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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 18.10.2006
Aktenzeichen: 13 S 192/06
Rechtsgebiete: ARB 1/80, EWGRL 64/221, EGRL 04/38, VwVfG


Vorschriften:

ARB 1/80 Art. 6
ARB 1/80 Art. 7
EWGRL 64/221 Art. 9 Abs. 1
EGRL 04/38 Art. 2
EGRL 04/38 Art. 16
EGRL 04/38 Art. 31
VwVfG § 46
VwVfG § 96
1. Die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit führt nicht zum Verlust des Rechts aus Art 7 Abs. 1 ARB 1/80.

2. Art. 7 ARB 1/80 ist eine Spezialvorschrift zur Art. 6 ARB 1/80. Der mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt verbundene Verlust des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 lässt die Rechtsstellung aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 unberührt. Ein Verstoß gegen das Verbot der Besserstellung türkischer Staatsangehöriger aus Art. 59 Zusatzprotokoll ist darin nicht zu sehen.

3. Auch im Rahmen des ARB 1/80 findet die Definition des Begriffs "Familienangehöriger" aus Art. 2 Nr. 2 RL 2004/38 Anwendung.

4. Die verfahrensrechtlichen Anforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werden nicht beachtet, wenn gegen die Ausweisung ohne vorherige Beteiligung einer "zweiten Stelle" kein Widerspruchsverfahren stattfindet. Dieser Verfahrensfehler ist auch nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich.

5. Ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG wird durch die Aufhebung dieser Bestimmung durch Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 nicht berührt. Die formelle Rechtmäßigkeit von Verfügungen gegen den von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erfassten Personenkreis ist nach dem Grundsatz des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts, dass neues Verfahrensrecht auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren keine Anwendung findet, nach der Rechtslage z.Z. der letzten Behördenentscheidung zu prüfen (Einschränkung gegenüber den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 3.8.2004 - 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297 und - 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315, ebenso im Ergebnis 11. Senat, Urteil vom 29.06.2006 - 11 S 2299/05 - und OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5.7.2006 - OVG 7 B 16.05 -, InfAuslR 2006, 395).


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

13 S 192/06

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Ausweisung

hat der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 18. Oktober 2006

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22. März 2005 - 5 K 132/04 - geändert; die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29. Dezember 2003 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und die Androhung der Abschiebung in die Türkei.

Der am 5.10.1974 in Leonberg geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, lebte - von einem einjährigen Türkeiaufenthalt im Alter von vier Jahren abgesehen - immer im Bundesgebiet bei seinen Eltern, die zwischenzeitlich eingebürgert sind. Er hat zwei 1980 und 1985 geborene Geschwister. Am 30.10.1990 wurde ihm eine Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Im Jahre 1992 erwarb er auf einer Privatschule den Realschulabschluss. Den Besuch eines Berufskollegs zur Erlangung der Fachhochschulreife brach er im Jahre 1994 ab. Anschließend war er - unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit - für verschiedene Arbeitgeber tätig. Ende 2000 eröffnete er eine Gastwirtschaft.

Der Kläger ist im Bundesgebiet wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten, u.a. wie folgt:

Am 2.11.1995 verurteilte ihn das Landgericht Stuttgart im Berufungsverfahren - 4 Ns 772/5 - wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Entführung gegen den Willen der Entführten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Im Urteil wird festgestellt, dass der Kläger den Geschlechtsverkehr zielstrebig, rücksichtslos und völlig ohne Bedenken im Hinblick auf die möglichen negativen Folgen für die Geschädigte erzwungen habe. Auch habe er wenig Unrechtseinsicht oder gar Reue erkennen lassen. Das Opfer, ein damals 16 Jahre altes Mädchen, beging wenige Tage nach der Tat einen Selbstmordversuch.

Mit Urteil vom 1.8.2003 - 20 KLs 21 Js 22916/03 - verhängte das Landgericht Stuttgart gegen den Kläger wegen Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall (§ 177 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten. Zugunsten des Klägers berücksichtigte das Landgericht u.a., dass es sich um eine Beziehungstat gehandelt habe und das Opfer anfänglich mit dem Austausch von Zärtlichkeiten einverstanden gewesen sei, der Kläger ein Geständnis abgelegt, Schmerzensgeld geleistet und sich schriftlich und mündlich in der Hauptverhandlung bei dem Opfer entschuldigt habe, weshalb auch die fakultative Strafmilderung gemäß §§ 46a, 49 Abs. 1 StGB zur Anwendung gekommen sei. Zu Lasten des Täters sei jedoch ins Gewicht gefallen, dass er das Opfer zusätzlich geschlagen und erniedrigt und ihm erhebliche Blutergüsse und sonstige Verletzungen zugefügt habe. Auch sei der Kläger bereits einschlägig vorbestraft . Es sei daher auch dringend erforderlich, dass der Kläger aktiv am Vollzugsziel mitarbeite und die entsprechenden Möglichkeiten in der Justizvollzugsanstalt in Anspruch nehme, um sein erhebliches Aggressionspotential zu reduzieren und künftig kontrollieren zu können.

Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium daraufhin den Kläger mit Verfügung vom 29.12.2003 unter Anordnung des Sofortvollzuges aus und drohte ihm ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung führte es aus, dass die Verurteilung durch das Landgericht Stuttgart vom 1.8.2003 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten den Tatbestand der Regelausweisung gemäß § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG erfülle; denn schon angesichts der Höhe des Strafmaßes sei die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung nach § 56 StGB nicht mehr in Betracht gekommen. Weil der Kläger jedoch eine Aufenthaltsberechtigung besitze und vor der Inhaftierung mit seinen eingebürgerten Eltern in familiärer Lebensgemeinschaft zusammengelebt habe, genieße er erhöhten Ausweisungsschutz gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4 AuslG. Die damit für die Ausweisung in tatbestandlicher Hinsicht erforderlichen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit (§ 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG) lägen vor. Wie das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 1.8.2003 zeige, habe er in der Nacht vom 17. auf den 18.3.2003 erneut eine Frau vergewaltigt, obwohl das Opfer der vorangegangenen Vergewaltigung einen Selbstmordversuch begangen habe. Damit sei durch die Begehung weiterer Straftaten bestätigt worden, dass bei ihm eine schwerwiegende Aggressionsproblematik vorliege. Trotz des Geständnisses und der Entschuldigung beim Opfer habe ihm daher keine günstige Sozialprognose gestellt werden können. Es bestehe die konkrete Gefahr, dass der Kläger erneut schwerwiegende Straftaten begehen und dadurch die öffentliche Sicherheit und Ordnung erneut erheblich gefährden werde. Von ihm gehe eine bedeutsame Gefahr für wichtige Schutzgüter aus. Vor diesem Hindergrund sprächen nicht nur spezialpräventive, sondern auch generalpräventive Gründe für seine Ausweisung. Auch die wegen des dem Kläger zustehenden erhöhten Ausweisungsschutzes gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG zu treffende Ermessensentscheidung könne nicht zu seinen Gunsten ausfallen. Zugunsten des Klägers sei im Rahmen des § 45 Abs. 2 AuslG zwar zu berücksichtigen, dass er hier im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sei. Auch die Bindungen an seine Eltern (die familiäre Lebensgemeinschaft solle nach der Haftentlassung fortgesetzt werden) und in geringerem Maße an seine Geschwister fielen ebenso wie seine wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet und sein freies Zugangsrecht zum deutschen Arbeitsmarkt zu seinen Gunsten ins Gewicht. Umgekehrt zeigten die von ihm begangenen schweren Straftaten jedoch, dass seine Integration in die deutschen Lebensverhältnisse nur unvollständig gelungen sei. Auch die Beziehungen zu seiner Familie hätten ihn von deren Begehung nicht abhalten können. Zudem befinde er sich in einem Alter, in dem mit der Loslösung von den Eltern ohnehin zu rechnen sei. Bei einem Ausländer der zweiten Generation wie ihm sei auch davon auszugehen, dass er noch über Grundkenntnisse der türkischen Sprache verfüge und sich jedenfalls nach anfänglichen Schwierigkeiten in der Türkei auch eine wirtschaftliche Lebensgrundlage werde schaffen können. Auch in Deutschland sei seine wirtschaftliche Grundlage nicht gesichert gewesen, wie die hohen Schulden aus der Eröffnung der Gastwirtschaft zeigten. Angesichts der Schwere der von ihm ausgehenden Gefahr überwiege daher das öffentliche Interesse an seiner Entfernung aus dem Bundesgebiet auch vor dem Hintergrund der Regelungen in Art. 6 GG bzw. 8 EMRK sein privates Interesse daran, weiterhin in Deutschland bleiben zu können. Zwar genieße er nach einem zehnjährigen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet erhöhten Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens; das Bundesverwaltungsgericht habe jedoch bereits entschieden, dass dieser nicht weiterreiche als der bereits durch Art. 48 AuslG gewährte. Auf Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 könne sich der Kläger nicht berufen, denn er habe den Arbeitsmarkt verlassen, um sich selbständig zu machen. Jedenfalls sei eine solche aufenthaltsrechtliche Position auch in entsprechender Anwendung des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 durch seine Inhaftierung erloschen. Ungeachtet dessen stehe auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 seiner Ausweisung nicht entgegen, denn von ihm gehe die konkrete Gefahr aus, dass er erneut schwerwiegende Straftaten begehen werde.

