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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 03.02.2005
Aktenzeichen: 11 S 92/04
Rechtsgebiete: AuslG, VwGO, ARB 1/80


Vorschriften:

AuslG § 45
AuslG § 46 Nr. 2
AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 1
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 6
ARB 1/80 Art. 14
Beschwerdegründe in Gestalt rechtlicher Rügen sind im Sinne von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO "dargelegt", wenn die jeweils einschlägigen Rechtsfragen zumindest im Ansatz insoweit angesprochen werden, als sie sich nach dem Stand der damals gängigen Rechtsprechung stellten. Das Oberverwaltungsgericht hat dann Veranlassung, die angegriffene Entscheidung unter diesem rechtlichen Aspekt umfassend zu überprüfen und dabei auch spätere Veränderungen der Rechtsprechung in den Blick zu nehmen. Hingegen kann vom Beschwerdeführer grundsätzlich nicht erwartet werden, auf solche Änderungen einzugehen, die sich bei Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO weder offenkundig abzeichneten noch hinreichend absehbar waren (hier: spätere Änderung der Rechtsprechung des Bundeswaltungsgerichts zur Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger im Urteil vom 3.8.2004 - 1 C 29.02 -).
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

11 S 92/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Ausweisung und Abschiebungsandrohung

hier: vorläufiger Rechtsschutz

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schaeffer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Vondung und den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Albrecht

am 3. Februar 2005

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 27. November 2003 - 9 K 945/03 - geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 24. Mai 2003 gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Tübingen vom 22. April 2003 wird wiederhergestellt bzw. angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren und für das erstinstanzliche Verfahren - insoweit unter Abänderung des Streitwertbeschlusses des Verwaltungsgerichts - wird auf jeweils auf 4.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die fristgerecht eingelegte (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) sowie inhaltlich den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügende Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg.

1. Der Antragsteller, ein am 1.9.1977 in Bismil geborener türkischer Staatsangehöriger, der am 1.8.2001 die Verlängerung der ihm befristet erteilten Aufenthaltserlaubnis beantragt hatte, wurde zuletzt wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Diese Verurteilung hatte zur Folge, dass hinsichtlich zweier früherer Verurteilungen die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde. Der Antragsteller befand sich in der Zeit vom 7.1.2003 bis zum Oktober 2003 in Haft. Bereits mit Verfügung vom 22.4.2003 hatte das Regierungspräsidium Tübingen ihn unter Anordnung des Sofortvollzuges ausgewiesen, seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht. Das Regierungspräsidium ging in der auf § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG gestützten Ausweisungsverfügung davon aus, dass eine Ausweisung ungeachtet des dem Antragsteller aus dem Assoziationsratsbeschluss EWG-Türkei 1/80 zukommenden Ausweisungsschutzes erfolgen könne und keine atypischen Umstände gegeben seien, die eine Abweichung von der Regelausweisung rechtfertigten. Hilfsweise wurde die Ausweisungsverfügung auf Ermessenserwägungen gestützt. Der Kläger hat beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben (9 K 944/03), über die noch nicht entschieden ist. Den Antrag des Klägers, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 22.4.2003 wiederherzustellen bzw. anzuordnen, hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen mit dem angefochtenen Beschluss abgelehnt. In seiner Begründung hat es die Regelausweisung als voraussichtlich rechtmäßig bestätigt, die Frage, ob sich der Antragsteller auf die Vergünstigungen des Art. 6 oder 7 ARB 1/80 berufen kann, jedoch offen gelassen, weil jedenfalls die besonderen Anforderungen nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 an die Ausweisung erfüllt seien. Am Vorliegen einer Wiederholungsgefahr ändere sich nichts, wenn man die Entwicklung nach dem Ergehen der Ausweisungsentscheidung des Regierungspräsidiums bis zur Entscheidung des Gerichts berücksichtige.

Mit seiner Beschwerde macht der Antragsteller zusammengefasst geltend, dass aufgrund zahlreicher Besonderheiten in seinem persönlichen Bereich unter Berücksichtigung seines beanstandungsfreien Vollzugsverhaltens sowie der von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen im Beschluss vom 19.9.2003 zugestandenen Strafaussetzung zur Bewährung eine Ausnahme vom Regelfall vorliege und auch eine Wiederholungsgefahr nicht angenommen werden könne. Zu Unrecht habe das Verwaltungsgericht offen gelassen, ob dem Antragsteller eine Schutzposition nach dem ARB 1/80 zukomme.

