesem Verbrechen ist auch die Verurteilung wegen Ladendiebstahls durch Strafbefehl des Amtsgerichts Mannheim vom 27.4.2000 (Geldstrafe von 10 Tagessätzen) zu berücksichtigen. Diese Verurteilung war ins Bundeszentralregister einzutragen (§§ 4, 5 BZRG) und Tilgungsreife (hier nach 5 Jahren, vgl. §§ 45 Abs. 1, 46 Abs. 1 Nr. 1 a) BZRG) war im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (vgl. dazu etwa BVerwG, Beschluss vom 23.5.2001 - 1 B 125.00 -, NVwZ 2001, 1288 = InfAuslR 2001, 312) nicht eingetreten. Weshalb die vom Kläger vorgelegte Auskunft vom 17.5.2001 (Bl. 105 VG-Akte) auf "keine Eintragungen" lautet, lässt sich nicht nachvollziehen. Auf die letztgenannte Straftat kommt es allerdings nicht entscheidend an.

Besonderer Ausweisungsschutz nach § 48 AuslG stand dem Kläger nicht zu. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 AuslG kommen nicht zur Anwendung, da der Kläger und seine Ehefrau zwar eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzen, keiner aber im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger eingereist ist. Daher kann an dieser Stelle offen bleiben, ob beim Kläger nach Anlass und Rechtsfolgen schwerwiegende Ausweisungsgründe nach § 48 Abs. 1 AuslG vorlagen (Zur Bedeutung dieser Anforderungen im Rahmen des Ausweisungsschutzes nach Art. 3 Abs. 3 ENA siehe aber unten A II, 1.). Der Kläger konnte vielmehr nach Ermessen - unter umfassender Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Interessen mit den persönlichen und familiären, ggf. verfassungsrechtlich geschützten Belangen (§ 45 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3, Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK) - ausgewiesen werden (§ 114 VwGO). Gemessen daran ist die Ausweisung nicht zu beanstanden.

Für die Ausweisung sprechen gewichtige öffentliche Interessen. Diese liegen insoweit sowohl im Bereich der spezial- als auch der generalpräventiven Gefahrenabwehr. Die Ausweisung ist, wie im angefochtenen Bescheid insoweit zutreffend dargelegt wird, nach den Vorgaben des Ausländergesetzes aus beiden Gründen erforderlich.

1.) Die Ausweisung eines Ausländers aus spezialpräventiven Gründen dient der Vorbeugung gegen Gefahren, die - nach Würdigung seines bisherigen Verhaltens und seiner Persönlichkeit - von ihm selbst in Zukunft für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen. Hat der Ausländer Rechtsverstöße begangen, hängt die Rechtfertigung der Ausweisung von einer Gefahrenprognose, von der Einschätzung der Wiederholungswahrscheinlichkeit, ab. Grad und Ausmaß der zu verlangenden Wiederholungswahrscheinlichkeit stehen dabei nicht statisch-absolut fest, sondern sind wertend (normativ) innerhalb eines durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und durch Rechtsvorschriften gezogenen Rahmens zu ermitteln. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird durch einen das Polizei- und Ordnungsrecht bei Eingriffsakten beherrschenden und daher auch auf die ausländerrechtliche Ausweisung übertragbaren wichtigen Rechtsgedanken konkretisiert. Dieser besagt, dass der erforderliche - einen ausreichenden Ausweisungsanlass begründende - (Mindest)Grad der Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen davon abhängt, welcher Art die zu erwartenden Schäden sind und welches Ausmaß sie haben. Je größer und folgenschwerer die zu erwartenden Schäden sind, umso geringer muss die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sein.