Am 12.1.2004 hat der Kläger mit dem Antrag, die Verfügung des Beklagten vom 29.12.2003 aufzuheben, vor dem Verwaltungsgericht Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, er habe das einmal nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 erworbene Aufenthaltsrecht weder durch die nachfolgende Tätigkeit als Selbständiger noch durch seine Inhaftierung oder die Einbürgerung seiner Eltern verloren. Die Ausweisung verstoße damit gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG. Denn die danach erforderliche Einholung der Stellungnahme einer unabhängigen zweiten Stelle sei unterblieben, obwohl während seiner Inhaftierung dafür ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden habe. Die deutschen Verwaltungsgerichte könnten die Ausweisungsverfügung nur auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen und daher die in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderte Zweckmäßigkeitsprüfung nicht vornehmen. Auch habe das Regierungspräsidium die von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr falsch eingeschätzt. Das Opfer der zweiten Vergewaltigung sei anders als bei der ersten Tat kein wehrloses Kind gewesen, sondern eine grundsätzlich zum Geschlechtsverkehr bereite erwachsene Frau. Aus einer solchen Beziehungstat ergebe sich keine Wiederholungsgefahr, zumal er auch von ihr abgelassen habe, als sie zu weinen begonnen habe. Schließlich habe das Regierungspräsidium auch weder seine Entwicklung in der Strafhaft berücksichtigt noch in die Ermessenserwägungen eingestellt, dass die Ausweisung für einen Ausländer der zweiten Generation eine soziale Hinrichtung bedeute. Die Anforderungen aus Art. 28 Abs. 3a RL 2004/38/EG vom 29.4.2004 seien ebenfalls nicht erfüllt. Diese Bestimmung, die nicht genuin neues Recht schaffe, sondern lediglich das Gemeinschaftsrecht konkretisiere und daher schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist am 30.4.2006 auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anzuwenden sei, bestimme, dass die Ausweisung nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässig sei. Diese lägen bei ihm aber nicht vor. Schließlich seien ihm wegen der verfügten Ausweisung in der Haft auch keine psychologischen Maßnahmen zur Aufarbeitung der begangenen Tat bewilligt worden.

Mit Urteil vom 22.3.2005 hat das Verwaltungsgericht Stuttgart die Klage abgewiesen und dabei zur Begründung ausgeführt: Die gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes weiterhin wirksame Ausweisung sei rechtmäßig, wobei offen bleiben könne, ob sich der Kläger als selbständiger Gastwirt und Kind ehemals türkischer, jetzt eingebürgerter Eltern überhaupt auf den aufenthaltsrechtlichen Schutz aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 berufen könne; denn Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei nicht verletzt, obwohl gegen die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums nach § 6a AGVwGO kein Widerspruch stattfinde, sondern sofort die Anfechtungsklage statthaft sei. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (Urteile vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 - und vom 21.7.2004 - 11 S 535/04 -) genüge der in Deutschland gewährte verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz den Anforderungen an die in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderte Zweckmäßigkeitsprüfung. Abgesehen davon liege auch ein "dringender Fall" im Sinn dieser Vorschrift vor, weil das Regierungspräsidium den Sofortvollzug angeordnet habe. Am Maßstab des Art. 28 Abs. 3a RL 2004/38/EG sei die Ausweisung nicht zu prüfen, denn diese Richtlinie sei erst bis zum 30.4.2006 in deutsches Recht umzusetzen und daher gegenwärtig noch nicht unmittelbar anwendbar. Die Ausweisung verstoße auch sonst nicht gegen materielles Recht. Das vom Landgericht Stuttgart abgeurteilte Gewaltdelikt des Klägers, eine Vergewaltigung mit vorsätzlicher Körperverletzung, erfülle den Tatbestand einer Regelausweisung nach § 54 Nr. 1 AufenthG und stelle damit eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, zumal das Opfer erhebliche Verletzungen in Form zahlreicher Blutergüsse erlitten habe, durch die auch beträchtliche Behandlungskosten zu Lasten der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten entstanden seien. Das der Straftat zugrunde liegende Verhalten des Klägers stelle auch eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar. Er sei hinsichtlich der Vergewaltigung nicht nur Wiederholungstäter, sondern habe im Urteil des Landgerichts Stuttgart auch ein erhebliches Aggressionspotential attestiert bekommen. Entgegen der Annahme des Landgerichts Stuttgart sei es ihm im Strafvollzug nicht gelungen, sein Aggressionspotential zu kontrollieren und zu reduzieren. Deshalb habe es das Landgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 15.3.2005 auch abgelehnt, den Kläger gemäß § 57 Abs. 1 StGB bedingt aus der Strafhaft zu entlassen. Denn ein kriminalprognostisches Gutachten sei zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger impulsiv und rücksichtslos egozentrisch sei, ein deutliches Empathiedefizit aufweise und keine echte Einsicht in seine eigenen aggressiven Verhaltensweisen zeige, weshalb die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Das Ergebnis des kriminalprognostischen Gutachtens decke sich dabei mit einer Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Heimsheim. Darauf, dass ihm im Strafvollzug wegen seiner ausländerrechtlichen Situation keine psychologischen Hilfen bewilligt worden seien, könne er sich schon deshalb nicht berufen, weil er nicht die dagegen im Strafvollzugsgesetz vorgesehenen Rechtsbehelfe eingelegt habe. Die vom Regierungspräsidium Stuttgart getroffene Ermessensentscheidung - deren tatbestandlichen Grundlagen unverändert fortbestünden - sei ebenfalls nicht zu beanstanden.

Das Urteil ist dem Kläger am 14.6.2005 zugestellt worden; einen Tag später hat er die Zulassung der Berufung beantragt.

Mit Beschluss vom 23.1.2006 hat der Senat die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen; mit der am 6.2.2006 eingegangenen Berufungsbegründung beantragt der Kläger nunmehr,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22.3.2005 - 5 K 132/04 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.12.2003 aufzuheben.

