Judicialis Rechtsprechung
Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:
Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 22.12.2000
Aktenzeichen: 13 S 2540/99
Rechtsgebiete: VwGO, AuslG
Vorschriften:
VwGO § 123 | |
AuslG § 55 | |
AuslG § 53 Abs. 6 Satz 1 |
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss
In der Verwaltungsrechtssache
wegen Duldung
hier: Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz
hat der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Stumpe, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Jaeckel-Leight und den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Hartung
am 22. Dezember 2000
beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25. August 1999 - 16 K 3335/99 - geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern eine Duldung zu erteilen.
Die Antragsteller und die Antragsgegnerin tragen die Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht je zur Hälfte; die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf DM 16.000,-- festgesetzt.
Gründe:
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige Beschwerde der Antragsteller ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte dem von ihm übersehenen (Hilfs-)Antrag der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen eine Duldung zu erteilen, stattgeben müssen. Denn dieser - zulässige - Antrag ist begründet, da die Antragsteller einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht haben (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Der - beim Verwaltungsgericht hilfsweise gestellte - Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Insbesondere kommt insoweit ein Gesuch auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht, da die Antragsteller nicht die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs, sondern die Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Erlass einer Duldung erstreben; insoweit handelt es sich um ein Begehren, das im Hauptsacheverfahren ausschließlich mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen ist, so dass als Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich dasjenige auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Betracht kommt (§ 123 Abs. 5 VwGO). Auch liegt, was für den Erlass einer von den Antragstellern begehrten Regelungsanordnung im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erforderlich ist, ein streitiges Rechtsverhältnis vor. Hierzu bedarf es grundsätzlich einer vorherigen, erfolglos gebliebenen Antragstellung bei der Behörde (vgl. u.a. Funke-Kaiser in Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, § 123 RdNr. 40 m.w.N.). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Denn die Antragsteller haben der Sache nach bereits im Rahmen ihrer Anhörung zum beabsichtigten Erlass einer Abschiebungsandrohung unter Vorlage eines Schreibens der Schule für körperbehinderte Kinder und Jugendliche in XXXXXXXXXXXXXX vom 10.3.1999 die (weitere) Verlängerung der ihnen jeweils erteilten Duldungen zumindest bis zur Beendigung der Grundschulzeit der Antragstellerin Ziff. 4 an dieser Schule beantragt. Die Antragsgegnerin hat diesen Antrag zwar noch nicht förmlich beschieden, im vorangegangenen Verwaltungsverfahren bezüglich der Abschiebungsandrohungen sowie im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aber zu erkennen gegeben, dass sie beabsichtigt, das entsprechende Begehren der Antragsteller abzulehnen. Dies reicht zur Begründung eines streitigen Rechtsverhältnisses im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO aus (ebenso Funke-Kaiser a.a.O. m.w.N.).
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Die Antragsteller haben zunächst einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich daraus, dass die Antragsgegnerin - nachdem der Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen gegen die Abschiebungsandrohungen der Antragsgegnerin vom 20.8.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 21.5.1999 rechtskräftig abgelehnt worden ist - mitgeteilt hat (zuletzt mit Schreiben vom 27.9.2000), dass sie beabsichtige, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen; der Durchführung der Abschiebung stehe nach Mitteilung des Regierungspräsidiums Stuttgart - Bezirksstelle für Asyl - nichts mehr entgegen. Der von den Antragstellern auch in der Hauptsache geltend gemachte Duldungsanspruch würde durch den Vollzug der Abschiebung vernichtet, was es mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ausnahmsweise rechtfertigt, die Hauptsache - im vorliegenden Fall ohnehin nur vorläufig - vorwegzunehmen (vgl. hierzu den Senatsbeschluss vom 2.5.2000 - 13 S 2456/99 -, InfAuslR 2000, 395 sowie Eyermann/Happ, VwGO, 11. Aufl., § 123 RdNr. 63; Funke-Kaiser a.a.O. §123 RdNr. 62 und Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 123 RdNrn. 13, 14). Auf eine einstweilige Anordnung lediglich des Inhalts, die Antragsgegnerin zu verpflichten, von der Abschiebung einstweilen abzusehen, brauchen sich die Antragsteller nicht verweisen zu lassen (so aber Hess. VGH, Beschluss vom 18.2.1993, NVwZ-RR 1993, 666). Es kann dahinstehen, ob ein schlichtes Absehen von der Abschiebung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers ohne förmliche (schriftliche) Erteilung einer Duldung nach § 55 AuslG überhaupt rechtlich in Betracht kommt (vgl. Hailbronner, AuslG, Kommentar A 1, § 55 RdNr. 1a); denn die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erteilung einer Duldung im Wege der einstweiligen Anordnung erscheint auch deshalb nötig, weil die Antragsteller sich ohne Besitz einer Duldung nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG strafbar machen und mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden können. Das Risiko einer Strafverfolgung und Bestrafung nach dieser Vorschrift ist ihnen daher nicht zuzumuten (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. die Senatsbeschlüsse vom 2.5.2000 a.a.O. und vom 3.11.1995 - 13 S 2185/95 -, NVwZ-RR 1996, 356).