a) Diesen Grundsatz der nach dem Schadensausmaß differenzierenden normativen oder relativen Wiederholungswahrscheinlichkeit hat die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des erkennenden Gerichtshofs bei der Beurteilung von Ausweisungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965 immer wieder betont (vgl. grundlegend etwa BVerwG, Urteil vom 26.2.1974 - 1 C 31.72 -, BVerwGE 45, 45 = NJW 1974, 807; daran anknüpfend BVerwG, Urteil vom 18.8.1983 - 1 C 131.80 -, BVerwGE 68, 101 = InfAuslR 1984, 172; Beschluss vom 17.10.1984 - 1 B 61.84 -, DVBl. 1985, 57; Beschluss vom 19.3.1990 - 1 B 27.90 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 122; ebenso VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 - 13 S 1957/86 -, VBlBW 1989, 113 und Urteil vom 29.11.1989 - 11 S 262/89 -[vom BVerwG bestätigt im o.g. Beschluss vom 19.3.1990]). Danach sind für bestimmte Fallgruppen besonders schwerer und schädlicher Delikte an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit nur geringe Anforderungen zu stellen. Zu diesen Fallgruppen gehören vor allem Gewalttaten (BVerwG, Urteil vom 18.10.1983, a.a.O [versuchte Vergewaltigung, Körperverletzung] und Beschluss vom 17.10.1984, a.a.O., sowie VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.1989 a.a.O. [versuchter Totschlag]), aber auch - wegen des hohen Rangs des gefährdeten Rechtsguts - Delikte des sexuellen Missbrauchs von Kindern (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 a.a.O). In diesen und vergleichbar gewichtigen Fällen darf die Ausweisung - bei im Übrigen rechtsfehlerfreier Ermessensausübung - schon vor der Schwelle einer konkreten Wiederholungsgefahr verfügt werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2.2.1979 - 1 B 238.78 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 59 = DVBl. 1979, 592). Ein ausreichender spezialpräventiver Ausweisungsanlass liegt bereits dann vor, wenn "lediglich eine entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten besteht" bzw. "sich eine Wiederholungsgefahr nicht ausschließen lässt" (vgl. BVerwG Beschluss vom 17.10.1984 und Urteil vom 18.10.1983 a.a.O; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 a.a.O). Ob man unter diesen Voraussetzungen die Ausweisung (schon) als Maßnahme der Gefahrenabwehr oder (noch) als Instrument der Gefahrenvorsorge versteht, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. unerheblich, da der Zweck des Ermessens nach dieser Vorschrift beide Aspekte umfasse (vgl. Beschluss vom 17.10.1984 a.a.O. unter Hinweis auf den; ebenso VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.1989 a.a.O.). Diese geminderte Wiederholungsgefahr wird gelegentlich auch als "Wiederholungsgefahr im weiteren Sinn" bezeichnet (so die Terminologie in VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.1989 a.a.O.). Sie unterliegt freilich auch Mindestanforderungen und greift dann nicht mehr ein, wenn bei Anwendung "praktischer Vernunft" neue Verfehlungen nicht (mehr) in Rechnung zu stellen sind, d.h. wenn das von dem Ausländer ausgehende Risiko bei Würdigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls letztlich kein anderes ist, als es "bei jedem Menschen mehr oder weniger besteht" (so BVerwG, Beschluss vom 17.10.1984 a.a.O.).

b) An diesen Grundsätzen der mit normativen Elementen angereicherten Wiederholungsgefahr im weiteren Sinn ist auch unter Geltung des Ausländergesetzes 1990 jedenfalls für den Grundtatbestand der "schlichten" Ermessensausweisung nach §§ 45, 46 AuslG 1990 - im Gegensatz zu den Fällen besonderen Ausweisungsschutzes - fest zu halten. Diese Ermessensausweisung unterscheidet sich nach Zweck und Voraussetzungen nicht grundlegend von der Ermessensausweisung früheren Rechts. Davon geht ersichtlich auch das Bundesverwaltungsgericht in zahlreichen Entscheidungen aus, in denen es den herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab als grundsätzlich fortbestehend anerkennt, ihn aber - wie bereits bei § 11 AuslG a.F. - von den (gesetzlichen) Fällen besonderen Ausweisungsschutzes (vornehmlich nach § 48 AuslG) und dem dort erforderlichen strengeren Wahrscheinlichkeitsmaßstab abgrenzt (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 16.11.1999 - 1 C 11.99 -, Buchholz 402.240 § 47 AuslG Nr. 19 = DVBl. 2000, 425; Urteil vom 11.6.1996 - 1 C 24.94 -, Buchholz 402.240 § 48 AuslG Nr. 9; Urteil vom 28.1.1997 - 1 C 17.94 -, Buchholz 402.240 § 48 AuslG Nr. 10 = InfAuslR 1997, 296; vgl. auch - zu § 11 AuslG a.F. - BVerwG, Urteil vom 17.1.1989 - 1 C 46.86 -, BVerwGE 81,155). Bei Ermessensausweisungen kann daher - bei entsprechend schweren und schadensträchtigen Straftaten - nach wie vor eine Wiederholungsgefahr im weiteren Sinn ausreichen, um die Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen zu rechtfertigen, wobei das je nach Wiederholungsgrad abgestufte spezialpräventive Ausweisungsinteresse jeweils an dem Gewicht der gegenläufigen Interessen des Ausländers zu messen ist (ebenso GK-AuslR, § 45 Rdnr. 389 m.w.N.). Gleiches hat wohl - erst recht - auch bei Ist- oder Regelausweisungen nach § 47 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AuslG ohne gesetzliche Privilegierung zu gelten; dort ist der Grundsatz, dass die Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit mit zunehmender Schwere der zu erwartenden Straftat geringer werden, schon im abgestuften System des Gesetzes angelegt (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 5.3.1998 - 18 B 1718/96 -, InfAuslR 1998, 393). Der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt, wie schon nach altem Recht (§ 11 AuslG a.F.), nur dann nicht, wenn der Ausländer besonderen Ausweisungsschutz - sei es nach § 48 AuslG, nach § 12 AufenthG/EWG, nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 oder nach (umgesetzten) völkerrechtlichen Abkommen - genießt, der (u.a.) strengere Anforderungen an den Grad der Wiederholungsgefahr stellt (vgl. BVerwG, Urteile vom 16.11.1999, vom 18.1.1997 und vom 11.9.1996 a.a.O [zu § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG und Art. 3 Abs. 3 ENA]; Beschluss vom 10.2.1995 - 1 B 221.94 -, Buchholz 402.240 § 48 AuslG Nr. 5 [zu § 48 AuslG, Art. 3 Abs. 3 ENA sowie Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80]; ebenso bereits Urteil vom 27.10.1978 - 1 C 91.76 -, BVerwGE 57, 61 = DVBl. 1979, 288, und Beschluss vom 2.6.1983 - 1 B 80.83 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 96 = InfAuslR 1983, 307 [zu § 12 AufenthG/EWG). Hierauf wird unten unter A II. 1. näher einzugehen sein.

