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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 28.06.2007
Aktenzeichen: 13 S 1045/07
Rechtsgebiete: AuslG, AufenthG, LVwVfG, EMRK, BVerfGG


Vorschriften:

AuslG § 47
AufenthG § 102
LVwVfG § 48
EMRK Art. 8
BVerfGG § 79
1. Auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG gebietet es Art. 8 EMRK nicht in jedem Falle, zeitgleich bei Erlass einer Ausweisungsverfügung über die Befristung von deren Wirkungen zu entscheiden.

2. Weder nationales Recht noch Gemeinschaftsrecht oder die Bestimmungen der EMRK begründen einen Anspruch auf Rücknahme einer bestandskräftig gewordenen gemeinschaftsrechtswidrigen Ausweisung. Auch aus § 79 BVerfGG folgt kein zwingender Rücknahmeanspruch (Bestätigung und Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Senats mit Urteil vom 24.1.2007 - 13 S 451/06, InfAuslR 2007, 182)


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

13 S 1045/07

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Rücknahme der Ausweisung

hat der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

am 28. Juni 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. September 2006 - 9 K 2997/05 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger und im Jahre 1942 in Italien geboren; er ist Vater von acht erwachsenen Kindern, von denen vier in der Bundesrepublik Deutschland leben. Er zog im Jahre 1967 zur Arbeitsaufnahme ohne seine Familie in die Bundesrepublik Deutschland, wo er sich bis zu seiner Ausweisung aufhielt. Während seines Aufenthalts in der Bundesrepublik ging der Kläger verschiedenen abhängigen Berufstätigkeiten nach, teilweise war er auch selbständig, u.a. als Eisverkäufer, tätig. Seit dem 1.6.2007 bezieht der Kläger eine Regelaltersrente in Höhe von monatlich 187,57 EUR. Für seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik verfügte der Kläger ursprünglich über eine mehrmalig verlängerte befristete Aufenthaltserlaubnis, anschließend über eine befristete Aufenthaltserlaubnis-EG, welche zuletzt bis zum 8.9.1999 gültig war. Nach seiner Haftentlassung beantragte der Kläger am 12.4.2000 die Verlängerung der ihm zuletzt erteilten Aufenthaltserlaubnis-EG.

Seit dem Jahre 1974 wurde der Kläger im Bundesgebiet mehrfach straffällig und verurteilt. Es handelt sich u.a um mehrere Diebstahlsdelikte, Beleidigung, fahrlässige Körperverletzung, Verkehrsunfallflucht sowie um einen Verstoß gegen das Lebensmittelgesetz. Mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 21.10.1982 wurde der Kläger wegen versuchter beabsichtigter schwerer Körperverletzung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Diese Strafe verbüßte der Kläger ab dem 1.6.1982 bis zum 2/3-Zeitpunkt, danach wurde die Reststrafe zunächst zur Bewährung ausgesetzt und nach erfolgter Bewährung erlassen. Mit Urteil vom 21.12.1998 (rechtskräftig seit dem 29.12.1998) verurteilte das Amtsgericht Heilbronn den Kläger wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten, die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der Kläger wurde zum 2/3-Zeitpunkt aus dem Strafvollzug entlassen, nachdem die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Tübingen mit Beschluss vom 21.12.1999 den Strafrest zur Bewährung aussetzte. Bereits nach der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren wegen versuchter beabsichtigter schwerer Körperverletzung durch das Landgericht Stuttgart wies die Landeshauptstadt Stuttgart den Kläger mit Bescheid vom 6.8.1986 aus dem Bundesgebiet aus. Im Widerspruchsverfahren wurde ein Vergleich abgeschlossen, wonach er nicht abgeschoben und die Wirkung der Ausweisung befristet werde, soweit er Nachweise über ein straffreies Leben beibringen könne.