Der Kläger trägt vor, die einmal erworbene Rechtsstellung aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 stehe ihm trotz der Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit und der Inhaftierung weiterhin zu. Ebenso sei das Schicksal des Stammberechtigten (Einbürgerung der Eltern) unbeachtlich. Der EuGH habe in den Verfahren Cetinkaya und Aydinli entschieden, dass die Rechte aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 nur erlöschen würden, wenn gegen den Betroffenen eine Maßnahme gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 getroffen werde oder dieser den Aufnahmemitgliedstaat während eines erheblichen Zeitraums ohne berechtigten Grund verlassen habe. Art. 7 ARB 1/80 wolle die Familieneinheit fördern. Der EuGH habe in seinem Urteil in der Sache Dörr und Ünal weiter entschieden, dass die Verfahrensgarantie aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar sei. Der dort geforderten Zweckmäßigkeitskontrolle werde nur genügt, wenn der Ausländer die Möglichkeit habe, sich zur bestmöglichen Lösung für seine Resozialisierung zu äußern. Die Überprüfung auf Ermessensfehler im deutschen Verwaltungsprozess bleibe hinter diesen Anforderungen zurück. Dementsprechend habe das Verwaltungsgericht in seinem Urteil im Rahmen der Kontrolle der Ermessensausübung auch nicht geprüft, ob seine Resozialisierung im Bundesgebiet besser möglich sei als in der Türkei. Erst recht habe es verkannt, dass das Interesse am Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung angesichts der Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet von mittlerweile mehr als einem Vierteljahrhundert hinter seinen privaten Interessen zurücktreten müsse und nur noch im Falle einer hier nicht gegebenen Gefährdung der Sicherheit des Staates Vorrang haben könne. Mittlerweile habe auch das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorliege, wenn gegen eine Ausweisung kein Widerspruch stattfinde, denn die Zweckmäßigkeitskontrolle sei in dem dann sofort statthaften verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht gewährleistet. Der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werde auch nicht durch die Anordnung des Sofortvollzuges unbeachtlich. Ein dringender Fall liege nicht vor. Er sei am 21.3.2003 in Untersuchungshaft genommen worden. Angesichts der Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten sei vor September 2004 mit einem Ende der Haft überhaupt nicht zu rechnen gewesen, weshalb ausreichend Zeit für die Einschaltung einer zweiten Stelle zur Verfügung gestanden habe. Aus den schon im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht genannten Gründen sei die Ausweisung auch wegen Verstoßes gegen Art. 28 Abs. 3a RL 2004/38/EG rechtswidrig. Nach einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet sei eine Ausweisung nur noch aus Gründen der Staatssicherheit zulässig. Auch könne ihm die mangelnde Resozialisierung im Strafvollzug nicht angelastet werden, weil sie die Folge von Einsparbemühungen der öffentlichen Hand sei und damit in deren Verantwortungsbereich falle.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, der Kläger könne sich auf die Rechtsposition aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 unabhängig von seiner Inhaftierung schon deshalb nicht mehr berufen, weil er sich selbständig gemacht habe. Auch Unionsbürger könnten sich nur eine begrenzte Zeit - nach der Entscheidung des EuGH in der Sache Tetik (Urteil vom 23.1.1997 - C 171/95 -, InfAuslR 1997, 146) längstens ein Jahr - auf das Freizügigkeitsrecht berufen, aber nicht mehr, wenn sie - wie der Kläger - den Arbeitsmarkt endgültig verlassen hätten. Wollte man bei assoziationsberechtigten Türken anders entscheiden, so bedeutete dies, dass sie besser stünden als Unionsbürger, was nach Art. 59 des Assoziationsabkommens EWG-Türkei unzulässig sei. Auch der EuGH habe sich in seinen Urteilen in den Sachen Cetinkaya und Aydinli nicht mit der Konstellation auseinandergesetzt, dass der Betroffene überhaupt nicht mehr arbeiten könne oder wolle. Andernfalls hätte er zu seinem Urteil in der Sache Tetik und dem Schlechterstellungsverbot für Unionsbürger aus Art. 59 des Assoziationsabkommens EWG-Türkei Stellung nehmen müssen. Der behauptete Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG - so er überhaupt vorliege - sei jedenfalls unbeachtlich. Angesichts der Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten und der weiter von ihm ausgehenden Gefahr hätte auch die Einschaltung einer "zweiten Stelle" nicht zu einem anderen Ergebnis geführt, zumal der Kläger auch die Gelegenheit zur Stellungnahme im Anhörungsverfahren nicht genutzt habe. Auch sei die Richtlinie 64/221/EWG mit Ablauf des 30.04.2006 außer Kraft getreten, und die Nachfolgebestimmung in Art. 31 RL 2004/38/EG verlange einen so weitgehenden Rechtsschutz überhaupt nicht mehr. Ungeachtet dessen liege auch ein dringender Fall vor, weil beabsichtigt gewesen sei, den Kläger aus der Haft abzuschieben. Angesichts seiner Gefährlichkeit wäre die Ausweisung bzw. die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt auch im vergleichbaren Fall eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers zulässig. So habe die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe wegen seiner fortdauernden Gefährlichkeit die Strafaussetzung zur Bewährung abgelehnt. Dass der Kläger ausweislich der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverständigenstellungnahmen sein aggressives Verhalten weiterhin leugne, sei auch eine denkbar schlechte Voraussetzung für eine Therapie gegen sein aggressives Verhalten.

Mit Beschluss vom 19.1.2006 - 13 S 1207/05 - hat der Senat unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 6.6.2005 - 5 K 2798/04 - die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung wiederhergestellt und gegen die Abschiebungsandrohung angeordnet.

Dem Senat liegen die den Kläger betreffenden Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart (2 Bände), die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Stuttgart einschließlich der Akten aus dem Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und die Akten über das Beschwerdeverfahren vor dem Senat vor; auf den Inhalt dieser Akten wird verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig. Insbesondere hat sie der Kläger nach Zulassung durch den Senat mit Beschluss vom 23.1.2006 - 13 S 1268/06 - gemäß § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO fristgerecht und entsprechend den formellen Anforderungen aus § 124a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Sätze 4 und 5 VwGO begründet. Denn die Bezugnahme auf sein Vorbringen im Zulassungsverfahren lässt erkennen, aus welchen Gründen er das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts für unrichtig hält (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 14. Aufl., Rn 68 zu § 124a).

Die Berufung hat auch sachlich Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn sie ist zulässig und begründet. Die gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes weiterhin wirksame Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.12.2003 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Ausweisung des Klägers, der sich auf das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 berufen kann (I.), ist wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221 - die Bestimmung findet nicht nur auf Unionsbürger Anwendung, sondern auch auf türkische Staatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 - verfahrensfehlerhaft (II.). Dieser Verstoß ist nicht unbeachtlich (III.), und der Anspruch des Klägers auf Aufhebung der Ausweisung besteht unabhängig davon, dass die Richtlinie 64/221/EWG gemäß Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG mit Ablauf des 30.4.2006 außer Kraft getreten ist (IV.).

I.

Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dem Kläger der assoziationsrechtliche Status aus Art. 7 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 zu, womit er nicht nur ein Recht auf freien Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern auch ein damit korrespondierendes - erhöhten Ausweisungsschutz vermittelndes - Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet besitzt (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 11.11.2004 - C 467/02 -[Cetinkaya], InfAuslR 2005, 13 m.N. aus der früheren Rechtsprechung des EuGH zum assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrecht).

