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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 10.11.2005
Aktenzeichen: 11 S 650/05
Rechtsgebiete: VwGO, AufenthG, AuslG


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
AufenthG § 52 Abs. 1 Nr. 4
AufenthG § 56
AuslG § 43 Abs. 1 Nr. 4
1. Die Ausländerbehörde muss im Rahmen des ihr nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG eingeräumten Widerrufsermessens grundsätzlich nicht berücksichtigen, ob dem Ausländer wegen von ihm begangener Straftaten im Falle einer Ausweisung besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG zustehen würde. Ob von diesem Grundsatz bei minderjährigen Ausländern im Hinblick auf die Schutzwirkungen der Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK eine Ausnahme zu machen ist, bleibt offen.

2. Das bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs einer Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG erforderliche besondere öffentliche Vollzugsinteresse kann sich aus der konkreten Gefahr ergeben, dass der Ausländer in dem Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache (weitere) Straftaten von nicht unerheblichem Gewicht begeht (Ergänzung zu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.02.2005 - 11 S 1170/04 - <juris>).


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

11 S 650/05

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Widerrufs der Aufenthaltserlaubnis und Abschiebungsandrohung

hier: vorläufiger Rechtsschutz

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schaeffer, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Dr. Thoren und den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Wenger

am 10. November 2005

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 23. Februar 2005 - 7 K 181/05 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die fristgerecht erhobene und begründete sowie inhaltlich den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechende Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 23.02.2005 ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den mit Verfügung der Antragsgegnerin vom 08.12.2004 unter Anordnung des Sofortvollzugs erfolgten Widerruf seiner unbefristeten Aufenthaltserlaubnis sowie gegen die in dem Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung wiederherzustellen bzw. anzuordnen. Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seinem Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ohne Erfolg

Auch nach Auffassung des Senats gebührt bei der im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Aufenthaltsbeendigung nach Widerruf der dem Antragsteller asylbedingt nach § 68 Abs. 1 AsylVfG a.F. erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis der Vorrang vor dem privaten Interesse des Antragstellers, vom Vollzug der angefochtenen Verfügung vorläufig verschont zu bleiben.

1. Der nach bestandskräftigem Widerruf der Asylanerkennung des Antragstellers, eines 1984 geborenen serbisch-montenegrinischen Staatsangehörigen albanischer Volkszugehörigkeit aus dem Kosovo, erfolgte Widerruf der ihm asylbedingt erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ist aller Voraussicht nach rechtmäßig.

a) Ist wie im vorliegenden Fall der erforderliche Widerspruchsbescheid noch nicht ergangen, so ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung - wie im übrigen auch für die Abwägung der widerstreitenden Interessen - auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO abzustellen (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO; s. dazu auch Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rdnr. 870, und Funke-Kaiser in Bader u.a., VwGO, 3. Aufl., § 80 Rn. 97, jeweils m.w.N.). Dies hat zur Folge, dass der Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 des zum 01.01.2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes (vgl. Art. 15 Abs. 3 1. HS des Zuwanderungsgesetzes vom 30.07.2004, BGBl. I, S. 1945 ff.). zu beurteilen ist; diese Vorschrift entspricht inhaltlich dem von der Antragsgegnerin zu Grunde gelegten § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG.

b) Nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kann der Aufenthaltstitel des Ausländers widerrufen werden, wenn seine Anerkennung als Asylberechtigter oder seine Rechtsstellung als Flüchtling erlischt oder unwirksam wird. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift sind unstreitig erfüllt, nachdem das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) wegen der seit der Asylanerkennung veränderten Situation im Kosovo mit bestandskräftigem Bescheid vom 02.03.2004 die Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, widerrufen hat.

c) Der Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis stand damit im Ermessen der Antragsgegnerin. Dieses Ermessen dürfte die Antragsgegnerin rechtfehlerfrei ausgeübt haben.

aa) Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass ein Widerruf nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht deshalb ausscheidet, weil der Antragsteller unabhängig von seiner entfallenen Asylberechtigung aus anderen Rechtsgründen einen Anspruch auf ein dem entzogenen Recht gleichwertiges Aufenthaltsrecht hat, die Behörde mithin unzulässiger Weise einen Aufenthaltstitel widerrufen hätte, den sie sogleich wieder erteilen müsste (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2003 - 1 C 13/02 -, BVerwGE 117, 380 ff.).