Mit Bescheid vom 29.5.2000 wies das Regierungspräsidium Stuttgart - Bezirksstelle für Asyl - den Kläger unter Anordnung des Sofortvollzugs aus dem Bundesgebiet aus, lehnte seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG bzw. auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung ebenfalls unter Anordnung des Sofortvollzugs ab und drohte ihm die Abschiebung aus der Haft heraus nach Italien an. Dabei ging das Regierungspräsidium davon aus, dass die von dem Kläger begangenen und rechtskräftig abgeurteilten Straftaten einen Grund der öffentlichen Ordnung im Sinne des damals geltenden § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG darstellten, welcher die Ausweisung des Klägers rechtfertige. Die Ausweisung erfolge nicht allein wegen einer strafrechtlichen Verurteilung, sondern wegen der hohen Gefährlichkeit des Klägers, die sich an seinen bisherigen Straftaten, insbesondere seinen Gewaltstraftaten gezeigt habe. Der Ausweisung stehe die Schutzbestimmung des § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG nicht entgegen, da sie wegen der Häufigkeit und zuletzt der Schwere der Straftaten sowie einer konkret festgestellten Wiederholungsgefahr verfügt werde. Deswegen seien die nationalen Ausweisungsvorschriften gemäß § 45 ff. AuslG anwendbar. Aufgrund der Verurteilung durch das Amtsgericht Heilbronn vom 21.12.1998 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten habe der Kläger den Regelausweisungstatbestand des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG verwirklicht. Der Kläger genieße weder nach § 48 Abs. 1 noch gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 AufenthG/EWG besonderen Ausweisungsschutz, da er insbesondere nicht über die erforderliche unbefristete Aufenthaltserlaubnis-EWG verfüge. Da kein besonderer Ausweisungsschutz gemäß § 48 Abs. 1 AuslG bestehe, werde die Regel-Ausweisung nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG nicht gemäß § 47 Abs. 3 Satz 2 AuslG zu einer Ermessens-Ausweisung herabgestuft; es verbleibe bei der Regelwirkung des § 47 Abs. 2 AuslG. Eine atypische Sonderkonstellation, die ein Absehen von dieser Regelwirkung ermögliche, sei im Falle des Klägers nicht gegeben; insbesondere stelle die lange Dauer des Aufenthalts keine derartige atypische Situation dar. Selbst falls die Voraussetzungen für eine Regelausweisung nicht vorlägen, werde die Ausweisung nach Ermessen verfügt.

Nach Entlassung aus der Strafhaft und Erlass der Ausweisung, welche vom Kläger nicht angefochten wurde, reiste er nach seinen eigenen Angaben am 8.10.2000 nach Italien aus, kehrte jedoch im Frühjahr 2004 in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Er wurde daraufhin festgenommen und am 22.9.2004 nach Italien abgeschoben, worauf er nach seinen eigenen Angaben am 1.4.2005 erneut in die Bundesrepublik Deutschland einreiste.

Der Kläger beantragte am 15.4.2005 die Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 29.5.2000 sowie die Bestätigung, dass diese Verfügung unwirksam sei. Er machte geltend, dass diese Ausweisungsverfügung entgegen der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als Regelausweisung im Sinne von § 47 AuslG verfügt worden sei, so dass eine Rücknahmeverpflichtung bestehe.

Mit Bescheid vom 8.9.2005 lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 29.5.2000 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 LVwVfG für den Erlass einer die Ausweisungsverfügung betreffenden Rücknahmeverfügung lägen nicht vor. Die Ausweisungsverfügung sei rechtmäßig ; sie sei in zulässiger Weise als rein spezialpräventiv begründete Maßnahme verfügt worden und habe den Anforderungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, insbesondere auch dem in § 12 AufenthG/EWG statuierten besonderen Ausweisungsschutz, genügt. Zwar sei die Ausweisungsverfügung auf der Grundlage des § 47 Abs. 2 AuslG als Regelausweisung verfügt worden, das Regierungspräsidium habe bei ihrem Erlass jedoch zumindest hilfsweise Ermessen ausgeübt, auch sei eine erhebliche konkrete Wiederholungsgefahr festgestellt worden. Mit Bescheid vom 26.9.2005 befristete das Regierungspräsidium Stuttgart die Sperrwirkungen der Ausweisung auf diesen Tag.

Auf die am 13.9.2005 beim Verwaltungsgericht erhobene Klage, mit der der Kläger beantragt hat,

den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 8.9.2005 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung vom 29.5.2000 zurückzunehmen,

hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 29.9.2006 - 9 K 2997/05 -den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 8.9.2005 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 29.5.2000 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. In den Entscheidungsgründen hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, der Beklagte sei in seinem versagenden Bescheid vom 8.9.2005 zu Unrecht von der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers ausgegangen und habe deshalb unzutreffender Weise das Vorliegen einer Rücknahmemöglichkeit verneint. Das Gericht gehe mit dem Beklagten zwar davon aus, dass die Ausweisung nicht aus materiell-rechtlichen Gründen zu beanstanden sei. Insbesondere habe der Beklagte den Kläger nicht allein auf der Grundlage der Regelwirkung des § 47 Abs. 2 AuslG in Anknüpfung an die abgeurteilten Straftaten ausgewiesen. Vielmehr habe er hilfsweise eine reine Ermessensentscheidung getroffen, die nach Auffassung des Verwaltungsgerichts auch bei Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht zu beanstanden sei. Gegen das Ergebnis der Ermessensentscheidung wende der Kläger zu Unrecht ein, die Ausweisung verstoße gegen Art. 28 Abs. 3a der RL 2004/38/EG. Diese Richtlinie habe zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, nämlich dem des Eintritts der Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung, noch gar nicht existiert, so dass sie keine Anwendung beanspruchen könne. Die Ausweisung sei auch nicht deshalb materiell-rechtlich zu beanstanden, weil der dort geprüfte § 12 AufenthG/EWG nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27.4.2006 (Rs C-441/02, InfAuslR 2006, 295) gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Zwar habe der Gerichtshof in dieser Entscheidung tatsächlich einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht darin festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland in § 12 AufenthG/EWG die vom Gemeinschaftsrecht für die Beschränkung der Freizügigkeit aufgestellten Voraussetzungen nicht hinreichend umgesetzt habe. Diese Feststellung habe entgegen der Meinung des Klägers aber nicht zur Folge, dass sämtliche unter Geltung der Vorschrift ergangenen Ausweisungen gegen Unionsbürger allein deshalb rechtswidrig wären, weil bei ihnen zwingend die Voraussetzungen des § 12 AufenthG/EWG zu prüfen gewesen seien. Die Ausweisung vom 29.5.2000 sei jedoch in formeller Hinsicht rechtswidrig, da sie gegen die gemeinschaftsrechtliche Verfahrennorm des Art. 9 Abs. 1 der RL 64/221/EWG verstoßen habe. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und der ihr folgenden Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 13.9.2005 - 1 C 7.04 - und vom 16.10.2005 - 1 C 5.04 -) werde in Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige außer in dringenden Fällen gegen die Verfahrensgarantie des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verstoßen, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfinde noch sonst eine unabhängige zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet worden sei. Hieraus folge, dass nach der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens bei von den Regierungspräsidien verfügten Ausweisungen die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde nicht gewährleistet gewesen sei. Da ein dringender Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie im Falle des Klägers zweifellos nicht vorgelegen habe, sei die Ausweisung wegen Verstoßes gegen diese Verfahrensvorschrift unheilbar nichtig.

Dem Kläger stehe trotz der Rechtswidrigkeit der gegen ihn ergangenen Ausweisung vom 29.5.2000 lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über deren Rücknahme, nicht jedoch ein unbedingter Rücknahmeanspruch zu. Gemäß § 48 Abs. 1 LVwVfG stehe die Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde, so dass ein gebundener Anspruch auf Rücknahme lediglich im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null gegeben sei. Eine solche komme lediglich unter einschränkenden Voraussetzungen, etwa im Hinblick auf Art. 3 GG im Falle einer Selbstbindung der Behörde oder, wenn Europäisches Gemeinschaftsrecht betroffen sei, aus Gründen des gemeinschaftsrechtlichen Effizienzgebots in Betracht. Beide Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Dadurch, dass der Beklagte die Wirkungen der Ausweisung mit Bescheid vom 26.9.2005 auf dieses Datum befristet habe, genieße der Kläger zum gegenwärtigen Zeitpunkt wieder volle Freizügigkeit, sodass weder von einer unzumutbaren Beeinträchtigung des Klägers auszugehen sei noch das gemeinschaftsrechtliche Effizienzgebot die Rücknahme der Ausweisung zwingend gebiete. Auch der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lasse sich nichts für eine gebotene Ermessensreduzierung auf Null entnehmen.

Mit Beschluss vom 3.5.2007 (Zustellung an den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 9.5.2007) hat der Senat dem Kläger gegen die Versäumung der Frist für den Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und die Berufung zugelassen. Mit dem am 16.5.2007 eingegangenen Berufungsbegründungsschriftsatz, der auch auf das Vorbringen im Zulassungsverfahren Bezug genommen hat, beantragt der Kläger,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29.9.2006 abzuändern und den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 8.9.2005 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung vom 29.5.2000 zurückzunehmen.