Auch der für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht. Er ergibt sich hinsichtlich der Antragstellerin Ziff. 4 aus § 53 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 55 Abs. 2 3. Alt. AuslG. Das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ist überwiegend wahrscheinlich (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Nach dieser Vorschrift steht es allerdings im Ermessen der Ausländerbehörde, ob sie die Abschiebung aussetzt oder nicht; eine Duldung nach § 55 Abs. 2 3. Alt. kann daher grundsätzlich erst dann beansprucht werden, wenn sich die Behörde erkennbar zur Aussetzung der Abschiebung entschlossen und eine positive Entscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG über die Aussetzung der Abschiebung getroffen hat; diese Entscheidung kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.4.1997, BVerwGE 104, 210). Die Antragsgegnerin hat jedoch das ihr nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zustehende Ermessen (bisher) nicht fehlerfrei ausgeübt, wie noch im einzelnen darzulegen sein wird.
Es kann dahingestellt bleiben, ob sich das Ermessen der Antragsgegnerin - wofür angesichts der Schwere der der Antragstellerin Nr. 4 bei einer Abschiebung drohenden Gesundheitsgefahren bei Berücksichtigung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG manches spricht (vgl. hierzu die folgenden Ausführungen) - "auf Null" reduziert hat. Denn auch ein gegen die Antragsgegnerin gerichteter Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung ist grundsätzlich ein durch einstweilige Anordnung sicherungsfähiges Recht. Das Unterbleiben einer den Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung sichernden einstweiligen Anordnung würde in Fällen der vorliegenden Art zu einem mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbaren Rechtsschutzdefizit führen (vgl. hierzu den Senatsbeschluss vom 10.3.2000 - 13 S 1026/99 -, InfAuslR 2000, 378 sowie Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 123 RdNrn. 158 bis 162; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., RdNr. 239 sowie RdNrn. 242 ff.; Happ in Eyermann a.a.O., § 123 RdNrn. 49 und 66; Funke-Kaiser a.a.O., § 124 RdNr. 63 jeweils m.w.N.). Auch unter dem Gesichtspunkt des oben bereits erörterten grundsätzlichen Verbots der (endgültigen) Vorwegnahme der Hauptsache bestehen in Fällen der vorliegenden Art keine Bedenken gegen die Sicherung eines (Neu-)Bescheidungsanspruchs durch eine auf (vorläufige) Duldung des Ausländers gerichtete einstweilige Anordnung. Denn das im Hauptsacheverfahren von der Ausländerbehörde nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG auszuübende Ermessen bleibt unberührt. Die lediglich auf (vorläufige) Duldung gerichtete einstweilige Anordnung äußert somit keine auch im Hauptsacheverfahren irreversiblen Wirkungen für die Zukunft. Vielmehr kann die Ausländerbehörde mit einer - rechts- und ermessensfehlerfreien - Hauptsacheentscheidung den status quo ante wiederherstellen. Es liegt also an ihr, auf die einstweilige Anordnung mit einer ermessensfehlerfreien Entscheidung zu reagieren und - gegebenenfalls - im Anschluss daran eine Änderung oder Aufhebung der einstweiligen Anordnung in analoger Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO (zu dieser vgl. Schoch, a.a.O., § 123 RdNrn. 177 f.; Happ a.a.O., § 123 RdNr. 78; Funke-Kaiser, a.a.O., § 123 RdNr. 66; Kopp/Schenke, a.a.O., § 123 RdNr. 35) zu beantragen (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 10.3.2000 a.a.O. sowie Schoch a.a.O., RdNr. 162; Happ, a.a.O., RdNr. 66; Funke-Kaiser, a.a.O., RdNr. 163).