c) Unter Anlegung dieses geminderten, normativen Bewertungsmaßstabs des Ausländergesetzes ist die Ausweisung des Klägers aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt. Die die Ausweisung auslösende Straftat (der Ausweisungsanlass) ist ohne Zweifel schwerwiegend und schadensträchtig. Ihr kommt - in den Kategorien des § 48 Abs. 1 AuslG - besonderes Gewicht zu. Der Kläger hat sich - unter Ausnutzung seiner Vertrauensstellung als Aufsicht führender Großvater - an einer 8-jährigen Spielgefährtin seiner Enkelin vergangen, um sich sexuell zu erregen und zu befriedigen. Dabei ließ er sexuelle Handlungen an sich vornehmen (Oralverkehr) bzw. nahm sie vor (Einführen des Fingers in die Vagina), die mit einem Eindringen in den Körper des Kindes verbunden waren. Abschließend legte er sich auf das Mädchen und ejakulierte auf ihr. Der Kläger hat damit massiv in die körperliche und seelische Integrität eines Kindes - mit nicht abschätzbaren Folgen für dessen weiteres Leben - eingegriffen. Während der gesamten Tat war seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit voll erhalten (Strafurteil S. 5). Das Landgericht hat es zudem abgelehnt, die Tat als minder schweren Fall zu gewichten. Zum Nachteil des Klägers hat es die Intensität der Tatbegehung herausgestellt. Die zu Gunsten des Klägers angenommenen Umstände lagen alle außerhalb der Tat (Geständnis, Haftempfindlichkeit, "sozial angepasstes Leben", keine Vorstrafen) und sind nicht geeignet, deren Unwertgehalt zu mindern. Im Hinblick auf das Gewicht der Tatbegehung und den hohen Rang des geschützten Rechtsguts genügte es, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung eine entfernte Möglichkeit weiterer einschlägiger Sexualstraftaten bestand (so - zu einem ähnlich gelagerten Fall sexuellen Missbrauchs - VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 a.a.O.: zu den demgegenüber strengeren Anforderungen bei einem nach EG-Recht freizügigkeitsberechtigten Sexualstraftäter vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.1978 a.a.O.). Diese geminderte Wiederholungsgefahr lag bei Erlass der Ausweisungsverfügung offensichtlich vor. Der Kläger hat sich unstreitig vor dem Landgericht noch im Dezember 2001 dahin eingelassen, dass er an Potenzstörungen leide, mit seiner Ehefrau seit vier Jahren keinen Geschlechtsverkehr mehr gehabt habe, gleichwohl aber noch über ein reges sexuelles Interesse verfüge, das ihn sehr quäle und beschäftige. Dieses "rege Interesse" hatte er durch die Tat im März 2001 gegenüber dem arg- und wehrlosen Mädchen gezielt in krimineller Weise umgesetzt, Potenzstörungen haben ihn daran nicht gehindert. Die Möglichkeit eines nachfolgenden erneuten Sittlichkeitsdelikts - gegenüber Kindern - war nach dem Maßstab "praktischer Vernunft" daher im März 2002 nicht von der Hand zu weisen. Das Alter des Klägers (er war zur Tatzeit bereits 74 Jahre alt ) stand dem ebenso wenig entgegen wie seine - altersentsprechenden, auch schon bei der Tatbegehung vorhandenen - Gesundheitsbeeinträchtigungen. Auch die Strafaussetzung zur Bewährung durch das Landgericht hindert die Annahme einer Wiederholungsgefahr im weiteren Sinn nicht. Denn diese geminderte Wiederholungsgefahr steht schon nicht im Widerspruch zu den Anforderungen an eine positive Sozialprognose nach § 56 Abs. 1 Satz 1 StGB. Entsprechend ihrem (auch auf Resozialisierung gerichteten) kriminalpolitischen Zweck nimmt die Sozialprognose nach § 56 Abs. 1 StGB gewisse Risiken in Kauf. Sie setzt lediglich die - derartige Risken einschließende - begründete Erwartung voraus, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Die Strafaussetzung zur Bewährung erfordert hingegen nicht, dass das Strafgericht eine günstige Entwicklung des Angeklagten für sicher hält (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.10.1983 a.a.O.). Die Gewährung der Strafaussetzung im Hinblick auf die Gefahr neuer Verfehlungen scheidet daher nur bei einem erheblich strengeren Maßstab als dem der "Wiederholungsgefahr im weiteren Sinn" aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.3.1990 - 1 B 27.90 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 122; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 a.a.O.; ebenso GK-AuslR § 45 Rdnr. 422).