Zur Begründung des Berufungsantrags trägt der Kläger vor, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Ausweisungsverfügung vom 29.5.2000 lediglich gegen formelles Recht verstoße und habe deshalb den geltend gemachten unbedingten Rücknahmeanspruch abgelehnt. Die Ausweisung sei auf die Bestimmung des § 12 AufenthG/EWG gestützt worden, welche der Europäische Gerichtshof als gemeinschaftsrechtswidrig eingestuft habe. Diese Bestimmung überhöhe die Bedeutung formaler Kriterien für den Ausweisungsschutz und schenke der Aufenthaltsdauer zu geringe Bedeutung, was dazu geführt habe, dass in seinem Falle kein besonderer Ausweisungsschutz angenommen worden sei. Auch habe der Beklagte bei Erlass der Ausweisung dem Umstand, dass seine Verurteilung zur Bewährung ausgesetzt worden sei, nicht die nötige Beachtung geschenkt und in rechtswidriger Weise die Strafakten nicht beigezogen bzw. den Vollstreckungsverlauf nicht in seine Prognoseentscheidung einbezogen. Ferner habe die Ausweisung gegen die Schutzbestimmung des Art. 28 Abs. 3a der RL 2004/38/EWG verstoßen, wonach nach einem über zehnjährigen Inlandsaufenthalt die Ausweisung eines Unionsbürgers nur noch aus Gründen der Sicherheit des Staates zuzulassen sei. Die unbefristet verfügte Ausweisung verstoße gegen Art. 8 EMRK, da nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs eine Rechtspflicht bestehe, schon bei Erlass einer in Art. 8 EMRK eingreifenden Verfügung deren Befristung mit zu prüfen. Gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßende Verfügungen dürften nicht vollstreckt werden, insoweit gleiche der Sachverhalt demjenigen der Vollsteckung verfassungswidriger zivilrechtlicher Gerichtsentscheidungen. Die von dem Beklagten vorgenommene Befristung der Ausweisung stelle bereits deshalb keine Alternative zur zwingend gebotenen Rücknahme seiner Ausweisung dar, weil er aufgrund des zu niedrigen Rentenbezugs keinen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf Zuzug in das Bundesgebiet habe.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt er vor, die von dem Kläger als grundsätzlich aufgeworfene Rechtsfrage, ob der formalrechtliche Verstoß gegen die Verfahrensgarantie des Art. 9 RL 64/221/EWG eine Rücknahme der Ausweisung gebiete, sei in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits entschieden worden. Auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage bestehe nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lediglich dann ein unbedingter Anspruch auf Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts, wenn bei dessen Erlass die Rechtswidrigkeit offen zu Tage getreten sei, wovon im gegenständlichen Fall nicht ausgegangen werden könne. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung im Mai 2000 habe ein offensichtlicher Rechtsverstoß gegen Art. 9 RL 64/221/EWG nicht vorgelegen, da nach einhelliger Auffassung zu diesem Zeitpunkt von einem dringenden Fall im Sinne der Richtlinie auszugehen gewesen sei, wenn die Ausländerbehörde den Sofortvollzug der Maßnahme angeordnet habe.

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Dem Senat liegen die den Kläger betreffenden Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart sowie der unteren Ausländerbehörde (2 Band) vor. Auf diese Akten wird ebenso wie auf die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts verwiesen; diese Akten waren Gegenstand der Beratung.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung über die Berufung des Klägers entscheiden, da beide Beteiligte auf mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige, insbesondere rechtzeitig begründete Berufung (§ 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) hat in der Sache keinen Erfolg. Dem Kläger steht der geltend gemachte, über die vom Verwaltungsgericht Stuttgart bereits mit Urteil vom 29.9.2006 rechtskräftig ausgesprochene Bescheidungsverpflichtung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts hinausgehende unbedingte Rücknahmeanspruch nicht zu (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Dem Kläger steht nach wie vor ein Rechtsschutzbedürfnis für die von ihm begehrte Rücknahme der Ausweisungsverfügung mit ex-tunc-Wirkung zu, obwohl der Beklagte nunmehr die Sperrwirkungen der Ausweisung mit Bescheid vom 26.9.2005 auf diesen Tag befristet hat. Ein Interesse des Klägers an der rückwirkenden Aufhebung der Ausweisung ergibt sich bereits daraus, dass zahlreiche Vorschriften an den ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt eines Ausländers positive Rechtsfolgen anknüpfen, so etwa der in § 10 StAG statuierte Anspruch auf Einbürgerung oder die besonderen Ausweisungsschutz vermittelnde europarechtliche Bestimmung des Art. 28 Abs. 3a der RL 2004/38/EG.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht für die im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der mangels Klageerhebung bestandskräftig gewordenen Ausweisung des Klägers auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung am 29.5.2000 abgestellt; da der Kläger jedenfalls zu diesem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war, konnte offenbleiben, inwieweit eine erst später eintretende Rechtswidrigkeit ein Rücknahmeverfahren eröffnen kann (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 28.10.2004 - 1 C 13.03 -, NVwZ-RR 2005, 341; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.9.2001 - 8 S 461/01 -, VBlBW 2002, 208, 209).