Auch der Beklagte stellt nicht in Frage, dass der Kläger mindestens fünf Jahre ordnungsgemäß mit seinen Eltern, die damals noch türkische Staatsangehörige waren, zusammengelebt und dadurch das Recht aus Art. 7 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat (vgl. dazu bereits den Beschluss des Senats vom 19.1.2006 - 13 S 1207/05 -).

Durch die nachfolgende Entwicklung hat der Kläger diese Rechtsposition nicht verloren. Dass er sich Ende des Jahres 2000 als Gastwirt selbständig gemacht hat und damit dem Arbeitsmarkt nicht mehr als unselbständiger Arbeitnehmer zur Verfügung stand, hat weder unmittelbar (1.) noch mittelbar über einen Erlöschenstatbestand gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 (2.) zum Verlust des Rechts aus Art 7 Abs. 1 ARB 1/80 geführt. Ein Verstoß gegen das sogenannte Besserstellungsverbot ist darin nicht zu sehen (3.). Ebensowenig hatten die Strafhaft und die Einbürgerung seiner Eltern Einfluss auf die Rechtsstellung aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 (4).

1.) In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist allerdings vertreten worden, dass die auf Dauer angelegte Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit (Eröffnung einer Gaststätte durch den Kläger) das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 ARB entfallen lässt, weil der Ausländer dann dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21.7.2004 - 11 S 1303/04 - (juris) und Mallmann, Neuere Rechtsprechung zum assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrecht türkischer Familienangehöriger, ZAR 2006, 50/54, FN 35 m.w.N.). Diese Rechtsprechung kann vor dem Hintergrund neuer Rechtsprechung des EuGH jedoch keinen Bestand mehr haben. In dem bereits genannten Urteil vom 11.11.2004 [Cetinkaya] hat der EuGH unter Rn 38 ausgeführt, dass das Recht aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 nur unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden könne, nämlich nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder weil der Betroffene das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats während eines erheblichen Zeitraums ohne berechtigte Gründe verlassen hat. Dem schließt sich der Senat an. In Reaktion auf das Urteil des EuGH in der Sache Cetinkaya hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen allerdings weiterhin die Auffassung vertreten, dass Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht nur zum Zwecke der tatsächlichen Ausübung einer Beschäftigung oder zum ernsthaften Betreiben des Zugangs zum Arbeitsmarkt verleihe (vgl. Beschluss vom 10.12.2004 - 18 B 2599/04 -, InfAuslR 2005, 92). Zur Begründung führte es aus, der EuGH habe sich in der Sache Cetinkaya mit der Frage eines Aufenthaltsrechts, ohne arbeiten zu wollen, gar nicht beschäftigen müssen, da der Kläger in diesem Verfahren vor seiner Inhaftierung stets erwerbstätig gewesen sei. Im übrigen beschreibe der EuGH das Recht aus Art. 7 ARB 1/80 als ein solches auf Zugang zur Beschäftigung und zum Aufenthalt im Bundesgebiet. Daraus sei zu folgern, dass der Fortbestand des Rechts die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung oder wenigstens das Betreiben des Zugangs zum Arbeitsmarkt voraussetze. Mit dieser Argumentation verkennt das OVG Nordrhein-Westfalen jedoch, dass der EuGH in dem Urteil in der Sache Cetinkaya stets nur von einem Recht auf Aufenthalt bzw. auf Zugang zum Arbeitsmarkt gesprochen, das Aufenthaltsrecht aber nicht mit einer Pflicht verknüpft hat, dem Arbeitsmarkt als unselbständig Erwerbstätiger oder Arbeitssuchender zur Verfügung zu stehen. Unter Rn 30 des Urteils führt er im Gegenteil explizit aus, die Mitgliedstaaten seien nach Erwerb des Rechts aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 nicht befugt, das Aufenthaltsrecht noch von weiteren Voraussetzungen abhängig zu machen. Zutreffend wird in der Literatur (Gutmann, InfAuslR 2005, 94) darauf hingewiesen, der EuGH habe unter Rn 33 seines Urteils sogar festgestellt, die Rechte aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 könnten dem türkischen Arbeitnehmer nicht dadurch genommen werden, dass er nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt angehöre. Nach dem Grund des Ausscheidens differenziere der EuGH dabei nicht. Sogar im Aufnahmeland geborene Kinder, die den Arbeitsmarkt nie betreten hätten, sollten im Gegenteil das Recht aus Art. 7 Abs. 1 ARB erwerben, ohne dass ein Verlusttatbestand für den Fall normiert worden sei, dass sie später keine unselbständige Erwerbstätigkeit aufnähmen. In seinem Urteil vom 7.7.2005 (- C- 373/03- [Aydinli], InfAuslR 2005, 352) hat der EuGH seine Entscheidung in der Sache Cetinkaya nicht nur bestätigt, sondern unter Rn 29 ausdrücklich entschieden, anders als bei Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 hänge die Entstehung des Beschäftigungsrechts der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 nicht davon ab, dass diese dem regulären Arbeitsmarkt des betreffenden Staates angehörten und während einer bestimmten Dauer eine Beschäftigung im Lohn oder Gehaltsverhältnis ausübten. Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 gewähre den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers mithin Zugang zu einer Beschäftigung, lege ihnen jedoch keine Verpflichtung auf, eine Beschäftigung im Lohn oder Gehaltsverhältnis auszuüben, wie das in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehen sei (so auch Döring, Erhöhter Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige, DVBl. 2005, 1221/1225).

2.) Auch ein - denkbarer - Erlöschenstatbestand nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 hätte die Rechtsstellung des Klägers aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entfallen lassen.

Der Kläger war nach Abbruch des Berufskollegs im Jahre 1994 bis zur Eröffnung der Gaststätte im Jahre 2000, wenn auch unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit, immer wieder als Arbeitnehmer tätig. Ob er in dieser Zeit auch ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworben hat, ist nicht geklärt, aber auch rechtlich unerheblich. Hätte er den Status nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworben, wäre dieser nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt wohl erloschen. Das unabhängig davon erworbene Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 wäre dadurch jedoch nicht untergegangen. Wie der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ("vorbehaltlich der Bestimmungen in Art. 7") zeigt, ist Art. 7 ARB 1/80 eine Spezialvorschrift zu Art. 6 ARB 1/80 (vgl. dazu auch Urteil des EuGH vom 7.7.2005, C-373/03-, [Aydinli], Rn 19, zitiert nach Mallmann, a.a.O., S. 53, Fn 32, dort auch zur teilweise abweichenden Auffassung der Generalanwälte des EuGH; siehe auch Döring a.a.O.). Auch unter Wertungsgesichtspunkten erschiene es im übrigen nicht vertretbar, wenn der zusätzliche Erwerb einer weiteren Rechtsposition (Recht aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80) dazu führen würde, dass das bereits zuvor erworbene Recht (aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80) unter erleichterten Voraussetzungen verloren geht.

3.) Die oben wiedergegebene Rechtsprechung des EuGH, wonach der Fortbestand der Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 nicht von der Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit bzw. von Bemühungen zur Aufnahme einer solchen Tätigkeit abhängt, führt auch nicht zu einem Verstoß gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.9.1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (vgl. BGBl. II 1992, 385/396) - Zusatzprotokoll -, wonach der Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.