2. Es braucht hier nicht entschieden zu werden, ob die ergangene Ausweisungsverfügung vom 22.3.2004 unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Ergehens dieser Verfügung bzw. im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtmäßig gewesen wäre oder nicht. Denn jedenfalls unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats überwiegt bei der im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO zu treffenden Interessenabwägung das private Interesse des Antragstellers, vorläufig von der sofortigen Vollziehung verschont zu bleiben das gegenläufige öffentliche Interesse des Antragsgegners am Sofortvollzug seiner Verfügung. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung bestehen zumindest derzeit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung und der damit verbundenen Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.

a) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - hat in Bezug auf die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger entschieden (Urteil vom 29.4.2004, - Rs. C-482/01 und C-493/01-, [Orfanopoulos und Oliveri] DVBl 2004, S. 876), dass es gemeinschaftsrechtlich geboten ist, den Sachvortrag, der sich nach der letzten Behördenentscheidung ergeben hat und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann, bei der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ausweisung zu berücksichtigen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein "längerer Zeitraum" zwischen dem Erlass der Entscheidung über die Ausweisung und der Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt (a.a.0). Die erwähnte Rechtsprechung des EuGH hat das Bundesverwaltungsgericht veranlasst, seine langjährige Rechtsprechung zur Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der letzten Behördenentscheidung für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer gegenüber Unionsbürgern ergangenen Ausweisungsverfügung aufzugeben und bei diesem Personenkreis nunmehr auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 -). Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3.8.2004 - 1 C 29.02 - gilt dies auch für türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei 1/80 besitzen. Nach dem letztgenannten Urteil dürfen diese türkischen Staatsangehörigen zudem nur noch auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gemäß §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. § 47 AuslG scheidet in ihrem Fall als Rechtsgrundlage aus.

b) Der Senat kann die Tatsachen, die für eine Anwendung dieser Rechtsprechung ausschlaggebend sind (das Bestehen der in Art. 6 und 7 ARB 1/80 genannten Voraussetzungen und eine daraus sich ableitende Aufenthaltsposition) im vorliegenden Beschwerdeverfahren auch prüfen. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO, wonach das Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren auf die Prüfung der - gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist - dargelegten Gründe beschränkt ist, steht deren Berücksichtigung hier nicht entgegen. Zwar hat der Antragsteller nicht innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist dargelegt, dass seine Ausweisung infolge seiner Rechtsposition aus dem ARB 1/80 nicht auf § 47 Abs. 1 AuslG gestützt werden dürfe. Auch hat er die vom Bundesverwaltungsgericht in der erwähnten Entscheidung vom 3.8.2004 entschiedenen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsfragen innerhalb dieser Frist nicht benannt und auch nicht in Beziehung zur hier streitigen Ausweisung gesetzt. Dies war indessen nach Lage der Dinge auch nicht erforderlich. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO bezweckt, das Oberverwaltungsgericht von einer amtswegigen umfassenden Überprüfung der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Eilentscheidung in den Fällen freizustellen, in denen die Beschwerdebegründung keinen hinreichenden Anlass für eine Überprüfung bietet (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Auflage § 146 VwGO Rn 43) Dahinter steht der Gedanke, dass der Beschwerdeführer selbst nicht an einer solchen Prüfung interessiert ist, soweit er sich in seiner Begründung nicht mit dem angefochtenen Beschluss auseinandersetzt. In gleicher Weise sind neue Tatsachen oder Rechtsfragen auch im Berufungszulassungsverfahren nur dann zu berücksichtigen, wenn sie innerhalb der Antragsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vorgetragen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.12.2003 - 7 AV 2/03 -, NVwZ 2004, 744; Beschluss vom 11.11.2002 - 7 AV 3/02 - NVwZ 2003, 490; Beschluss vom 14.6.2002 - 7 AV 1/02 - NVwZ-RR 2002, 894; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9.11.2004 - 11 S 2771/03 -). Im Rahmen des § 146 Abs. 4 Satz 6 ist jedoch zu berücksichtigen, dass durch die Neuordnung des vorläufigen Rechtsschutzes für die Beschwerdeinstanz dessen grundsätzliche Ausrichtung am Amtsermittlungsgrundsatz nicht aufgegeben wurde (vgl. OVG Thüringen, Beschluss vom 11.2.2003 - 3 EO 387/02 - EzAR 040 Nr. 6, S. 5). Vor diesem Hintergrund sind Beschwerdegründe in Gestalt rechtlicher Rügen (nur aber auch schon) i.S. des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO "dargelegt", wenn einschlägige Rechtsfragen zumindest im Ansatz insoweit angesprochen werden, als sie sich nach dem Stand der damals gängigen Rechtsprechung stellten. Das Oberverwaltungsgericht hat dann Veranlassung, die angegriffene Entscheidung unter diesem rechtlichen Aspekt umfassend zu überprüfen und dabei auch spätere Veränderungen der Rechtsprechung in den Blick zu nehmen. Hingegen kann vom Beschwerdeführer grundsätzlich nicht erwartet werden, auf solche Änderungen einzugehen, wenn sie sich bei Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO weder offenkundig abzeichneten noch hinreichend absehbar waren. Gemessen hieran hat der Antragsteller die Darlegungsvoraussetzungen erfüllt, die erforderlich sind, um die Vereinbarkeit der streitigen Ausweisungsverfügung mit dem Assoziationsrecht überprüfen zu können. Denn die Diskussion, inwieweit das Gemeinschaftsrecht eine Neubewertung der bisherigen Rechtsprechung zur Ausweisung türkischer Staatsangehöriger mit Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 veranlasst, wurde für eine breitere Fachöffentlichkeit erst durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 29.4.2004 (a.a.O) angestoßen. Die Beschwerdebegründungsfrist war zu diesem Zeitpunkt aber schon längst abgelaufen. Im Falle des Antragstellers genügte es daher, dem Beschwerdegericht durch einen entsprechenden Tatsachenvortrag zur Frage eines seiner Ansicht nach bestehenden Aufenthaltsrechts nach ARB 1/80 Veranlassung zu geben, die angegriffene Entscheidung auch unter diesem Aspekt zu überprüfen. Dies ist hier geschehen. Der Antragsteller hat sich innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist darauf berufen, ein Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 zu besitzen. Aus dem genannten Grund ist es jedenfalls in seinem Fall unerheblich, dass er aus diesen Tatsachenvortrag nicht schon damals die notwendigen rechtlichen Schlüsse, die erst nach Ergehen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 3.8.2004 (a.a.O.) klar zutage getreten sind, gezogen hat.