Der Senat kann ferner offenlassen, ob die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger nicht nur - wie vom Verwaltungsgericht inzident angenommen - aus formellen Gründen wegen einem Verstoß gegen Art. 9 RL 64/221/EWG als rechtswidrig anzusehen ist, sondern ob auch ein Verstoß gegen materielles Gemeinschaftsrecht vorliegt. Nicht zu folgen vermag der Senat freilich der Annahme des Klägers, es hätten im Wege der sogenannten Vorwirkung bereits bei Erlass der Ausweisungsverfügung im Jahre 2000 die materiellen Voraussetzungen der weitaus später in Kraft getretenen RL 2004/38/EG gegolten. Die Umsetzungsfrist der erst am 29.4.2004 erlassenen Richtlinie lief gemäß deren Art. 28 Abs. 2 und Art. 40 Abs. 1 erst am 30.4.2006 ab, Rückwirkung kann ihr nicht beigemessen werden (vgl. hierzu ausführlich Beschluss des Niedersächsischen OVG vom 30.5.2006 - 11 LA 147/05 - NVwZ 2006, 1302). Unabhängig hiervon steht dem Kläger selbst in dem Fall, dass seine Ausweisung auch gegen materiell-rechtliche Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts verstoßen haben sollte, lediglich der vom Verwaltungsgericht zugesprochene Bescheidungsanspruch, nicht jedoch ein unbedingter Anspruch auf Rücknahme seiner Ausweisung zu. Weder nationales Recht (1.) noch Gemeinschaftsrecht (2.) oder sonstiges höherrangiges Recht (3.) gebieten es im vorliegenden Fall dem beklagten Land, die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung zurückzunehmen; auch besteht kein zwingender Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 LVwVfG (4.).

1. Nach nationalem Recht räumt § 48 Abs. 1 LVwVfG dem Antragsteller lediglich ein subjektiv-öffentliches Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung hinsichtlich der Entscheidung über die Ausübung der Rücknahmebefugnis ein (vgl. hierzu ausführlich m.w.N. Urteil des Senats vom 24.1.2007 - 13 S 4516 - InfAuslR 2007,182). Ein Rechtsanspruch auf Rücknahme kommt nur dann in Betracht, wenn das Ermessen der Behörde angesichts der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalles auf Null reduziert wäre. Eine derartige Reduktion des Ermessens ist regelmäßig nur dann zu bejahen, wenn ein Aufrechterhalten des ursprünglichen Verwaltungsakts unerträglich wäre bzw. für den Betroffenen unzumutbare Folgen hätte (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 -, DÖV 2005, 651 m.w.N.). Insbesondere erscheint die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung auch nicht deswegen im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung als "schlechthin unerträglich", weil die zur Annahme der Rechtswidrigkeit führende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den bei der Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern zu beachtenden formellen Anforderungen, insbesondere gemäß Art. 9 der RL 64/221/EWG, erst Jahre nach dem Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt wurde. Auch erscheint es nicht schlechterdings unerträglich, den Kläger zur Beseitigung der Sperrwirkungen der Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf die - nunmehr erfolgte - nachträgliche Befristung zu verweisen. Ferner ergibt sich eine Ermessensreduzierung nicht aus dem Verhalten der Behörde selbst oder daraus, dass das Rücknahmeinteresse des Betroffenen eindeutig und offensichtlich schwerer wiegen würde als das öffentliche Interesse an einer Rücknahme. Im übrigen kann in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger die gegen ihn ergangene Ausweisungsverfügung mangels Klageerhebung bestandskräftig werden ließ.

Der Kläger kann die Rücknahme der gegen ihn ergangenen Ausweisungsverfügung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der (deklaratorischen) Aufhebung einer unwirksamen oder unwirksam gewordenen Verfügung erreichen. Zwar ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei einem unwirksamen - oder: wie hier allenfalls unwirksam gewordenen -Verwaltungsakt eine klarstellende behördliche Rücknahme des Verwaltungsakts möglich und aus Gründen der Beseitigung des Rechtsscheins gegebenenfalls auch erforderlich sein kann (vgl. hierzu Bay. VGH, Urteil vom 12.10.1989 - 26 B 86.02944 -, NVwZ-RR 1991, 117; Hess. VGH, Urteil vom 29.3.2006 - 6 UE 2874/04 - juris; Urteil des Senats vom 24.1.2007, a.a.O.). Dahingestellt kann bleiben, ob der Kläger bei der gebotenen sachdienlichen Auslegung (§§ 86 Abs. 3, 88 VwGO) nicht nur einen denkbaren Rücknahmeanspruch nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG wegen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, sondern auch wegen etwaiger Unwirksamkeit der Ausweisung gestellt hat. Denn die Voraussetzungen eines solches "Rücknahme"-Anspruchs sind nämlich nicht gegeben.