Der europäische Gerichtshof hat allerdings bereits entschieden, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EG-Vertrag die Mitgliedstaaten nur verpflichtet, Unionsbürgern eine angemessene Zeit einzuräumen, damit sie sich im Aufnahmemitgliedstaat eine ihrer Qualifikation entsprechende Stelle suchen und sich gegebenenfalls dafür bewerben können; sie gewährt allerdings kein von der Bereitschaft zur Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit unabhängiges Aufenthaltsrecht (vgl. Urteil vom 26.2.1991 - C-292/89 -, Antonissen, Slg 1991, I-745, Rn 13, 15 und 16 sowie erneut im Zusammenhang mit einem nach Art. 6 ARB 1/80 berechtigten türkischen Staatsangehörigen im Urteil vom 23.1.1997 - C-171/95 - [Tetik], InfAuslR 1997, 146, Rn 27).

Ein Verstoß gegen das Verbot der Besserstellung türkischer Staatsangehöriger aus Art. 59 Zusatzprotokoll liegt gleichwohl nicht vor. Wie bereits oben ausgeführt, verlieren auch türkische Staatsangehörige, die als Arbeitnehmer ein originäres Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworben haben, ihre Rechtsstellung wieder, wenn sie dem Arbeitmarkt als unselbständige Arbeitnehmer nicht mehr zur Verfügung stehen (vgl. zu den Einzelheiten des Rechtsverlusts insbesondere EuGH, Urteil vom 20.2.2000 - C-340/97 -, [Nazli], InfAuslR 2000, 161, Rn 40 ff.). Die Situation der türkischen Staatsangehörigen, die als Arbeitnehmer ein originäres Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworben haben, entspricht damit derjenigen der Unionsbürger, die sich auf ihr Freizügigkeitsrecht berufen: Der Fortbestand des Rechts ist jeweils von der Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit oder wenigstens dem Willen und der Möglichkeit zur Aufnahme einer solchen abhängig.

Demgegenüber erwerben Familienangehörige eines Unionsbürgers - ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit - das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich fünf Jahre rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben (vgl. Art. 16 Abs. 1 und Abs. 2 RL 2004/38/EG). Die Entstehung und der Fortbestand des Daueraufenthaltsrechts ist nicht an die Voraussetzungen aus Kap. III der RL 2004/38/EG geknüpft (vgl. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38/EG), steht also in keinem Zusammenhang mit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit (vgl. Art. 7 ARB 1/80). Ebenso ist bereits vor Ablauf des Fünfjahreszeitraumes aus Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie das Aufenthaltsrecht nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig (vgl. Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG). Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer mit einem Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 werden also nicht besser gestellt als die von Unionsbürgern.

Der Beklagte macht in diesem Zusammenhang ohne Erfolg geltend, ein Verstoß gegen das Verbot der Besserstellung resultiere daraus, dass der Begriff des "Familienangehörigen" in Art. 7 ARB 1/80 weiter sei als der in Art 2 Nr. 2 RL 2004/38/EG; insbesondere erfasse Art. 7 ARB 1/80 auch Verwandte in gerader absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr bereits vollendet haben und denen der Stammberechtigte keinen Unterhalt gewährt (vgl. dazu Art. 2 Nr. 2 c RL 2004/38/EG). Dieser Argumentation ist aber nicht zu folgen: Zwar ist der Begriff des "Familienangehörigen" in Art. 7 ARB 1/80 anders als in Art. 2 Nr. 2 RL 2004/38/EG nicht ausdrücklich definiert. Der EuGH hat jedoch bereits entschieden, dass er zur Sicherstellung seiner homogenen Anwendung auf Gemeinschaftsebene in Art. 7 ARB 1/80 ebenso auszulegen ist wie in den Freizügigkeit gewährenden Normen des Gemeinschaftsrechts (vgl. Urteil vom 30.09.2004 - C-275/02 -, [Ayaz], InfAuslR 2004, 416 RN 45). Er hat sich dabei auf den Begriff des Familienangehörigen aus Art. 10 Abs. 1 VO 1612/68 gestützt. Nachdem diese Bestimmung durch Art. 38 Abs. 1 RL 2004/38/EG aufgehoben worden ist, bestehen aus Sicht des Senats keine Bedenken, die im hier maßgeblichen Punkt inhaltlich übereinstimmende Definition in Art 2 RL 2004/38/EG - der Nachfolgebestimmung - heranzuziehen, so dass es aufgrund der einheitlichen Auslegung des Tatbestandsmerkmals auch insoweit nicht zu einem Verstoß gegen das Besserstellungsverbot kommt.

4.) Wie sich aus den zitierten Entscheidungen des EuGH in den Sachen Cetinkaya und Aydinli ergibt, ist das Recht des Klägers aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 auch weder mit dem Eintritt der Volljährigkeit noch durch die Verbüßung der verhängten Strafhaft erloschen (vgl. zur Verbüßung der Strafhaft auch BVerwG, Urteil vom 6.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 und DVBl. 2006, 317). Ebenso ist unbeachtlich, dass die Eltern des Klägers als Stammberechtigte, von denen er sein Aufenthaltsrecht ableitet, mit der Einbürgerung die türkische Staatsangehörigkeit verloren haben. Denn eine Verstärkung der Rechtsstellung des Stammberechtigten kann keinen Verlusttatbestand für das von ihm abgeleitete Recht des Familienangehörigen darstellen.

II.

Die für die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger geltenden verfahrensrechtlichen Anforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG finden auch auf türkische Staatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 Anwendung (1.). Sie wurden vorliegend nicht beachtet, weshalb die Ausweisung des Klägers rechtswidrig war (2.).

1.) Im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 2.6.2005 - C-136/03 -, [Dörr und Ünal, InfAuslR 2005, 289) hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar nur für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Staatsangehörige anzuwenden sind, die - wie der Kläger - über ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 verfügen (vgl. Urteile vom 13.9.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110 und DVBl. 2006, 372 sowie vom 6.10.2005, a.a.O.). Diesen Ausgangspunkt teilt der Senat (s. etwa Beschluss vom 19.01.2006 - 13 S 1207/05 -)

2.) Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sieht vor, dass, sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes trifft, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist. Diese Vorgaben wurden nicht beachtet.

2.1) Hinsichtlich des in Art. 9 Abs. 1 ARB 1/80 angesprochenen Umfangs der gerichtlichen Nachprüfung ist nicht zu bestreiten, dass die Ausweisungsentscheidung nach deutschem Prozessrecht nur auf ihre Rechtmäßigkeit, nicht aber auch auf ihre Zweckmäßigkeit hin überprüft wird. Denn gemäß § 114 Satz 1 VwGO kann Ermessen - darum geht es hier - nur auf Rechtsfehler hin überprüft werden, nicht aber unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit. Die vom EuGH geforderte erschöpfende Prüfung aller der Ausweisungsverfügung zugrunde liegenden Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeit ist danach gemäß Art. 68 Abs. 1 VwGO nur im Widerspruchsverfahren, nicht aber im Verwaltungsprozess möglich (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.9.2006, a.a.O., unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 29.4.2004 - C-482/01- und - C-493/01 -, [Orfanopoulos und Oliveri], InfAuslR 2004, 268, Rn 103 ff.). Dieser Auffassung folgt auch der Senat. Der 11. Senat des erkennenden Gerichtshofs hat seinen gegenteiligen Standpunkt, wonach die vom EuGH geforderte rechtliche Prüfungsdichte im deutschen Verwaltungsprozess gewährleistet sei, weil beim Begriff der Zweckmäßigkeit nicht vom deutschen Rechtsverständnis dieses Begriffes im Sinne von § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO ausgegangen werden dürfe (vgl. Urteil vom 21.7.2004 - 11 S 535/04 -, VBlBW 2004, 481), im Anschluss an die oben zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgegeben (vgl. Urteil vom 29.6.2006 - 11 S 2299/05 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Da gegen Ausweisungsverfügungen der Regierungspräsidien gemäß § 6a AGVwGO kein Widerspruch gegeben, sondern sofort die Anfechtungsklage statthaft ist, verstößt eine Ausweisung ohne vorherige Einschaltung einer "zweiten zuständigen Stelle" nur bei Vorliegen eines dringenden Falles nicht gegen Art. 9 RL 64/221/EWG.