c) Der Antragsteller kann sich hier aller Voraussicht nach auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen. Zwar ist offen, ob er vor seiner Inhaftierung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 erster und zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 ein bzw. drei Jahre ordnungsgemäß bei einem Arbeitgeber beschäftigt war. Offenbar hat er zuletzt ab September 2002 bis zu seinem Haftantritt im Mai 2003 im Bistro seines Bruders in xxxxxxxxxx gearbeitet. Nach derzeitigem Erkenntnisstand hat er diese Arbeit jedenfalls nach seiner Haftentlassung wieder aufgenommen, so dass die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 zumindest nunmehr erfüllt sein dürften. Unabhängig davon dürfte der Antragsteller auch ein Aufenthaltsrecht aufgrund Art. 7 ARB 1/80 besitzen, da er im Oktober 1978 im Wege der Familienzusammenführung zu seinen bereits in Deutschland lebenden Eltern eingereist ist. Die Eltern dürften - vorbehaltlich einer ggf. erforderlichen detaillierten Überprüfung dieser Frage, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss - dem regulären Arbeitsmarkt in Deutschland angehört haben. Vor dem Hintergrund, dass auch der Antragsgegner in seinem Bescheid ersichtlich davon ausgegangen ist, dass der ARB 1/80 auf den Antragsteller Anwendung findet und sich weder im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht noch im Beschwerdeverfahren hierzu neuere Erkenntnisse ergeben haben, spricht Überwiegendes dafür, dass dem Antragsteller diese Rechtsposition zukommt.