Bei Erlass der Ausweisungsverfügung und auch in der Folgezeit bis zum Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU lag kein Grund für die Annahme von Unwirksamkeit (siehe § 43 Abs. 1 und 2 LVwVfG) oder gar von Nichtigkeit (§ 43 Abs. 3 i.V.m. § 44 LVwVfG) der Ausweisungsverfügung vor; dies liegt für den Senat auf der Hand und bedarf keiner näheren Ausführungen. Wie der Senat in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 24.1.2007 (- 13 S 451/06 -; a.a.O.) im einzelnen näher dargelegt hat und worauf zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, sind jedenfalls bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügungen auch nicht durch Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes zum 1.1.2005 unwirksam geworden.

2. Auch europäisches Gemeinschaftsrecht verpflichtet den Beklagten nicht zur Rücknahme der Ausweisungsverfügung. Wie der Senat in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 24.1.2007 (13 S 451/06) unter ausführlicher Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EuGH darstellt, begründet Gemeinschaftsrecht in Fällen der vorliegenden Art keinen unbedingten Rücknahmeanspruch. Vielmehr sind vom nationalen Recht vorgesehene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung - mit der Folge der Bestandskraft bei Nichteinhaltung dieser Fristen - grundsätzlich auch mit Gemeinschaftsrecht vereinbar, weil sie ein Anwendungsfall des auch für das Gemeinschaftsrecht grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit sind. Selbst bei einem Verstoß gegen materielles Europarecht ist danach eine Rücknahme nicht schlechterdings geboten, vielmehr besteht lediglich eine gemeinschaftsrechtliche Prüfungs- oder Rücknahmepflicht in dem Rahmen, den auch das nationale Recht vorsieht (vgl. Urteil des Senats vom 24.1.2007, a.a.O.; umfassend Rennert, DVBl. 2004, 400; Ruffert, JZ 2007, 407). Bereits oben ist ausgeführt worden, dass unter dem Gesichtspunkt des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG die Aufrechterhaltung der gegen den Kläger ergangenen Ausweisung nicht "schlechterdings unerträglich" ist, eine Rücknahmepflicht insoweit also nicht besteht, und diese Überlegungen gelten auch im hier interessierenden Zusammenhang. Der Verzicht des Klägers auf Rechtsbehelfe und die Tatsache, dass der Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht keineswegs offensichtlich war, steht auch hier der der Annahme einer unbedingten Rechtsverpflichtung zur Rücknahme entgegen. Von besonderer Gravität oder gar (zusätzlicher) Offensichtlichkeit eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes kann unter diesen Gesichtspunkten ohnehin nicht ausgegangen werden. Da der Kläger nach der Ausweisungsverfügung nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war und das Bundesgebiet sogar vom Oktober 2000 bis zum August 2004 und erneut von September 2004 bis April 2005 für lange Zeit verlassen hatte, ist auch nicht ersichtlich, dass die Anwendung des nationalen Verfahrensrechts bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu entscheidenden Wirkungsverlusten oder gar zur Umgehung des Gemeinschaftsrechts führen würde. Im übrigen ist jedenfalls dem sekundären Gemeinschaftsrecht die Aufspaltung in Verlust des Freizügigkeitsrechts einerseits und nachfolgende Befristung dieser Wirkung andererseits nicht fremd. So sieht Art. 32 Abs. 1 der RL 2004/38/EG vor, dass ein Unionsbürger, der sein Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verloren hat, einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots unter Hinweis auf veränderte Umstände stellen kann. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob der Kläger - wie von ihm vorgetragen - zum derzeitigen Zeitpunkt aufgrund seines niedrigen Rentenbezugs einen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf Zuzug in das Bundesgebiet hat oder nicht. Eine hieran etwa scheiternde Freizügigkeitsberechtigung des Klägers ist nicht Folge der Ausweisung, deren Sperrwirkungen gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG von der Beklagten wie dargestellt befristet worden sind. Wie der Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 7.9.2004 (C 456/02 - Trojani -, Rn 36, InfAuslR 2004, 417) zu den "Beschränkungen und Bedingungen" der Freizügigkeit im Sinne des Art. 18 Abs. 1 EG ausgeführt hat, erwächst dem Unionsbürger bei Fehlen ausreichender Existenzmittel im Sinne der RL 90/364/EWG kein Recht zum Aufenthalt; diese Formulierung legt den Schluss zumindest nahe, dass bei Nichterfüllung dieser Beschränkungen und Bedingungen die Unionsbürgerschaft allein keine Freizügigkeitsberechtigung vermittelt.

3. Entgegen der Annahme des Klägers begründen auch die Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 II, 696, 953/19542, S. 14) keinen unbedingten Anspruch auf Rücknahme der gegen ihn ergangenen Ausweisungsverfügung. Zum einen verstößt die Ausweisung nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (3.1), zum anderen begründet ein etwaiger Verstoß gegen die materiellen Schutzbestimmungen der EMRK nicht in jedem Falle ein entsprechendes Vollstreckungsverbot und vor allem nicht einen hiermit korrespondierenden unbedingten Rücknahmeanspruch (3.2).