2.) Die Ausweisung durfte von der Behörde im Rahmen ihres Ermessens nach §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG - selbstständig tragend - auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Die Wirkung der Generalprävention soll vor allem dadurch erreicht werden, dass in einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis in bestimmten Fallgruppen regelmäßig die Ausweisung verfügt wird, sofern die abgeurteilte Tat nicht durch Besonderheiten gekennzeichnet ist, die ein Bedürfnis für ein generalpräventives Eingreifen entfallen lassen, oder wenn wegen der Tatumstände eine generalpräventive - andere Ausländer von der Begehung gleichartiger Straftaten abhaltende - Wirkung nicht zu erwarten ist. Die vom Kläger begangene Straftat des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes gehört - etwa neben dem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und schweren Gewalttaten - zu den Delikten, die eine auf generalpräventive Erwägungen gestützte Ausweisung auf Ermessensbasis rechtfertigen (so schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988, a.a.O., unter Hinweis auf die damalige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Anhaltspunkte für eine Ausnahme von dieser grundsätzlichen generalpräventiven Eignung - sei es in zeitlicher Hinsicht oder im Hinblick auf die Besonderheiten der Straftat - sind im Fall des Klägers nicht ersichtlich. Das Regierungspräsidium hat mit der Ausweisungsverfügung (März 2002) vielmehr zügig und zeitnah auf die Verurteilung des Sexualverbrechens des Klägers (Dezember 2001) reagiert. Das Alter des Klägers bei der Tatbegehung und im Zeitpunkt der Ausweisung (74 bzw. 75 Jahre) führt nicht dazu, der Ausweisung die Abschreckungseignung auf andere Ausländer - gleich welchen Alters - zu nehmen. Im Gegenteil wird damit herausgestellt, welche Bedeutung der sexuellen Integrität insbesondere von Kindern in der Rechtsordnung zukommt mit der Konsequenz, dass auch Täter höheren Alters mit einschneidenden ordnungsrechtlichen Maßnahmen rechnen müssen.

A II. Die Ausweisung hält auch einer Überprüfung am Maßstab von Art. 3 Abs. 3 und Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens - ENA - (vom 13.12.1955, Gesetz vom 30.9.1959, BGBl. II, 997) stand, das am 23.2.1965 in Kraft getreten ist (vgl. Bekanntmachung vom 30.7.1965, BGBl. II, 1099).

Nach Art. 3 Abs. 1 ENA dürfen Staatsangehörige eines Vertragsstaats (dazu gehören auch türkische Staatsangehörige), die ihren ordnungsmäßigen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaats haben, nur ausgewiesen werden, wenn sie die Sicherheit des Staates gefährden oder gegen die öffentliche Ordnung oder die Sittlichkeit verstoßen. Nach Art. 3 Abs. 3 ENA ist die Ausweisung von Ausländern, die sich - wie der Kläger - seit mehr als 10 Jahren ordnungsgemäß hier aufhalten, nur zulässig, wenn die Sicherheit des Staates gefährdet ist oder die übrigen Gründe des Abs. 1 besonders schwerwiegend sind. Nach Abschnitt 1 a) Nr. 1 und b) des einen Bestandteil des Abkommens bildenden ENA-Protokolls (vgl. Art. 32 ENA) hat jeder Vertragsstaat das Recht, nach seinen innerstaatlichen Grundsätzen u.a. die - hier allein in Betracht kommenden - Gründe der "öffentlichen Ordnung" zu beurteilen sowie darüber zu entscheiden, ob diese Gründe "besonders schwerwiegend" sind, wobei das Verhalten des Betreffenden während der gesamten Dauer seines Aufenthalts zu berücksichtigen ist. Von dieser nationalen Definitionsbefugnis ist Gebrauch gemacht worden. In der Erwägung, dass völkerrechtliche Verträge nicht notwendig dem Sprachgebrauch innerstaatlicher Vorschriften entsprechen müssen und dass der nationale Gesetzgeber mit § 48 Abs. 1 AuslG die verschiedenen gesetzlichen und in der Rechtsprechung entwickelten Privilegierungstatbestände "auf der höchsten bisher anerkannten Stufe des Ausweisungsschutzes zusammenfassen wollte", hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass zwischen den "schwerwiegenden Gründen" des nationalen Rechts und den "besonders schwerwiegenden Gründen" des Art. 3 Abs. 3 ENA kein qualitativer Unterschied besteht. Mithin gehen Art. 3 Abs. 3 ENA und § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG hinsichtlich der spezial- wie der generalpräventiven öffentlichen Ausweisungszwecke von identischen Anforderungen aus. (vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 11.6.1996 - 1 C 24.94 -, BVerwGE 101, 247 = NVwZ 1997, 297 = InfAuslR 1997, 8; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 12.11.1996 - 11 S 2601/96 -, InfAuslR 1997, 108). Diesen öffentlichen Ausweisungszwecken sind sodann - auch insofern vergleichbar dem Prüfungsmaßstab bei § 48 Abs. 1 AuslG - die schutzwürdigen persönlichen Belange im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gegenüber zu stellen. Die wichtigsten Einzelbelange sind dabei aus dem Katalog des § 45 Abs. 2 AuslG zu entnehmen; sie finden sich teilweise wort- oder sinngleich auch in Abschnitt III c) des Protokolls zur ENA wieder (Gebot der "rücksichtsvollen" Ausübung der Ausweisung, unter Berücksichtigung "insbesondere" der "familiären Bindungen und der Dauer des Aufenthalts").