Voraussetzung für eine den Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung sichernde einstweilige Anordnung ist in Fällen der vorliegenden Art im Rahmen der Prüfung des Anordnungsanspruchs die Glaubhaftmachung eines Ermessensfehlers bei Ablehnung (oder Unterlassung) der begehrten Behördenentscheidung und die gerichtliche Prognose anhand der bisher im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu Tage getretenen Umstände, dass die ermessensfehlerfreie (Neu-)Bescheidung durch die Behörde mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Erteilung der vom Antragsteller begehrten Duldung führen wird (vgl. Senatsbeschluss vom 10.3.2000 a.a.O. sowie VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.11.1995 - 9 S 3100/95 -, NVwZ-RR 1996, 262, 263 und Schoch, a.a.O., RdNrn. 159, 160; weitergehend VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 26.10.1994 - 8 S 2763/94 -, NVwZ-RR 1995, 490/491 für den Fall des Antrags auf ein im Ermessen der Baurechtsbehörde stehendes Einschreiten gegen den Schwarzbauer - offener Verfahrensausgang soll ausreichen -; ebenso Funke-Kaiser, a.a.O., § 123 RdNr. 63). Beide Voraussetzungen sind hier gegeben.
Die Antragsgegnerin ist bisher - wie ihren Äußerungen im Verwaltungsverfahren bezüglich der gegen die Antragsteller erlassenen Abschiebungsandrohungen und im vorliegenden Verfahren zu entnehmen ist - davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Falle der Antragstellerin Nr. 4 nicht vorliegen. Die von ihr in diesem Zusammenhang angestellten Erwägungen vermögen aber diese Annahme nicht zu stützen. Vielmehr ist es überwiegend wahrscheinlich und daher im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2 und 294 ZPO glaubhaft gemacht, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Hinblick auf die Antragstellerin Nr. 4 vorliegen. Da die Antragsgegnerin - nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen Prüfung aufgrund präsenter Beweismittel - das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu Unrecht verneint hat, hat sie zugleich das ihr nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zustehende Aussetzungsermessen fehlerhaft nicht ausgeübt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383) kann die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen. Dabei ist eine entsprechende Gefahr als erheblich im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, wenn sich der Gesundheitszustand im Zielstaat der Abschiebung wesentlich (oder gar lebensbedrohlich) verschlechtern würde. Konkret droht eine solche Gefahr nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG dann, wenn die wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland eintritt, weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, a.a.O., 387).
Diese Voraussetzungen sind bei der Antragstellerin Nr. 4 gegeben. Sie leidet an einer kontinuierlich behandlungsbedürftigen fokalen Epilepsie nach frühkindlichem Hirnschaden (vgl. hierzu das ärztliche Attest der Nervenärztin und Psychotherapeutin XXXXXXXXXX vom 9.6.1999 sowie die ärztliche Bescheinigung des Kinderarztes XXXXXX vom 8.12.1998). Hinzu kommt eine rechtsbetonte Tetraparese (Lähmung aller Extremitäten), die sich vordergründig als spastische Halbseitenlähmung zeigt; daraus resultieren erhebliche psychomotorische Entwicklungsrückstände sowie eine "expressive Sprachentwicklungsverzögerung" (vgl. die Stellungnahme der Schule für Körperbehinderte vom 10.3.1999). Sie besucht seit dem Schuljahr 1998/99 die Schule für körperbehinderte Kinder und Jugendliche in XXXXXXXXXXXXX. Nach deren Stellungnahme vom 10.3.1999 würde "eine Abschiebung die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Mädchens jäh unterbrechen und beenden" und die bisher erzielten Entwicklungs- und Förderungsfortschritte zunichte machen, da geeignete Sondereinrichtungen in Bosnien-Herzegowina (was die Antragsgegnerin nicht bestreitet) nicht vorhanden seien.