d) Nach der genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung des Antragsgegners, dass eine Wiederholungsgefahr derzeit noch besteht und die auf die Annahme einer solchen Widerholungsgefahr gestützten Ermessenserwägungen des Antragsgegners, die auf S. 7 des Bescheides hilfsweise angestellt wurden, die Ausweisungsverfügung im Ergebnis auch derzeit noch zu tragen vermögen. Dies ist hier nicht der Fall. Die Ermessenserwägungen des Antragsgegners beziehen sich auf den Zeitpunkt des Ergehens der Ausweisungsverfügung im April 2003 und wurden während des Beschwerdeverfahrens nicht aktualisiert. Ob eine Wiederholungsgefahr aus den in den Ermessenerwägungen der Ausweisungsverfügung genannten Gründen bis heute fortbesteht, lässt sich derzeit nicht mehr ohne weiteres feststellen. Der Antragsteller wurde bereits im Oktober 2003 aus der Strafhaft entlassen und ist - zumindest nach Aktenlage und nach dem Beschwerdevorbringen der Beteiligten - seitdem nicht erneut straffällig geworden. Der Senat betont, dass eine anderthalbjährige Wohlverhaltensphase für sich genommen nicht ausreichen würde, um die aufgrund der zahlreichen Straftaten des Antragstellers anzunehmende Wiederholungsgefahr infolge einer neueren Entwicklung als überholt ansehen zu können. Vorliegend ist jedoch zusätzlich zu bedenken, dass der Antragsteller - wie sich aus dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen vom 19.9.2003 ergibt - seine Alkoholproblematik weitgehend überwunden zu haben scheint. Seine bisherige Strafrechtskarriere ist zumindest auch durch die damals bestehende Alkoholproblematik zu erklären. In Ergänzung zur Würdigung des Landgerichts ist aus der im Beschwerdeverfahren vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme der Dr. med. xxxxx und xxxxxxx vom 19.1.2004 zu entnehmen, dass die vom Antragsteller begangenen Delikte möglicherweise im Zusammenhang mit einer bei ihm diagnostizierten, durch den Tod seiner Schwester ausgelösten schweren psychischen Krise zu sehen sind. Der Senat steht Versuchen, ein in der Vergangenheit unangepasstes Verhalten im Nachhinein mit einschneidenden persönlichen Erlebnissen erklären zu wollen, zwar kritisch gegenüber. Dem Antragsteller wird hier aber immerhin eine Ich-Störung (Derealisation, Depersonalisation, pathologische Trauer) bescheinigt und es fällt auf, dass er, nachdem er sich zunächst unauffällig im Bundesgebiet verhalten hat, erstmals nach dem Tod seiner Schwester (im April 1998) straffällig geworden ist. Die erste aktenkundige Straftat wurde im April 1999 begangen. Die aufgezeigte Sondersituation scheint derzeit nicht mehr zu bestehen. Dem Antragsteller wird in der genannten fachärztlichen Stellungnahme aus psychologischer Sicht eine gute Prognose "im Hinblick auf Gesetzestreue, soziale Entwicklung und Vervollständigung menschlicher Reifung" bescheinigt. Nicht ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Antragsteller - wie er unwidersprochen vorträgt - offenbar über einen Arbeitsplatz verfügt und zwischenzeitlich verlobt ist. Vor dem genannten Hintergrund dürfte sich die Sachlage derart verändert haben, dass eine aktuelle Entscheidung über das - möglicherweise fragliche - Fortbestehen einer Wiederholungsgefahr erforderlich ist. Eine solche Entscheidung des Antragsgegners steht derzeit aus. Seine Beschwerdeerwiderung vom 23.1.2004 enthält insoweit keine erneute Bewertung der Wiederholungsgefahr, sondern beschränkt sich auf eine Erläuterung der ergangenen Ausweisungsverfügung.

Der Senat weist darauf hin, dass es dem Antragsgegner im Hauptsacheverfahren unbenommen bleibt, seine Ermessensentscheidung in der gebotenen Weise zu vervollständigen und zu aktualisieren. Er wird zu diesem Zweck die hier nur aufgrund der Aktenlage gewürdigten Umstände einer kritischen Überprüfung zu unterziehen haben. Der Antragsgegner hat auch jederzeit die Möglichkeit, hinsichtlich des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens beim Gericht der Hauptsache gemäß § 80 Abs. 7 VwGO ein Abänderungsverfahren einzuleiten, sofern sich die hier zugrunde gelegte Sachlage als falsch herausstellen sollte.

3. Ist demnach die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers hinsichtlich der für sofort vollziehbar erklärten Ausweisungsverfügung wieder herzustellen, so besteht mit Blick auf die Unsicherheit über das Vorliegen der Ausreisepflicht (vgl. §§ 42 Abs. 1, 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG) Veranlassung, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs auch gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO, § 12 LVwVG) anzuordnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 25 Abs. 2 Satz 1, 13 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F. (vgl. § 72 Nr. 1 GKG i.d.F. des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5.5.2004, BGBl. S. 718).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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