3.1. Nicht zu folgen vermag der Senat der Annahme des Klägers, wonach die Ausweisungsverfügung vom 29.5.2000 bereits deshalb gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK verstößt, weil nicht zeitgleich bei ihrem Erlass über eine Befristung der Ausweisungswirkungen entschieden wurde. Der Senat hält an seiner - dem Prozessbevollmächtigten des Klägers bekannten -Rechtsprechung fest, dass das Aufenthaltsgesetzt, das eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung nur auf Antrag vorsieht, weder zu Art. 8 EMRK noch zu der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Widerspruch steht und die Ausländerbehörde deshalb eine Ausweisungsverfügung erlassen darf, ohne zugleich von Amts wegen über eine Befristung zu entscheiden. Den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) lässt sich weder entnehmen, dass die Befristungsentscheidung stets zusammen mit der Ausweisungsentscheidung getroffen werden muss noch dass die Befristung nicht von einem entsprechenden Antrag abhängig gemacht werden darf. Eine - durch die Ausweisung mit zunächst unbefristeter Sperrwirkung möglicherweise ausgelöste - unverhältnismäßige Einschränkung der persönlichen Lebensführung des Ausländers wird dadurch verhindert, dass der Ausländer für den Regelfall einen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung, insbesondere des Einreise- und Aufenthaltsverbots, hat. Denn der EGMR betont stets, dass es sich um eine Entscheidung im Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Umstände handelt (vgl. m.w.N. Beschluss des Senats vom 20.3.2007 - 13 S 850/06 -). Auch dem vom Kläger lediglich in englischer Sprache vorgelegten Urteil des EGMR vom 22.3.2007 - 1638/03 -(Maslov) lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen; vielmehr bestätigt der Gerichtshof in dieser Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung, wonach eine umfassende Einzelfallbetrachtung und Abwägung geboten ist, wobei einer etwa erfolgten Befristung nicht unerhebliches Gewicht zukommt. Der Fall des Klägers unterscheidet sich dabei bereits in Anbetracht der zahlreichen von ihm begangenen Straftaten gegen unterschiedliche Rechtsgüter und vor allem auch der Tatsache, dass sich der Kläger weder durch die Verurteilung des Landgerichts Stuttgart vom 21.10.1998 zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe noch durch deren nachfolgende teilweise Verbüßung von der Abhaltung weiterer, gegen die körperliche Unversehrtheit gerichteter Straftaten abhalten ließ, von den vom EGMR explizit beurteilten Fällen (13/10). Auch das Bundesverfassungsgericht geht im übrigen entgegen der Annahme des Klägers nicht davon aus, dass die Sperrwirkungen einer Ausweisung aufgrund der Bestimmung des Art. 8 Abs. 1 EMRK in jedem Falle zeitgleich mit deren Erlass befristet werden müssten. Vielmehr führt das Bundesverfassungsgericht in seinem den Beteiligten bekannten Beschluss vom 10.5.2007 (2 BvR 304/07) aus, dass die Befristung der Ausweisungswirkungen nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist (vgl. insbesondere S. 17 des Beschlussumdrucks). Auch die von dem Kläger angeführte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.1979 (1 BvR 650/77) bestätigt seine Rechtsauffassung nicht. Die Entscheidung hebt lediglich auf die Bedeutung einer etwaigen Befristung für die Verhältnismäßigkeit der Ausweisungsverfügung ab, ohne dass sich ihr Anhaltshaltspunkte dafür entnehmen ließen, dass - wie vom Kläger angenommen - über die Befristung stets zeitgleich und unabhängig von einem Antrag mit der Verfügung der Ausweisung zu befinden wäre.