Auch nach Maßgabe dieser qualifizierten Anforderungen des Art. 3 Abs. 3 ENA ist die Ausweisung des Klägers nicht zu beanstanden. Sie ist im öffentlichen Interesse geboten, weil der Kläger besonders schwerwiegend die öffentliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtigt (dazu 1.), und erweist sich auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Belange nicht als unverhältnismäßig (dazu 2.).

1.1) Für die Frage der spezialpräventiven Rechtfertigung der Ausweisung gelten gegenüber dem - oben abgehandelten - Grundtatbestand der schlichten Ermessensausweisung in zweierlei Hinsicht strengere Voraussetzungen. Dies ist in der Rechtsprechung zu § 48 Abs. 1 AuslG geklärt. Danach setzt ein schwerwiegender Ausweisungsgrund zunächst voraus, dass dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt, welches sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergeben kann. Ein derart gravierender Ausweisungsanlass liegt beim Kläger wegen der Art und Intensität der Tatbegehung und der Schwere des verletzten Rechtsguts zweifellos vor, wie oben eingehend dargelegt wurde. Zum anderen müssen aber auch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue (einschlägige oder im Gewicht vergleichbare) Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.6.1996 a.a.O; BVerfG, 2. Kammer, Beschluss vom 1.3.2000 - 2 BvR 2120/99 -, NVwZ 2001, 67 = InfAuslR 2001, 113). Die Ausweisungsgründe sind mithin, was das Regierungspräsidium in der angefochtenen Verfügung verkennt, nicht bereits dann "schwerwiegend", wenn lediglich eine entfernte Möglichkeit weiterer Störungen besteht, weil nicht ausgeschossen werden kann, dass der Ausländer seine bisherige Straftat wiederholt (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.6.1996 a.a.O, Urteil vom 28.1.1997 - 1 C 17.94 -, NVwZ 1997, 1119 = InfAuslR 1997, 296). Der oben aufgezeigte, für den Grundtatbestand der Ausweisung nach §§ 45, 46 AuslG kennzeichnende und allgemeinen Strukturen des Ordnungsrechts folgende geminderte Wahrscheinlichkeitsmaßstab - die Wahrscheinlichkeit im weiteren Sinn - reicht folglich nicht aus. Vielmehr wird der Grundtatbestand der §§ 45, 46 AuslG durch die Tatbestände des besonderen Ausweisungsschutzes modifiziert und der Ausländer wird privilegiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.1999 - 1 C 11.99 -, Buchholz 402.240 § 47 AuslG Nr. 19 = DVBl. 2000, 425; Hailbronner, AuslG, § 48 Rdnr. 28). Das Erfordernis der ernsthaft drohenden Gefahr neuer Verfehlungen bedeutet andererseits aber auch nicht, dass es sich etwa um eine "gegenwärtige" Gefahr im Sinn des deutschen Polizeirechts handeln muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und fast mit Gewissheit zu erwarten ist. Vielmehr umschreibt das Bundesverwaltungsgericht den Grad der zu fordernden Wiederholungsgefahr neuerdings mehrfach als "hinreichend" (vgl. etwa Urteil vom 28.1.1997 a.a.O.). Was damit gemeint ist, legte das Gericht in einer früheren Entscheidung zum Gefahrenbegriff nach § 12 AufenthG/EWG - hinter dem der Gefahrenbegriff nach § 48 Abs. 1 AuslG und Art. 3 Abs. 3 ENA nicht wesentlich zurückbleibt - deutlicher dar. Zu verlangen ist danach eine, "nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende .... hinreichende Wahrscheinlichkeit" einer künftigen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, an die keine zu geringen Anforderungen gestellt werden dürften (Urteil vom 27.10.1978 a.a.O.). Diese Vorgaben legt der Senat auch als zutreffende Umschreibung der nach Art. 3 Abs. 3 ENA/ § 48 Abs. 1 AuslG für privilegierte Ausländer erforderlichen Wiederholungswahrscheinlichkeit aus und macht sie gleichzeitig für die Abgrenzung zur geminderten Wiederholungsgefahr bei der Ausweisung nicht privilegierter Ausländer nutzbar. Für die erstere - privilegierte - Gruppe muss (mindestens) ein hinreichender Grad an Wiederholungsgefahr bestehen (qualifizierte Wiederholungsgefahr), bei dessen Ermittlung auch dem normativen Bewertungskriterium (Gewicht, Gefährlichkeit und Schaden der Straftat) eine gewisse Bedeutung zukommen kann. Für letztere Gruppe reicht - bei entsprechend schwergewichtigem Ausweisungsanlass - gegebenenfalls auch die nur entferntere Möglichkeit von Nachfolgetaten aus (geminderte Wiederholungsgefahr).