Soweit die Antragsgegnerin (wie auch das Regierungspräsidium Stuttgart in seinem die Abschiebungsandrohungen betreffenden Widerspruchsbescheid vom 21.5.1999) meint, aus dieser Stellungnahme der Schule für Körperbehinderte ergebe sich nicht, dass sich die "Krankheit in Bosnien-Herzegowina verschlimmern" würde; vielmehr würden lediglich schädliche "Auswirkungen der Krankheit auf die Persönlichkeitsentwicklung" eintreten, vermag der Senat dem aufgrund einer Bewertung der o.g. fachärztlichen Atteste und der Stellungnahme der Schule für Körperbehinderte nicht zu folgen. Die Antragsgegnerin beschränkt sich auf eine isolierte Prüfung der Fragen, ob die fokale Epilepsie einerseits und die in der Stellungnahme der Schule vom 10.3.1999 beschriebenen erheblichen Körperbehinderungen der Antragstellerin Nr. 4 andererseits in Bosnien-Herzegowina medizinisch behandelbar sind. Dies bejaht sie unter Hinweis auf die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 29.4.1999 und die ihr beigefügte Liste (Stand 18.3.1999). Danach sind in der Tat die fokale Epilepsie sowie die aus der Tetraspastik mit psychomotorischer Retardierung herrührenden Beschwerden in Bosnien-Herzegowina grundsätzlich behandelbar (medikamentös mit Fokalepsin ret.-Carbamazepin-sowie mit Ergotherapie, Krankengymnastik nach Bobath unter Einbeziehung der Vojta-Therapie und logopädischen Maßnahmen). Dabei sind allerdings Behandlungen nach Bobath/Vojta und logopädische Behandlungen nur in Sarajevo und Tuzla möglich und nach der Liste des Auswärtigen Amtes vom 18.3.1999 ist auch die "spastische Diplegie", wie die Antragsgegnerin einräumt, in Tuzla und Sarajevo nur behandelbar, soweit "die Pflege durch Familienangehörige ständig überwacht wird".
Mit dieser isolierten Bewertung der jeweils gegebenen Behandlungsmöglichkeiten berücksichtigt die Antragsgegnerin jedoch nicht hinreichend die schwerwiegende Mehrfachbehinderung der Antragstellerin Nr. 4. Selbst im Hinblick auf die gravierenden Körperbehinderungen hat die Schule in ihrer Stellungnahme vom 10.3.1999 - sachlich einleuchtend - darauf hingewiesen, dass eine erfolgreiche Behandlung der Antragstellerin Nr. 4 schulischer Rahmenbedingungen bedarf, unter denen gewährleistet ist, dass medizinisch indizierte Maßnahmen (Krankengymnastik/Ergotherapie/Logopädie) und pädagogische Förderung in einem Gesamtkonzept in spezifischer Weise aufeinander bezogen sind. Es liegt auf der Hand, dass dies die in Bosnien-Herzegowina verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten, die ohnehin nur unter Einschränkungen bestehen, nicht leisten können. Wenn die Schule für Körperbehinderte in ihrer Stellungnahme vom 10.3.1999 ausführt, die Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina würde "die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Mädchens unterbrechen und beenden", eine "Normalisierung" in den Förderbereichen würde verhindert und als Folge davon müsste sie in großer persönlicher und emotionaler Abhängigkeit verbleiben, so handelt es sich damit entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht nur um Beeinträchtigungen ohne Krankheitswert, sondern um eine gravierende Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes der Antragstellerin Nr. 4 als Folge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten in Bosnien-Herzegowina. Unter einer Leibesgefährdung im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind auch Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit eines Ausländers ohne Verletzung der äußeren Integrität des Leibes zu verstehen (vgl. das Senatsurteil vom 22.11.2000 - A 13 S 348/97 - und GK-AuslR, § 53 RdNrn. 