3.2 Im übrigen begründet ein etwaiger Verstoß der Ausweisungsverfügung gegen materielle Bestimmungen der EMRK keinen unbedingten Rücknahmeanspruch, vielmehr stellt ein derartiger Verstoß lediglich einen Gesichtspunkt dar, welcher in die nach nationalen Recht zu treffende Ermessensentscheidung über die Rücknahme gemäß § 48 Abs. 1 LVwVfG einzustellen ist. Dem etwaigen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die aufgrund der Zustimmung des Bundesgesetzgebers mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG innerstaatlich im Range eines Bundesgesetzes gilt (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 -, NJW 2004, 3407), kommt dabei keine weitergehende Wirkung zu als einem Verstoß gegen sonstiges materielles nationales Recht oder gar einem Grundrechtsverstoß. Vielmehr folgt aus dieser Rangzuweisung, dass die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle - soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sein -nach der Normenhierarchie keine gegenüber sonstigem Bundesrecht übergeordnete Wirkung entfalten. Nach dieser Rangzuweisung haben vielmehr deutsche Gerichte und Verwaltungsbehörden die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden. Aufgrund der weitgehenden Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sind dabei sowohl dieses als auch das übrige staatliche Recht nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und damit auch mit den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Gestalt, welche diese in der maßgeblichen Rechtsprechung des EGMR gefunden hat, vermieden wird (vgl. hierzu ausführlich BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, a.a.O. und vom 1.3.2004 - 2 BvR 1570/03 - NVwZ 2004, 852; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 2. Aufl., Rn 20 ff. zu Art 46 m.w.N.). Die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs erfordert dabei zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. Liegt der Konventionsverstoß in dem Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts, so hat die zuständige Behörde die Möglichkeit, diesen nach den Regelungen des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts aufzuheben (vgl. § 48 LVwVfG), eine entsprechende unbedingte Verpflichtung der Behörde lässt sich weder den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention noch der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR entnehmen. Auch der von dem Kläger zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Vielmehr führt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 6.12.2005 (1 BvR 1905/02, DVBl. 2006, 267) ausdrücklich aus, dass sich aus dem Gesamtzusammenhang der Bestimmungen des § 79 Abs. 1, 2 BVerfGG und insbesondere aus Satz 4 von § 79 Abs. 2 BVerfGG der allgemeine Rechtsgedanke ableiten lasse, dass einerseits zwar unanfechtbar gewordene Akte der öffentlichen Gewalt, die auf verfassungswidriger Grundlage zustande gekommen sind, nicht rückwirkend aufgehoben und die nachteiligen Wirkungen, die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangen sind, nicht beseitigt werden, andererseits jedoch zukünftige Folgen, die sich aus einer zwangsweisen Durchsetzung verfassungswidrig ergangener Entscheidungen ergeben würden, abgewendet werden sollen. Diesem § 79 Abs. 2 BVerfGG zugrundeliegenden Rechtsgedanken lässt sich allenfalls ein Vollstreckungsverbot von Maßnahmen, welche gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, entnehmen, nicht jedoch ein unbedingter Normanwendungsbefehl zur Rücknahme bereits vollstreckter Maßnahmen, wie sie hier die vollzogene Ausweisung darstellt.

4. Dem Kläger steht jedenfalls in der Sache kein Anspruch auf - unbedingtes - Wiederaufgreifen des Verfahrens im Sinne von § 51 Abs. 1 LVwVfG zu. Dahingestellt kann deshalb bleiben, ob dem anwaltlich vertretenen Kläger überhaupt das erforderliche allgemeine Rechtsschutzbedürfnis für dessen Durchsetzung zusteht, nachdem er sowohl bei der Behörde als auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ausdrücklich einen Rücknahmeantrag gestellt hat. Insbesondere liegen die Voraussetzungen eines Wiederaufgreifens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG nicht vor. Danach ist das Verfahren u.a. wieder aufzugreifen, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Eine Änderung der Rechtslage im Sinne des Bestimmung ist nur dann anzunehmen, wenn es sich um eine Änderung im Bereich des materiellen Rechts, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt, handelt. Dementsprechend kann eine gerichtliche Spruchpraxis keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG bewirken (vgl. hierzu BVerwG, Vorlagebeschluss vom 7.7.2004 - 6 C 24/03 -, juris; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 9.11.2004 - 11 S 2771/03 -, juris). Mithin rechtfertigen die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 3.8.2004 (- 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315 bzw. - 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297) eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG nicht. Zwar kann die Behörde im Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen auch dann wieder aufgreifen und über einen durch unanfechtbaren Verwaltungsakt beschiedenen materiell-rechtlichen Anspruch erneut sachlich entscheiden, wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen im engeren Sinne nach § 51 Abs. 1 LVwVfG nicht vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.9.2005 - 2 C 5/99 -, DVBl. 2001, 726; vgl. § 51 Abs. 5 LVwVfG. Allerdings räumt diese Vorschrift dem Kläger lediglich ein subjektiv-öffentliches Recht auf fehlerfreie Ermessensentscheidung der Behörde über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens ein; eine Ermessensreduzierung auf Null mit der Folge, dass die Behörde zur Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 29.5.2000 verpflichtet wäre, besteht aus den oben dargestellten Gründen nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Revision war zuzulassen, da insbesondere die Frage der Wirksamkeit sogenannter altrechtlicher Ausweisungsverfügungen gegen Unionsbürger in der obergerichtlichen Rechtsprechung strittig und noch nicht höchstrichterlich geklärt ist (siehe § 132 Abs. 2 Satz 1 VwGO).

Beschluss

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt (§ 152 Abs. 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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