2.2) Ein solcher dringender Fall war (und ist) hier jedoch nicht gegeben. Hinsichtlich der Überprüfung, ob eine Ausweisung dringlich im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ist, besteht kein Letztentscheidungsrecht der Verwaltung, vielmehr unterliegt dieses Tatbestandsmerkmal der vollen gerichtlichen Kontrolle (vgl. dazu ausführlich VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.6.2006 - 11 S 2299/05 - m.z.N. aus Rechtsprechung und Literatur). Auch der Beklagte hat im vorliegenden Verfahren keinen gegenteiligen Standpunkt mehr vertreten.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 13.9.2005 - BVerwG 1 C7.04 -, a.a.O. ist das Merkmal der Dringlichkeit als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit "besonders eng auszulegen"; ein dringender Fall könne erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung nicht zu verantworten sei, etwa weil die begründete Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des "Hauptverfahrens" realisieren. Die Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde sei dann nicht hinnehmbar. Daher genüge für die Annahme eines dringenden Falles nicht, dass die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet habe. Vielmehr müsse (vergleichbar den Anforderungen aus § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO für die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt werden, das "Hauptverfahren" nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer "weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung" der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Dazu seien die im konkreten Einzelfall einander widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange gegeneinander abzuwägen. Weil die dabei maßgeblich zu berücksichtigende Schwere der vom Ausländer ausgehenden Gefahr während der Zeit seiner Inhaftierung regelmäßig entfallen werde, könne ein dringender Fall nur dann angenommen werden, wenn er aus der Haft heraus abgeschoben werden solle. Umgekehrt scheide die Annahme eines dringenden Falles aus, wenn die Ausländerbehörde den Fall selbst nicht als dringlich erachte und behandle, das Verfahren selbst nicht zügig betreibe, die sofortige Vollziehung nicht anordne oder von dieser nicht unverzüglich - gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch mache.

Vor dem Hintergrund dieser neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat der Senat seine frühere Auffassung, wonach ein dringender Fall regelmäßig anzunehmen sei, wenn wie vorliegend die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet wurde (vgl. Beschlüsse vom 22.3.2004 - 13 S 585/04 -, InfAuslR 2004, 284 ff. und vom 26.8.2005 - 13 S 1482/05 -), aufgegeben (vgl. Beschlüsse vom 19.01.2006 - 13 S 1207/05 - und vom 21.02.2006 - 13 S1953/05 -).

Bei einem Ausländer, der sich - wie der Kläger - während des Ausweisungsverfahrens in Haft befindet, scheidet daher die Annahme eines dringenden Falles in aller Regel aus, wenn vor dem Entlassungszeitpunkt oder der beabsichtigten Abschiebung aus der Haft ausreichend Zeit zur Einschaltung der in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderten zweiten Stelle besteht; anders ist es, wenn auch in diesem Zeitraum vom Ausländer eine erhebliche Gefahr ausgeht (vgl. dazu und auch zu der Frage, auf welchen Zeitpunkt - Erlass der Ausweisungsverfügung oder Entscheidung des Gerichts - insoweit abzustellen ist VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.6.2006 - 11 S 2299/05 - ).

Nach diesem Maßstab war ein dringender Fall hier nicht gegeben. Zu Recht weist der Kläger darauf hin, dass angesichts der verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten sowie des Beginns der Inhaftierung (März 2003) vor September 2004 weder mit einer Entlassung noch mit einer Abschiebung aus der Haft zu rechnen war. Die Abschiebung aus der Haft nach § 456a StPO kommt im Regefall frühestens nach Vollstreckung der Hälfte der Freiheitsstrafe in Betracht (vgl. dazu die AV des JuM vom 17.10.1996, Die Justiz S. 500, III. 1. c). Die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung hätte beim Kläger ohnehin erst nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafe erfolgen dürfen, da die verhängte Freiheitsstrafe zwei Jahre übersteigt und der Kläger außerdem auch bereits wiederholt inhaftiert war (vgl. § 57 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 StGB). Bei der Entscheidung über die Ausweisung am 29.12.2003 stand damit ausreichend Zeit für die in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderte Zweckmäßigkeitsprüfung zur Verfügung. Dies gilt um so mehr, als die Ausländerbehörde auch nach einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft gemäß § 456a StPO den Zeitpunkt der Abschiebung selbst bestimmen kann und damit die Möglichkeit hat, mit dieser bis zum Abschluss des Verfahrens vor der zweiten Stelle zuzuwarten. Dafür, dass auch während der Zeit der Inhaftierung vom Kläger eine schwere Gefahr ausgehen würde, sind Gründe weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

III.

Der damit vorliegende Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ist auch nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich.

Überwiegend wird vertreten, dass diese Norm ebenso wenig wie auf sog. absolute Verfahrensfehler (vgl. dazu näher BVerwG, Urteil vom 15.1.1982 -4 C 26.78-, BVerwGE 64, 325 ff.) auf Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationalen Vorschriften, die auf Gemeinschaftsrecht beruhen, anwendbar sei; dies wird aus dem Erfordernis effektiver, einheitlicher Wirkung des EU-Rechts in allen Mitgliedsländern (sog. "effet utile", vgl. dazu etwa Kenntner, Rechtsschutz in Europa, in Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 76) geschlossen (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl., Rn 20 zu § 46; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., RN 176 ff zu § 45; VG Stuttgart, Urteil vom 7.2.2006 - 5 K 5146/04 -, [Vensa] und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.6.2006 - 11 S 2299/05 -, m.N. auch zur gegenteiligen Auffassung und zum europarechtlichen Verständnis des Verwaltungsverfahrens). Danach würde Unbeachtlichkeit nach § 46 VwVfG bereits vom Anwendungsbereich her ausscheiden.

Ungeachtet der Frage der Anwendbarkeit des § 46 VwVfG auf Verfahrensfehler nach Europarecht ist der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG aber auch deshalb nicht nach dieser Norm unbeachtlich, weil nicht offensichtlich ist, dass er die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, dürfen nämlich nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur auf der Grundlage einer ausländerrechtlichen Ermessensentscheidung gemäß §§ 45, 46 AuslG (jetzt: § 55 AufenthG) ausgewiesen werden. Dabei sind neben der Art und Schwere der begangenen Straftat die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen und die privaten Belange des Betroffenen umfassend abzuwägen. Die Verwirklichung eines Ist- oder Regelausweisungstatbestandes darf zwar in die Abwägung einbezogen werden, jedoch nicht im Sinne einer Regelvermutung oder eines sonstigen Automatismus; maßgeblich sind stets die Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG, Urteil vom 3.8.2004 - 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315/319 ff.). War danach über die Ausweisung des Klägers nach Ermessen zu entscheiden, so kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auf das Ergebnis ausgewirkt hat. Eine sog. Ermessensreduktion auf Null, bei der dies ausnahmsweise anders sein könnte (vgl. dazu Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn 32 und 35 zu § 46 VwVfG), liegt trotz der vom Kläger begangenen schwerwiegenden Straftaten und der weiterhin auch nach Auffassung des Senats konkret gegebenen Wiederholungsgefahr nicht vor. Eine "zweite Stelle" hätte in eigener Kompetenz und Verantwortung eine Abwägung zu treffen gehabt, deren Ergebnis nicht von vornherein unzweifelhaft feststand. So wäre etwa zu Gunsten des Klägers seine starke Integration in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu berücksichtigen gewesen. Der Argumentation des Beklagten, auch im Falle der Einschaltung einer "zweiten Stelle" wäre der Kläger auf jeden Fall ausgewiesen worden, kann schon aus diesem Grund nicht gefolgt werden. Ein solche "zweite Stelle war zudem zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht geschaffen worden; auch deswegen ist eine Vorhersage über denkbare Ergebnisse ihrer Prüfung nicht möglich. Es bedarf daher auch keiner Entscheidung, ob die Rechtsfigur der Ermessensreduktion auf Null angesichts der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die sich ihrerseits auf die Rechtsprechung des EuGH stützt (Urteil vom 29.4.2004 - C-482/01 und C -493/01 - [Orfanopoulos und Oliveri], DVBl. 2004, 876), im Falle der Ausweisung von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen überhaupt angewendet werden kann.