a) Davon ausgehend spricht - mit dem Verwaltungsgericht - vieles dafür, dass vom Kläger bei Erlass der Ausweisungsverfügung nicht nur von der entfernteren Möglichkeit, sondern von der hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer wiederholten Sexualstraftat auszugehen war. Beleg auch hierfür ist zunächst die Straftat selbst, bei der der Kläger ein Vertrauensverhältnis missbraucht und sich ohne Rücksicht auf die Folgen für das Kind, seine Familie und das Nachbarschaftsverhältnis zwecks sexueller Stimulation an dem Nachbarkind vergangen hat. Vor diesem Hintergrund gewinnt seine Aussage vor dem Landgericht, er habe nach wie vor reges sexuelles Interesse und dieses quäle ihn sehr, besonderes Gewicht, zumal der Kläger seine Straftat zwar gestanden, sich mit den Ursachen der Tat und einer möglichen pädophilen Veranlagung ersichtlich aber nicht auseinandergesetzt, geschweige denn therapeutische Hilfe in Anspruch genommen hat. Der Kläger hat sein gravierendes Fehlverhalten jedenfalls nicht in einer Weise verarbeitet, welche eine Wiederholung hinreichend sicher ausschloss (so in einem weitgehend vergleichbaren Fall vgl. Beschluss des Senats vom 12.12.1996 - 11 S 3336/96 -, NJW 1997,2615; ebenso Hailbronner, AuslR, § 48 Rdnr. 28 m.w.N.). Eher gegen den Kläger - und für eine außergewöhnliche Alterstriebhaftigkeit - spricht auch, dass er sich erstmals (und noch) mit 74 Jahren zu der verwerflichen Tat hat hinreißen lassen.

b) Allerdings hat das Landgericht die zweijährige Freiheitsstrafe des Klägers zur Bewährung ausgesetzt. An die Begründung dieser Entscheidung war die Ausländerbehörde und sind die Verwaltungsgerichte zwar rechtlich nicht gebunden, zumal dem Strafrecht und dem Ausländerrecht weitgehend unterschiedliche Zwecke zugrunde liegen. Vielmehr haben Behörden und Gerichte über das Vorliegen einer hinreichenden Gefahr neuer Verfehlungen eigenständig zu entscheiden, was eine eingehende Würdigung der Straftat und eine Auseinandersetzung mit den Gründen voraussetzt, die den Strafrichter zur Aussetzung der Freiheitsstrafe - insbesondere der Sozialprognose - veranlasst haben. Gleichwohl ist die strafgerichtliche Entscheidung aber von wesentlicher tatsächlicher Bedeutung für die Frage, ob die erforderliche hinreichende Wiederholungswahrscheinlichkeit gegeben ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.1.1997 a.a.O.). Denn anders als bei der oben dargelegten geminderten Wiederholungsgefahr (Wahrscheinlichkeit im weiteren Sinn) wird eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 Abs. 1 StGB bei Vorliegen einer die Ausweisung nach § 48 Abs. 1 AuslG (= Art. 3 Abs. 3 ENA) rechtfertigenden qualifizierten Wiederholungsgefahr jedenfalls - mangels der erforderlichen positiven Sozialprognose - grundsätzlich nicht in Betracht kommen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.1.1997 a.a.O.; ebenso - zur Wiederholungsgefahr nach § 12 AufenthG/EWG - Urteil vom 27.10.1978 a.a.O.). Anderes kann sich bei Defiziten der strafgerichtlichen Bewährungsentscheidung oder aus sonstigen zusätzlichen Gesichtspunkten ergeben.

Demgemäß liegen auch hier beachtliche Gründe vor, die trotz der Bewährungsentscheidung des Landgerichts für die erforderliche ernsthafte Wiederholungswahrscheinlichkeit eines Sexualdelikts beim Kläger sprechen. Zum einen hat das Landgericht seine Entscheidung nach § 56 Abs. 1 StGB nicht begründet. Die Gründe lassen sich allenfalls mittelbar aus den zu Gunsten des Klägers angestellten Erwägungen bei der Strafzumessung entnehmen, die allerdings im vorliegenden Zusammenhang teilweise nicht überzeugen. So ist weder ohne Weiteres nachvollziehbar, dass der Kläger allein durch sein Geständnis "Einsicht in sein Fehlverhalten gezeigt" haben soll, noch dass der Kläger aufgrund der "mangelnden Deutschkenntnisse" besonders haftempfindlich sein soll. Auch der Hinweis, der Kläger sei "nicht vorbestraft" und habe "ein sozial angepasstes Leben geführt", trifft im Hinblick auf die verwertbare Bestrafung wegen Ladendiebstahls so nicht zu. Schließlich fällt auf, dass das Landgericht selbst seine ursprünglichen Bewährungsauflagen (Beschluss vom 11.12.2001) möglicherweise nicht für ausreichend ansah, um die erforderliche günstige Sozialprognose rechtfertigen zu können. Denn es hat diese Auflagen nach Erlass der Ausweisungsverfügung nachträglich erheblich verschärft (Beschluss vom 7.6.2002), indem es dem Kläger untersagte, das Anwesen J. B. - Str. 11, in dem er bei Erlass der Ausweisungsverfügung noch gewohnt hatte, zu betreten und sich in dessen Umgebung aufzuhalten.