Ein solches asylunabhängiges Aufenthaltsrecht ergibt sich entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht aus § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (früher § 26 Abs. 1 Satz 2 AuslG). Zum einen scheidet, wie bereits das Verwaltungsgericht im einzelnen ausgeführt hat, ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG deshalb aus, weil diese Bestimmung voraussetzt, dass der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis "nach diesem Abschnitt", d.h. nach Abschnitt 6 des Aufenthaltsgesetzes ("Aufenthalt aus familiären Gründen") besitzt. Diese Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller jedoch nicht, weil er nicht im Wege des Familiennachzugs, sondern - gemeinsam mit seiner Mutter - als Asylbewerber in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und eine Aufenthaltserlaubnis ausschließlich wegen seiner Anerkennung als Asylberechtigter erhalten hat. Zum anderen wäre der Erwerb eines Anspruchs aus § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG unter Berücksichtigung der Zeiten des erlaubten Aufenthalts auf Grund der Asylanerkennung selbst asylbedingt und unterläge dem Widerruf; er kann daher dem Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht entgegenstehen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteil vom 20.02.2003, a.a.O., zur vergleichbaren Situation bei möglichen Ansprüchen aus § 24 Abs. 1 AuslG bzw. 27 Abs. 2 AuslG). Es kommt daher nicht darauf an, ob die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch deshalb ausscheidet, weil ein auf dem persönlichen Verhalten des Antragstellers beruhender Ausweisungsgrund (§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, früher § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AuslG) vorliegt, ob § 35 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG (früher § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG) insoweit eine Spezialregelung darstellt und ob § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG (früher § 26 Abs. 3 Satz 2 AuslG) in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen wäre.

bb) Entgegen der Auffassung des - im Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung 18 Jahre alten - Antragstellers ist auch nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin bei der Widerrufsentscheidung nicht berücksichtigt hat, ob der Antragsteller sich im Falle einer Ausweisung auf besondere Ausweisungsschutzvorschriften, insbesondere auf einen besonderen Ausweisungsschutz für Heranwachsende (d.h. für Personen zwischen 18 und 21 Jahren, vgl. § 1 Abs. 2 JGG), berufen könnte.

(1) Zwar konnte nach § 48 Abs. 2 Satz 2 AuslG ein Heranwachsender, der im Bundesgebiet aufgewachsen ist und mit seinen Eltern in häuslicher Gemeinschaft lebt, nur nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 und 2 Nr. 1 und Abs. 3 AuslG (dessen Voraussetzungen hier nicht vorliegen) ausgewiesen werden. Diese Regelung ist in das für die Widerrufsentscheidung nunmehr maßgebliche Aufenthaltsgesetz aber nicht aufgenommen worden, da der Gesetzgeber keinen Grund dafür gesehen hat, einen Heranwachsenden, der mit seinen Eltern in häuslicher Gemeinschaft lebt, gegenüber anderen Heranwachsenden zu privilegieren (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs zu § 56 AufenthG, BTDrucks 15/420). Der Gesetzgeber hat damit ersichtlich dem auch vom Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervorgehobenen Gesichtspunkt Rechnung getragen, dass volljährige Kinder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich selbständig zu behandeln sind, weil zwischen ihnen und ihren Eltern (anders als bei Minderjährigen) regelmäßig eine bloße Begegnungsgemeinschaft besteht.

Nachdem der Antragsteller sich auf § 48 Abs. 2 Satz 2 AuslG nicht mehr berufen kann, bedarf die Frage, ob diese Vorschrift im Widerrufsverfahren hätte berücksichtigt werden müssen, keiner weiteren Klärung.