Der Kläger hat sein Recht auf Einschaltung einer "zweiten Stelle" schließlich auch nicht dadurch verloren, dass er im Anhörungsverfahren vor Erlass der Ausweisungsverfügung keine Stellungnahme abgegeben hat. Denn Art. 9 RL 64/221/EWG bestimmt nicht, dass eine solche Stellungnahme Voraussetzung für die Einschaltung einer "zweiten Stelle" wäre. Auch im Verfahren vor der "zweiten Stelle" muss sich der Ausländer nicht beteiligen; es genügt, dass er die Möglichkeit dazu hat.

IV.

Der Verstoß gegen die verfahrensrechtlichen Anforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG führt zur Aufhebung des Ausweisung, obwohl die europarechtlichen Vorgaben für die Ausweisung durch die RL 2004/38/EG sowohl in formeller als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht neu geregelt worden sind und die RL 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.4.2006 aufgehoben worden ist (Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG).

Welche verfahrensrechtlichen Anforderungen bei aufenthaltsbeendenden Entscheidungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (insbesondere Ausweisungen) gegen Unionsbürger zu beachten sind, ist nunmehr in Art. 31 RL 2004/38/EG geregelt. Nach Abs. 3 dieser Bestimmung müssen im Rechtsbehelfsverfahren die Rechtmäßigkeit der Ausweisung sowie die Tatsachen und Umstände, auf denen sie beruht, überprüft werden können. Außerdem muss gewährleistet sein, dass sie insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 RL 2004/38/EG nicht unverhältnismäßig ist. Unabhängig von der Frage, inwieweit die RL 2004/38/EG nicht nur auf Unionsbürger, sondern auch auf türkische Staatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 anwendbar ist, ist daher europarechtlich mit Wirkung vom 30.4.2006 nicht mehr erforderlich, dass die Ausweisungsentscheidung durch eine unabhängige zweite Stelle auf ihre Zweckmäßigkeit überprüft werden kann (so auch OVG Lüneburg, Urteil vom 16.5.2006 - 11 LC 324/05 -, InfAuslR 2006, 350).

Das ändert aber nichts daran, dass die Verfügung nach wie vor verfahrensfehlerhaft ist. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

1. Maßstab für die Überprüfung der formellen Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vom 29.12.2003 ist nicht das im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, sondern das zur Zeit des Erlasses der Verfügung geltende Recht. Der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ist daher weiterhin beachtlich.

Der Beklagte argumentiert, dass die RL 2004/38/EG bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist am 30.4.2006 (vgl. Art. 40 Abs. 1 RL 2004/38 EG) Vorwirkungen entfaltet habe. Es genüge daher, wenn bei der Ausweisungsentscheidung gegen den Kläger die verfahrensrechtlichen Anforderungen aus dieser Richtlinie erfüllt seien. Dem ist nicht zu folgen. Die RL 2004/38/EG datiert vom 29.4.2004, wurde im Amtsblatt der Europäischen Union L 158 vom 30.4.2004 veröffentlicht und trat somit an diesem Tag in Kraft (vgl. Art. 41 RL 2004/38/ EG). Die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger wurde aber bereits am 29.12.2003 und somit vor Inkrafttreten der RL 2004/38/EG erlassen. Ungeachtet der grundsätzlich zu verneinenden Frage, ob Richtlinien bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist unmittelbare Wirkung entfalten können (vgl. dazu auch Kühling, Vorwirkungen von EG-Richtlinien bei der Anwendung nationalen Rechts - Interpretationsfreiheit für Judikative und Exekutive?, DVBl., 2006, 857 ff.), können die Bestimmungen der RL 2004/38/EG schon deshalb nicht für das bei der Ausweisung zu beachtende Verfahren maßgeblich gewesen sein.

2.) Was den für die Entscheidung in Ausweisungsfällen maßgebenden Zeitpunkt angeht, so ging das Bundesverwaltungsgericht früher in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Ausweisungsverfügungen unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Ausländers sowohl hinsichtlich der formellen als auch der materiellen Rechtmäßigkeit aufgrund der Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten Behördenentscheidung zu überprüfen seien (vgl. Urteil vom 15.3.2004 - 1 C 2.04 -, NVwZ 2005, 1074). Danach bliebe es bei dem einmal begangenen Verfahrensverstoß unabhängig von der weiteren Entwicklung.

Diese Rechtsprechung ist allerdings für Unionsbürger und türkische Staatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 durch neuere Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts überholt. In seinen Urteilen vom 3.8.2004 (- 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297 - für Unionsbürger - und - 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315 - für türkische Staatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 -) hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die Ausweisung aufgrund der Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts zu überprüfen ist. Das Bundesverwaltungsgericht differenziert dabei nicht zwischen der formellen und der materiellen Rechtmäßigkeit; seine Entscheidungen betreffen allerdings nur Fallgestaltungen, bei denen nur die materielle Rechtmäßigkeit der Ausweisung im Streit stand.

Die Konsequenz dieser neuen Rechtsprechung wäre, dass ein Verfahrensfehler nicht mehr festgestellt werden könnte; die Ausweisung wäre formell rechtmäßig (so unter Bezugnahme auf die oben zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts OVG Lüneburg, Urteil vom 16.5.2006 - a.a.O.).

Eine solche Übernahme der Grundsätze zum maßgeblichen Zeitpunkt hält der Senat - was das Verwaltungsverfahrensrecht angeht - generell jedoch nicht für zutreffend; ihr stehen Prinzipien des sog. intertemporalen Verfahrensrechts entgegen. Diese verlangen, dass die formelle Rechtmäßigkeit von Ausweisungsverfügungen weiterhin nach der Rechtslage zur Zeit der letzten Behördenentscheidung zu überprüfen ist (so auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.6.2006 - 11 S 2299/05 -, a.a.O.; und OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5.7.2006 - OVG 7 B 16.05 -, InfAuslR 2006, 395).