235 f.). Hierzu gehören die von der Schule für Körperbehinderte beschriebenen tiefgreifenden negativen Folgen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung der Antragstellerin Nr. 4, die sich zugleich als gravierende psychische Beeinträchtigungen mit Krankheitswert darstellen. Hinzu kommt, dass die im ersten Schulhalbjahr erreichte "emotionale Stabilisierung" (vgl. hierzu die Stellungnahme der Schule für Körperbehinderte vom 1.7.1999) im Falle der Abschiebung verloren zu gehen droht und infolge dessen die Gefahr schädlicher Rückwirkungen auf das epileptische Anfallsleiden der Antragstellerin Nr. 4 besteht. Vor einer etwaigen Abschiebung wäre daher die Einholung eines nervenfachärztlichen Gutachtens geboten, um ausschließen zu können, dass derartige gravierende Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit als Folge der Abschiebung eintreten würden.
Nach dem Erkenntnisstand im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes war somit wegen Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich der Antragstellerin Nr. 4 das Ermessen für die Ausländerbehörde im Hinblick darauf eröffnet, ob sie die Abschiebung aussetzt. Die Antragsgegnerin hat von diesem Ermessen - wie oben dargelegt - fehlerhaft keinen Gebrauch gemacht. Im vorliegenden summarischen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist auch aufgrund der bisher in diesem Verfahren zutage getretenen Umstände - vorläufig - davon auszugehen, dass die ermessensfehlerfreie Bescheidung des Begehrens der Antragstellerin Nr. 4 durch die Antragsgegnerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Aussetzung der Abschiebung (Duldung) führen wird. Bei dieser Ermessensausübung im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind der Wahrscheinlichkeitsgrad des Gefahreneintritts, das Ausmaß und die Schwere sowie die Dauer der drohenden Verletzung bzw. Beeinträchtigung der Gesundheit zu berücksichtigen. Insgesamt geht es um eine Abwägung des Interesses der Bundesrepublik Deutschland an einer Aufenthaltsbeendigung gegen das Interesse des Ausländers an Schutz vor einer drohenden Verletzung seiner von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erfassten Rechtsgüter (vgl. GK-AuslR, § 53 RdNr. 243). Bei Anwendung dieser Grundsätze überwiegt das Interesse der Antragstellerin Nr. 4 an der Aussetzung der Abschiebung gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Beendigung eines - hier ursprünglich gewährten -bürgerkriegsbedingten Bleiberechts nach Bürgerkriegsende. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass die beschriebenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei einer Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten würden und dass es sich um außerordentlich gravierende, schwerwiegende Beeinträchtigungen handelt. Liegt somit gegenüber den Regelfällen der Beendigung eines bürgerkriegsbedingten Aufenthalts nach dem Ende des Bürgerkriegs ein durch besondere Umstände geprägter Sonderfall vor, so verliert das entsprechende öffentliche Interesse an Gewicht. Besondere öffentliche Interessen, die der Aussetzung der Abschiebung entgegenstehen könnten, hat die Antragsgegnerin auch bisher nicht geltend gemacht. Insbesondere kommt die Familie der Antragstellerin Nr. 4 aufgrund einer Erwerbstätigkeit des Antragstellers Nr. 2 für ihren eigenen Unterhalt auf und nimmt daher keine Sozialhilfe in Anspruch. Sollte sich im übrigen herausstellen, dass die Antragstellerin Nr. 4 bereits nach Absolvierung von insgesamt drei Schuljahren in der Schule für Körperbehinderte ohne Gefahr des Eintritts gravierender psychischer und sonstiger Beeinträchtigungen mit Krankheitswert nach Bosnien-Herzegowina zurückkehren könnte, und sollte zu diesem Zeitpunkt das Hauptsacheverfahren noch nicht abgeschlossen sein, so kann die Antragsgegnerin dies mit einem Antrag auf Aufhebung der einstweiligen Anordnung in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO - wie oben dargelegt - geltend machen.