(2) Spezieller Ausweisungsschutz für Heranwachsende besteht nach dem Aufenthaltsgesetz nur noch bei Vorliegen der Voraussetzungen von § 56 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und führt lediglich dazu, dass in den Fällen der §§ 53 und 54 AufenthG (d.h. bei Vorliegen eines Ist- oder Regelausweisungstatbestandes) immer nur eine Ermessensausweisung zulässig ist. Im Unterschied zum Ausweisungsschutz für Heranwachsende nach dem Ausländergesetz kommt aber die Ausweisung eines Heranwachsenden bei allen Ausweisungstatbeständen der §§ 53, 54 und 55 AufenthG in Betracht. Selbst wenn man also von der Anwendbarkeit der Ausweisungsschutzvorschriften für Heranwachsende im Widerrufsverfahren ausgehen wollte, stünden diese im Falle des Klägers einem Widerruf der Aufenthaltserlaubnis nicht zwingend entgegen entgegen.

(3) Soweit das Beschwerdevorbringen des Antragstellers im Hinblick auf die von ihm in Bezug genommene Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25.09.2003 (- 11 K 4484/02 -, InfAuslR 2004, 74 ff.) so zu verstehen sein sollte, dass bei der Ermessensentscheidung über den Widerruf einer asylbedingt erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG generell die Vorschriften über den besonderen Ausweisungsschutz "wertend heranzuziehen" seien, so kann dem nicht gefolgt werden.

Dass die Ausländerbehörde bei der Ausübung des ihr nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG eröffneten Widerrufsermessens in der Regel nicht zu berücksichtigen hat, ob der Ausländer auf Grund der nunmehr in § 56 AufenthG zusammengefassten besonderen Ausweisungsschutzvorschriften ausgewiesen werden könnte, ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Regelung über den Widerruf einer asylbedingt erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.

Nach dem Ausländergesetz 1965 führte der Widerruf der Asylberechtigung bereits kraft Gesetzes zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis und der Aufenthaltsberechtigung (§ 9 Abs. 1 AuslG 1965). Wie sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 43 Abs. 1 AuslG 1990 (BTDrucks 11/6321, S. 71) ergibt, wollte der Gesetzgeber mit der damaligen Neuregelung, die im wesentlichen unverändert in das Aufenthaltsgesetz übernommen wurde, lediglich diese gesetzliche Erlöschensautomatik durch die Widerrufsmöglichkeit, die eine Würdigung der Umstände des Einzelfalles erlaubt, ersetzen, um mitunter sachlich nicht gerechtfertigte Ergebnisse zu vermeiden, insbesondere bei langjährigem rechtmäßigen Aufenthalt und wirtschaftlichem Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet. Insbesondere sollte der Bestand des Aufenthaltsrechts möglichst nicht an Voraussetzungen geknüpft werden, auf die der Ausländer im Einzelfall keinen Einfluss hat. An der Möglichkeit, jeden aufgrund der Asylanerkennung erworbenen Aufenthaltsstatus zu widerrufen, sollte dabei nichts geändert werden. Mit der Zwischenschaltung einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung wollte der Gesetzgeber ersichtlich nicht davon abweichen, dass der Wegfall der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft grundsätzlich auch eine Beendigung des darauf beruhenden Aufenthalts nach sich zieht. Dem entspricht auch der an den Fortbestand der politischen Verfolgungssituation im Herkunftsland geknüpfte Charakter des Asylrechts (vgl. § 73 Abs. 1 AsylVfG). Der Gesetzgeber hat das der Ausländerbehörde in § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG (bzw. früher § 43 Abs. 1 Nr. 4AuslG) eingeräumte Ermessen dabei nicht an bestimmte Vorgaben geknüpft, sondern insoweit einen weiten Spielraum eröffnet. Die Behörde darf danach grundsätzlich davon ausgehen, dass in den Fällen des § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG in der Regel ein gewichtiges öffentliches Interesse an dem Widerruf der Aufenthaltsgenehmigung besteht. Bei ihrer Ermessensausübung muss die Ausländerbehörde allerdings sämtliche Umstände des Einzelfalles und damit auch die schutzwürdigen Belange des Ausländers an einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick nehmen, wie sie beispielhaft für die Aufenthaltsbeendigung durch Ermessensausweisung in § 55 Abs. 3 AufenthG (früher § 45 Abs. 2 AuslG) aufgeführt sind. Dazu gehören nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG (früher § 45 Abs. 2 Nr. 1 AuslG) insbesondere die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet (vgl. zum Ganzen grundsätzlich BVerwG, Urteil vom 20.02.2003, a.a.O., zu § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG). Zieht nach dem Gesagten der Wegfall der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft insbesondere im Hinblick auf den Charakter des Asylrechts grundsätzlich auch eine Beendigung des darauf beruhenden Aufenthalts nach sich, ergeben sich daraus grundlegende Unterschiede zwischen einer Aufenthaltsbeendigung durch Widerruf einer asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis und der Beendigung eines bestehenden Aufenthaltsrechts durch Ausweisung.