3.) Ein allgemeiner Grundsatz des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts, wie er auch in § 96 VwVfG zum Ausdruck kommt, besagt, dass neues Verfahrensrecht vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an regelmäßig auch bereits anhängige Verfahren erfasst, sich aber nicht mehr auf bereits abgeschlossene Verwaltungsverfahren erstreckt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.7.1992 - 2 BvR 1693, 1728/90 -, NVwZ 1992, 1182, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 28.5.1991 - A 16 S 2357/90 -, NVwZ-RR 1992, S. 107 und Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 6. Aufl., Rn 1 zu § 96 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Diese Regel des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts beruht wie das intertemporale Recht insgesamt auf allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die nicht nur im deutschen Recht, sondern auch in anderen Rechtsordnungen und insbesondere auch im EG-Recht Geltung beanspruchen können (vgl. dazu Kopp, Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts, Die Sozialgerichtsbarkeit 1993, 593/595). Ihr liegt letztlich die Überlegung zugrunde, dass die Verwaltung naturgemäß nur das im Zeitpunkt ihres Tätigwerdens geltende Verfahrensrecht beachten kann. Die Richtigkeit dieses Grundsatzes des intertemporalen Verwaltungsverfahrensrechts wird durch die Betrachtung der umgekehrten Konstellation (Erhöhung der verfahrensrechtlichen Anforderungen nach Abschluss des Verfahrens), bestätigt. Hier kann es ersichtlich nicht angehen, der Verwaltung die Nichtbeachtung einer Vorschrift vorzuhalten, die im Zeitpunkt ihrer Entscheidung noch nicht gegolten hat, die damals also noch keine rechtliche Wirkung hatte (vgl. BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, ZAR 2006, 107/110 und OVG Lüneburg, Urteil vom 15.3.2006 - 10 LB 7/06 -, Asylmagazin 2006, 25/26 jeweils zu § 73 Abs. 2a AsylVfG).

Eine Sondersituation, die ein Abweichen von diesem allgemeinen Rechtsgrundsatz gebieten könnte, liegt hier nicht vor.

Eine ausdrückliche Übergangsvorschrift enthält die RL 2004/38/EG nicht. Auch sonst kann ihr keine Aussage dahingehend entnommen werden, dass die formelle Rechtmäßigkeit von noch unter der Geltung der RL 64/221/EWG erlassenen Ausweisungsverfügungen jetzt am Maßstab der neuen verfahrensrechtlichen Regelungen in Art. 31 RL 2004/38/EG überprüft werden soll (vgl. dazu auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5.7.2006, a.a.O., S. 396). Denn sie bezweckt eine Verbesserung der Rechtsstellung Freizügigkeitsberechtigter, wie insbesondere die 3., 22., 23. und 24. Begründungserwägung zeigen. Diese Zielrichtung der Richtlinie würde beeinträchtigt, wenn sie dazu führte, dass eine bislang rechtswidrige Ausweisungsentscheidung jetzt als formell rechtmäßig qualifiziert werden müsste.

Auch sonstige Regeln und Grundsätze des Europarechts führen nicht zu einem abweichenden Ergebnis. Vielmehr sprechen die allgemeinen Regeln über die europarechtliche Freizügigkeit dafür, die formelle Rechtmäßigkeit weiterhin nach der Rechtslage zur Zeit der letzten Behördenentscheidung zu überprüfen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinen Urteilen vom 3.8.2004 bei Klagen gegen die Ausweisung von Unionsbürgern und von türkischen Staatsangehörigen unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung deshalb auf die Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt, um den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs Rechnung zu tragen, dass bei Klagen von Unionsbürgern und türkischen Staatsangehörigen mit einem Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 auch eine positive Entwicklung des Ausländers nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen ist (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 29.4.2004, a.a.O.). Dieses Ziel wird aber bereits dann erreicht, wenn hinsichtlich der materiellen Ausweisungsvoraussetzungen auf die aktuelle Sach- und Rechtslage abgestellt wird. Die durch die Änderung der Rechtsprechung bezweckte Verbesserung der Rechtsstellung von Unionsbürgern und türkischen Staatsangehörigen mit einem Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 würde - wie gerade der vorliegende Fall zeigt - in ihr Gegenteil verkehrt, wollte man auch bei der formellen Rechtmäßigkeit auf die aktuelle Sach- und Rechtslage abstellen. Letztlich wäre dies auch deshalb bedenklich, weil die die Freizügigkeit beschränkende Normen grundsätzlich eng auszulegen sind (vgl. dazu erneut, EuGH, Urteil vom 29.4.2004, a.a.O.).

Diesem Ergebnis entsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht in den Urteilen vom 13.9.2005 und vom 6.10.2005 (a.a.O.) auch entschieden, dass eine Ausweisung unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers rechtswidrig ist. Zwar lässt sich diese Aussage dem Wortlaut nach auch dahin deuten, dass der Verfahrensfehler nicht nach § 45 VwVfG geheilt werden können soll und auch nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich ist; der Wegfall einer Verfahrensvorschrift wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht ausdrücklich angesprochen. Dann hätte jedoch eine entsprechend eindeutige Aussage nahe gelegen (zum Begriff des unheilbaren Verfahrensfehlers s. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 2002, Rn 600).

Damit kann die Ausweisungsverfügung wegen des nach wie vor relevanten Verfahrensfehlers keinen Bestand haben und ist aufzuheben. Die Erklärung des Beklagten in der mündlichen Verhandlung, er werde angesichts der fortbestehenden Gefährlichkeit des Klägers wieder eine Ausweisungsverfügung erlassen, ändert daran nichts. Wie sich bereits aus den obigen Ausführungen zu § 46 VwVfG ergibt, steht gerade nicht fest, dass eine neue Ermessensentscheidung, bei der auch die weitere Entwicklung des Klägers nach Entlassung aus der Haft zu berücksichtigen sein wird, zwangsläufig zu seinem Nachteil ausfallen wird. Abgesehen davon wird der Beklagte vor Erlass eine erneuten Ausweisungsverfügung auch zu prüfen haben, inwieweit die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ausweisung aus Art 28 RL 2004/38 EG auch für türkische Staatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 gelten und ggf. erfüllt sind. Das Ergebnis ist offen.

Die Abschiebungsandrohung ist gleichfalls rechtswidrig, denn die Aufenthaltsberechtigung des Klägers ist nicht erloschen (§ 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG bzw. § 51 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG), sondern besteht vielmehr als Niederlassungserlaubnis fort (§ 101 Abs. 1 AufenthG), weshalb der Kläger nicht ausreisepflichtig ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die Frage, welche Auswirkungen das Außerkrafttreten des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zum 30.4.2006 auf in der Vergangenheit unter Verstoß gegen diese Vorschrift erlassene Ausweisungsverfügungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen hat, gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen. Die Rechtsfrage ist vom Bundesverwaltungsgericht bisher nicht geklärt; einerseits enthalten die oben genannten Urteile vom 3.8.2004 keine ausdrückliche Aussage dahin, dass auch hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit der Ausweisung auf die Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung bzw. der Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist, andererseits können seine Urteile vom 13.9.2005 und vom 6.10.2005 auch dahingehend interpretiert werden, dass der Begriff "unheilbarer Verfahrensfehler" nur im Hinblick auf die Regelungen in §§ 45, 46 VwVfG von Relevanz ist, aber keine Aussage für die Zeit nach Außerkrafttreten der RL 64/221 treffen soll. Zwar handelt es sich bei Art. 9 Abs. 1 RL64/221/EWG um außer Kraft getretenes Recht; die aufgeworfene Frage ist aber angesichts der Vielzahl der unter der Geltung dieser Vorschrift erlassenen und noch nicht bestandskräftig gewordenen Ausweisungen für einen nicht überschaubaren Personenkreis auf unabsehbare Zeit noch von Bedeutung; darüber hinaus kann die Frage auch Bedeutung für die Vielzahl der bei den Ausländerbehörden und Gerichten bereits anhängigen - sowie gegebenenfalls noch zu erwartenden - Verfahren auf Wiederaufgreifen von gemeinschaftsrechtswidrig erlassenen bestandskräftigen Ausweisungsverfügungen haben (zur Zulassung der Revision bei auslaufendem oder außer Kraft getretenen Recht vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24.10.1994 - 9 B 83.94 -, DVBl. 1995, 569 und vom 20.10.1995 - 6 B 35/95 -, NVwZ-RR 1996, 712 jeweils m.w.N.).

Beschluss vom 18.10.2006

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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