1.2. Der Senat braucht die Frage der erforderlichen qualifizierten Wiederholungsgefahr, die nach den vorstehenden Ausführungen nahe liegt, indessen nicht abschließend zu entscheiden. Denn unabhängig davon, ist die Ausweisung auch im Lichte des Art. 3 Abs. 3 EMRK aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt, um andere Ausländer von der Begehung ähnlicher Sittlichkeitsdelikte abzuhalten. Insoweit kann zunächst auf die obigen Ausführungen (zur Generalprävention der Ausweisung nach §§ 45, 46 AuslG) Bezug genommen werden. Diesen ist folgendes hinzuzufügen:

Nach Art. 3 Abs. 3 ENA setzt auch der generalpräventive Zweck der Ausweisung einen "besonders schwerwiegenden" bzw. - in der Terminologie des § 48 Abs. 1 AuslG - "schwerwiegenden" Ausweisungsgrund voraus. Dies ist - im Rückgriff auf die Maßstäbe bei deutschverheirateten Ausländern - nur der Fall, wenn die begangene Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis dafür besteht, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (vgl. im einzelnen BVerwG, Urteil vom 11.6.1996 a.a.O.; Urteil vom 28.1.1997 a.a.O.; Beschluss vom 16.8.1995 - 1 B 43.95 - , Buchholz 204.240 § 48 AuslG Nr. 6 m.w.N.). Bei der Entscheidung sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen und das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (BVerwG, Beschluss 11.6.1996 a.a.O.; Beschluss vom 12.11.1992 - 1 B 176.92 -, Buchholz 402.24 § 11 AuslG a.F. Nr. 10).

Die Voraussetzungen eines schwerwiegenden generalpräventiven Ausweisungsgrundes liegen beim Kläger vor. Der Schutz von Kindern vor Sexualdelikten ist eine überragend wichtige Aufgabe der Gemeinschaft und berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft (BVerwG, Urteil vom 27.10.1978 a.a.O.) . Sexualtäter mit pädophiler Zielrichtung verstoßen daher nicht nur in hohem Maße gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung, sondern auch gegen das - in Art. 3 Abs.1 ENA gesondert aufgeführte - Schutzgut der öffentlichen Sittlichkeit. Der Senat stuft den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern daher - wie etwa auch schwere Straftaten des Handels mit gefährlichen Betäubungsmitteln und schwere Gewalttaten - in die Kategorie von Straftaten ein, die regelmäßig auch gegenüber nach § 48 Abs. 1 AuslG/Art. 3 Abs. 3 ENA privilegierten Ausländern einen in generalpräventiver Hinsicht schwerwiegenden Ausweisungsgrund darstellen. Die Straftat des Klägers wiegt auch im Rahmen einer Individualwürdigung nach der Art und den konkreten Umständen ihrer Begehung besonders schwer. Wie bereits mehrfach dargelegt, hat der Kläger unter Missbrauch seiner Autorität als Erwachsener und ohne Rücksicht auf das Opfer, aber auch auf seine Familie seinem Sexualtrieb Befriedigung verschafft. Sexuelle Frustration hat er auf Kosten eines noch im Grundschulalter befindlichen Kindes nach außen ausgelebt. Es besteht daher auch ein den Anforderungen des § 48 Abs. 1 AuslG/Art. 3 Abs. 3 ENA entsprechendes dringendes Bedürfnis, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Sexualdelikten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Der Senat hat keinen Zweifel, dass die damit bezweckte Verhaltenssteuerung anderer potenzieller - wie der Kläger in freier Willensentscheidung handelnder - Straftäter infolge einer kontinuierlichen Verwaltungspraxis erreicht wird.

Die Strafaussetzung zur Bewährung und die darin getroffene positive Sozialprognose zugunsten des Klägers braucht bei generalpräventiven Erwägungen nicht berücksichtigt zu werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.8.1995 - 1 B 43.95 -, Buchholz 402.240 § 48 AuslG Nr. 6 = InfAuslR 1995, 404). Ebenso wenig besteht der vom Kläger gerügte Wertungswiderspruch zu § 26 Abs. 3 Satz 3 AuslG (dazu eingehend BVerwG, Urteil vom 28.1.1997 a.a.O.).