Im Fall der Aufenthaltsgewährung nach Asylanerkennung oder Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ist das Aufenthaltsrecht - wenn es auch unbefristet erteilt wird - von Anfang an mit der gesetzlich vorgesehenen und tatbestandsmäßig nicht beschränkten Widerrufsmöglichkeit nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG (bzw. davor § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG) "belastet". Nach Widerruf der Asylanerkennung oder der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, der im übrigen seinerseits Beschränkungen unterliegt (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG), liegt es grundsätzlich im überwiegenden öffentlichen Interesse, das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Aufenthaltsrecht zu beenden, es sei denn, die Aufenthaltsbeendigung erweise sich wegen schutzwürdiger privater Belange des Ausländers als ermessensfehlerhaft. Zu den in diesem Zusammenhang besonders zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehören neben der Aufenthaltsdauer insbesondere die vom Ausländer erbrachten Integrationsleistungen (vgl. auch Kanein/Renner, Ausländerrecht, 6. Aufl., § 43 AuslG Rn. 9). Demgegenüber wird durch die Ausweisung gerade in den Fällen, in denen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG besteht, in eine ansonsten besonders schutzwürdige Aufenthaltsposition eingegriffen und diese durch Ausweisung beendet (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG). Vor diesem Hintergrund haben die besonderen Ausweisungsschutzvorschriften, die die Ausweisung im Hinblick auf die privilegierte aufenthaltsrechtliche Position des Ausländers erschweren, ihren Sinn. Soweit besonderer Aufenthaltsschutz aus der Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts erwächst, ist darüber hinaus zu bedenken, dass bei Asylberechtigten oder anerkannten Flüchtlingen auch dieser Aufenthalt seinerseits i.d.R. asylbedingt ist. Schließlich ist es auch grundsätzlich unzulässig, die für eine bestimmte Problemlage getroffenen Regelungen auf die Regelungen für eine andere Problemlage zu übertragen, wobei es keinen Unterschied machen dürfte, dass im konkreten Fall sowohl die Aufenthaltsbeendigung durch Widerruf einer asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis als auch die Ausweisungsvorschriften im gleichen Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes geregelt sind (vgl. dazu auch BVerwG vom 20.02.2003, a.a.O.).

Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich im vorliegenden Fall auch nicht aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.07.2002 ( - 1 C 8/02 -, BVerwGE 116, 378 ff.), wonach der besondere Ausweisungsschutz für Minderjährige nach § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG (vgl. jetzt § 56 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AufenthG) auch im Rahmen einer nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG (vgl. jetzt § 34 Abs. 1 i.V.m. §§ 8 Abs. 1, 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) zu treffenden Entscheidung über die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis eines Minderjährigen zu beachten ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat in der genannten Entscheidung ausdrücklich betont, von dem Grundsatz, dass im Ausländerrecht die für eine bestimmte Problemlage getroffene Regelung nicht auf andere Problemlagen übertragen werden könne, sei in dem zu entscheidenden Fall - ausnahmsweise - deshalb abzuweichen, weil zum einen bei der Beendigung des rechtmäßigen Aufenthalts durch Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und durch Ausweisung eine vergleichbare Interessen- und Abwägungslage gegeben und zum anderen bei minderjährigen Ausländern der verfassungsrechtliche Schutzauftrag aus Art. 6 GG zu beachten sei.