Die Antragstellerin Ziff. 4 begehrt auch entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht etwa eine unzulässige Regelung eines Daueraufenthalts im Wege der Duldung. Liegt ein zwingendes Abschiebungshindernis vor, so ergibt sich daraus nach § 55 Abs. 2 AuslG so lange ein Duldungsanspruch, wie die Voraussetzungen dieses Abschiebungshindernisses gegeben sind. Ist dies auf Dauer der Fall, ist die Abschiebung auch auf Dauer rechtlich unmöglich im Sinne des § 55 Abs. 2 AuslG mit der Folge eines entsprechenden Duldungsanspruchs. Die Duldung ist daher in derartigen Fällen - wenn nicht, was vorrangig ins Auge zu fassen ist (BVerwG, Urteil vom 4.6.1997, BVerwGE 105, 35), die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung oder Aufenthaltsbefugnis möglich ist - immer wieder zu erneuern (vgl. Senatsbeschluss vom 5.7.1999 - 13 S 1101/99 -). Diese Grundsätze gelten entsprechend, wenn bei Bestehen eines sogenannten fakultativen Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG eine fehlerfreie Ermessensausübung der Ausländerbehörde dazu führt, dass sie eine positive Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung trifft. Davon ist hier nach dem oben Ausgeführten auszugehen. Solange diese Ermessensentscheidung Bestand hat, bleibt auch der Duldungsanspruch nach § 55 Abs. 2 3. Alt. AuslG erhalten.
Für die Antragsteller Nr. 1 bis 3 sind die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ebenfalls gegeben. Sie können sich auf ein - der Sache nach vom Recht der Antragstellerin Ziff. 4 abgeleitetes -Bleiberecht aufgrund von Art. 6 Abs. 1 GG berufen. Denn bei unzumutbarer Trennung einer familiären Lebensgemeinschaft in Form der Beistandsgemeinschaft besteht ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG, das einen Duldungsanspruch nach § 55 Abs. 2 AuslG begründet (vgl. hierzu den Senatsbeschluss vom 5.7.1999 a.a.O. unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 9.12.1997, BVerwGE 106, 13). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Zwischen den Antragstellern Nr. 1 und 2 - den Eltern - und ihren minderjährigen Kindern - den Antragstellern Nr. 3 und 4 - besteht eine familiäre Lebensgemeinschaft in Form der Beistandsgemeinschaft (vgl. hierzu den Senatsbeschluss vom 5.7.1999 a.a.O.). Da der Antragstellerin Nr. 4 aus den oben dargelegten Gründen ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, kann diese Beistandsgemeinschaft auch nur in der Bundesrepublik "gelebt" werden. Sie würde durch eine Abschiebung der Antragsteller Nr. 1 bis 3 in einer mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbaren Weise getrennt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1 Satz 1 und 2, 20 Abs. 3 und 25 Abs. 2 GKG i.V.m. § 5 ZPO in entsprechender Anwendung.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Ende der Entscheidung
Bestellung eines bestimmten Dokumentenformates:
Sofern Sie eine Entscheidung in einem bestimmten Format benötigen, können Sie sich auch per E-Mail an info@protecting.net unter Nennung des Gerichtes, des Aktenzeichens, des Entscheidungsdatums und Ihrer Rechnungsanschrift wenden. Wir erstellen Ihnen eine Rechnung über den Bruttobetrag von € 4,- mit ausgewiesener Mehrwertsteuer und übersenden diese zusammen mit der gewünschten Entscheidung im PDF- oder einem anderen Format an Ihre E-Mail Adresse. Die Bearbeitungsdauer beträgt während der üblichen Geschäftszeiten in der Regel nur wenige Stunden.