2.) Die - zumindest generalpräventiv gerechtfertigte - Ausweisung erweist sich auch unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Klägers nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK und § 45 Abs. 2 AuslG und Abschnitt III c) des Protokolls zum ENA als verhältnismäßig. Der Kläger wird durch die Ausweisung weder persönlich noch wirtschaftlich außergewöhnlich nachteilig betroffen. Zwar hält er sich seit - zuletzt - 1971 im Bundesgebiet auf. Die Schutzwirkung dieser langjährige Aufenthaltsdauer ist - da Rechtsgrund für die Gewährung des besonderen Ausweisungsschutzes nach Art. 3 Abs. 3 ENA - aber weitgehend "verbraucht". Im Übrigen hat der Kläger die ersten, für die Sozialisierung wesentlichen Jahrzehnte seines Lebens in der Türkei verbracht. Dort hat er auch geheiratet. Offensichtlich lebte und lebt der Kläger auch in Deutschland weitgehend im Kreis seiner Landsleute. Denn nach den Feststellungen des Landgerichts sind seine Deutschkenntnisse bis heute mangelhaft. Eine nachhaltige Entfremdung zur Türkei ist offenkundig nicht eingetreten. Dies sieht auch der Kläger so, da er vor dem Landgericht angegeben hat, er würde gerne in die Türkei zurückkehren, sehe davon bisher aber wegen des Gesundheitszustands seiner Ehefrau, der besseren ärztlichen Versorgung in Deutschland und der geringen Rente ab. Dass er bei einer Rückkehr in die Türkei unzumutbare wirtschaftliche Nachteile zu erwarten hat, hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht. Seine Rente von bisher ca. 500,-- DM und gegenwärtig ca. 310,-- EUR wird ihm auch in der Türkei ausgezahlt bei dort günstigeren Lebenshaltungskosten. Da die Rente des Klägers in Deutschland fast von der Miete von bisher 480,-- DM aufgezehrt wurde und seine Ehefrau über kein eigenes Einkommen verfügt, muss er auch hier von seinen - unterhaltspflichtigen - Kindern finanziell unterstützt werden (Angaben vor dem Landgericht). Diese Unterstützungszahlungen, die offensichtlich auch nach der Straftat nicht eingestellt wurden, können dem Kläger auch in die Türkei überwiesen werden. Aus ihnen können gegebenenfalls auch Arztkosten aufgebracht werden, sofern der Kläger diese nicht ohnehin aus Leistungen des öffentlichen Gesundheitssystems erhält. Der Kläger wird in der Türkei voraussichtlich aus seinen eigenen Mitteln oder den Leistungen seiner Kinder auch eine Wohnung finden, möglicherweise in dem Haus, das seiner hier lebenden Tochter H. gehört, die ihm nach seinen Angaben sehr zugetan ist. In dem Haus wohnt auch einer seiner 5 in der Türkei lebenden Söhne. Dass diese Söhne - im Gegensatz zu den Geschwistern in Deutschland - wegen der Straftat eine Betreuung ihres Vaters generell ablehnen, ist wenig wahrscheinlich. Die Trennung der durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten ehelichen Lebensgemeinschaft mit seiner hier aufenthaltsberechtigten Ehefrau muss der Kläger als Folge seiner verwerflichen Straftat gegebenenfalls hinnehmen. Diese Trennung macht die Ausweisung nicht unverhältnismäßig. Seine Ehefrau hat im Übrigen die Möglichkeit, dem Kläger in die Türkei zu folgen, wo auch für sie angesichts der Unterhaltsleistungen der Kinder keine unzumutbaren gesundheitlichen Nachteile eintreten werden. Verbleibt die Ehefrau in Deutschland, hat der Kläger die Möglichkeit, nach einer angemessenen Zeit die Wirkungen der Ausweisung nach § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG befristen zu lassen und gegebenenfalls eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu seiner Ehefrau bzw. Besuchsvisa zu beantragen. Diese Möglichkeiten sind - im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes - ebenso in Rechnung zu stellen wie die Berechtigung, gegenüber einer Abschiebung gegebenenfalls Abschiebungshindernisse nach § 55 Abs. 2 AuslG geltend zu machen.

B. Auch die mit der Ausweisung verbundene "unselbstständige" Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig. Sie entspricht den gesetzlichen Vorgaben. Der Kläger ist zur Ausreise verpflichtet (§ 49 Abs. 1, 42 Abs. 1) und die Ausreisefrist wie auch der festgesetzte Zielstaat der Abschiebung sind nicht zu beanstanden (§ 50 Abs. 1 und 2, § 42 Abs. 3 AuslG). Einer vollziehbaren gesetzlichen Ausreisepflicht bedarf es für die Abschiebungsandrohung nicht (vgl. Urteil des Senats vom 29.4.2003 - 11 S 1188/02 -).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.

Beschluss vom 9. Juli 2003

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 4.000,-- EUR festgesetzt (§§ 25 Abs. 2 Satz 1, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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