Eine der Ausweisungsentscheidung vergleichbare Interessen- und Abwägungslage dürfte beim Widerruf der Aufenthaltserlaubnis nach Wegfall der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft aus den o.g. Gründen nicht bestehen. Ob gleichwohl im Hinblick auf die Schutzwirkungen des Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK bei Minderjährigen die besonderen Ausweisungsschutzvorschriften bei der Ausübung des Widerrufsermessens ausnahmsweise zu berücksichtigen sind oder die Minderjährigkeit eines Ausländers nach erfolgtem Widerruf nur ggf. zu einem rechtlichen Abschiebungshindernis führt, kann im vorliegenden Fall offen bleiben, da der Antragsteller volljährig ist.

cc) Entgegen der Auffassung des Antragstellers dürften die Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin auch im übrigen nicht zu beanstanden sein. Die Antragsgegnerin hat in ihre Erwägungen die Dauer des Aufenthalts des Antragstellers und seine schutzwürdigen Bindungen im Bundesgebiet eingestellt und gewürdigt. Es ist dabei nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin keine dem Widerruf der Aufenthaltserlaubnis entgegenstehenden besonders schützenswerten familiären Bindungen angenommen hat, da - worauf auch das Verwaltungsgericht hingewiesen hat - der Kläger volljährig ist und Anhaltspunkte für eine über eine bloße Begegnungsgemeinschaft hinausgehende Beziehung zu den Eltern nicht erkennbar sind. Zu Recht ist die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass der Antragsteller, der nach Aktenlage jeweils nur kurzzeitigen Beschäftigungen nachgegangen ist, sich weder in wirtschaftlicher noch in sozialer Hinsicht in die Verhältnisse der Bundesrepublik integriert hat. Die Antragsgegnerin hat sich auch entsprechend den Maßgaben des Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 20.02.2003, a.a.O.) inhaltlich mit den vom Antragsteller begangenen Straftaten auseinander gesetzt und diese im Hinblick auf deren zeitliche Abfolge, deren Gewicht und deren Aussagekraft für die vom Antragsteller ausgehenden Gefahr weiterer Straftaten gewürdigt. Danach ist der Antragsteller seit dem ersten aktenkundigen (noch als Kind begangenen) Ladendiebstahl bis zur Widerrufsentscheidung der Antragsgegnerin kontinuierlich und in einer Vielzahl von Fällen strafrechtlich in Erscheinung getreten. Wegen mehrerer Diebstahlsdelikte, u.a. wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall, sowie wegen gefährlicher Körperverletzung wurden dem Antragsteller Arbeitsauflagen erteilt bzw. es wurden Freizeitarreste sowie Jugendarrest verhängt, ohne dass diese Maßnahmen ihn von der Begehung weitere Straftaten abgehalten hätten. Die letzte aktenkundig gewordene Straftat ist ein Ladendiebstahl vom 24.01.2004 (eingestellt gemäß §§ 45 Abs. 1 und 2, 47 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 JGG), den der Antragsteller beging, nachdem er vom Regierungspräsidium Freiburg bereits zu einer eventuellen Ausweisung angehört worden war. Die Lebenssituation des Antragstellers ist insgesamt von Perspektiv- und Orientierungslosigkeit gekennzeichnet. Die Feststellung der Antragsgegnerin, es deute nichts darauf hin, dass der Antragsteller künftig von weiteren Straftaten absehen werde, ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden.

2. Im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht bei der im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung auch dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Aufenthaltsbeendigung nach Widerruf der dem Antragsteller asylbedingt erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis den Vorrang eingeräumt vor dem privaten Interesse des Antragstellers, vom Vollzug der angefochtenen Verfügung vorläufig verschont zu bleiben.

a) Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats muss zwar das öffentliche Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs einer Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG (= § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG), der durch Beendigung eines Aufenthaltsrechts gravierend in Schicksal und Lebensplanung des Ausländers eingreift, über das allgemeine Interesse an dieser Maßnahme hinausgehen (vgl. Senatsbeschluss vom 11.02.2005 - 11 S 1170/04 - <juris>). Die Dringlichkeit einer Vollziehung ergibt sich dabei nicht schon daraus, dass diese Maßnahme ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung von vornherein ihren Zweck verfehlt. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Widerrufsentscheidung - ebenso wie die nachträgliche zeitliche Beschränkung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ( = § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG) - ungeachtet der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs wirksam bleibt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG = § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG) und schon dadurch ihren zuwanderungsbegrenzenden Zweck (Verhinderung weiterer rechtserheblicher Integration) weitgehend erfüllt. Daraus folgt, dass es eines über die (selbst offensichtliche) Rechtmäßigkeit des Widerrufs hinausgehenden sofortigen Vollzugsinteresses bedarf, das im Einzelfall und nach gegenwärtiger Rechtslage einen dringenden Handlungsbedarf voraussetzt. Einen solchen Handlungsbedarf hatte der Senat in dem dem Beschluss vom 11.02.2005 zugrunde liegenden Fall, in dem die von der Widerrufsentscheidung betroffenen Ausländer nicht straffällig geworden waren, sondern sozial angepasst und unauffällig in der Bundesrepublik lebten, verneint.

b) Anders sind jedoch die Verhältnisse im vorliegenden Fall zu beurteilen. Der Antragsteller ist seit 1995 kontinuierlich strafrechtlich in Erscheinung getreten, so dass die Antragsgegnerin zu Recht von einer konkreten Wiederholungsgefahr ausgehen konnte. Die bisherigen Straftaten des Antragstellers waren auch von nicht unerheblichem Gewicht. Wie die Antragsgegnerin in ihrer Begründung zur Anordnung des Sofortvollzugs zu Recht festgestellt hat, besteht daher ohne diese Anordnung die Gefahr, dass der Antragsteller in dem - auch bei größtmöglicher Beschleunigung des Widerspruchs- und des sich ggf. anschließenden Klage- und Rechtsmittelverfahrens erheblichen -Zeitraum bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung weitere Verstöße gegen das Eigentum und die körperliche Integrität anderer begeht. Damit liegt ein besonderes, über das Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Wegfall der asylbedingten Aufenthaltserlaubnis hinausgehendes öffentliches Vollzugsinteresse vor, welches das private Interesse des Antragstellers, von den Vollzugsfolgen vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt und auch für die Ausländerbehörde einen entsprechenden Handlungsbedarf begründet. Dem steht nicht entgegen, dass der Widerruf der asylbedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG selbst nicht der Gefahrenabwehr dient (vgl. Senatsbeschluss vom 11.02.2005, a.aO.). Das in den Regelfällen des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO geforderte besondere, am allgemeinen Wohl orientierte öffentliche Interesse ist ein qualitativ anderes Interesse als das für den Erlass des Verwaltungsaktes erforderliche Interesse. Ob ein solch besonderes öffentliches Sofortvollzugsinteresse vorliegt, ist durch Abwägung aller für die sofortige Vollziehung sprechenden Gründe zu ermitteln (vgl. Finkelnburg/Jank, a.a.O., Rn. 733 f. m.w.N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG. Dabei war auch für das vorläufige Rechtsschutzverfahren der volle Auffangstreitwert von 5.000,-- EUR anzusetzen, da Gegenstand des Verfahrens der Verlust eines bisher innegehabten Aufenthaltsrechts ist.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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