Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 18.06.2008
Aktenzeichen: 13 S 2809/07
Rechtsgebiete: LVwVfG, VwGO


Vorschriften:

LVwVfG § 48 Abs. 1
VwGO § 121 Nr. 1
1. Die Rechtskraft eines Urteils, das die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung abgewiesen hat, kann deren Rücknahme auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 LVwVfG entgegenstehen.

2. Zu den Voraussetzungen, unter denen dieser Grundsatz durch Gemeinschaftsrecht modifiziert wird.


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

13 S 2809/07

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Aufhebung und Befristung einer Ausweisung

hat der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 18. Juni 2008

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 13. April 2007 - 5 K 1035/05 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Rücknahme einer bestandskräftigen Ausweisung, hilfsweise die Befristung von deren Wirkungen.

Der am xxxxxxxx in xxxxxxxx in der Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. 1969 reiste er zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Deutschland ein, wo sein Vater schon seit mehreren Jahren lebte und arbeitete. Bis 1982 lebte er bei seinem Vater, der in dieser Zeit durchgehend als Arbeitnehmer beschäftigt war. Er besuchte in Heilbronn die Grund- und die Hauptschule, die er im Alter von 15 Jahren nach der 6. Klasse ohne Abschluss verließ. In der Folgezeit war er in mehreren Arbeitsverhältnissen unterschiedlicher Dauer beschäftigt; zeitweise war er arbeitslos. Eine Anstellung als Textilfärber verlor er 1992 nach etwa zehn Jahren, nachdem sein Arbeitgeber in Konkurs fiel. Seit 1993 oder 1994 arbeitete er mit verschiedenen Polizeidienststellen zusammen, für die er als V-Mann eingesetzt wurde. Von Ende 1998 bis April 1999 betrieb er eine Imbissbude. Er ist seit 1982 mit einer türkischen Staatsangehörigen verheiratet. Aus dieser Ehe sind zwei am 22.8.1983 und am 15.3.1990 geborene Kinder hervorgegangen. Am 4.10.1990 erhielt er eine Aufenthaltsberechtigung.

Mit Urteil vom 21.4.1997 - 23 Cs 16 Js 22675/96 - verurteilte das Amtsgericht Heilbronn den Kläger wegen versuchter Nötigung, Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung, vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung und Beleidigung zu einer Geldstrafe von 55 Tagessätzen zu je 20,-- DM.

Mit Urteil vom 6.10.1999 - 1 KLs 61/ Js 8741/99 - verurteilte das Landgericht Heilbronn den Kläger und seinen Bruder wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Dieses Urteil ist seit dem 14.10.1999 rechtskräftig.

Mit Bescheid vom 24.2.2000 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung führte es aus, der Kläger erfülle aufgrund der begangenen Straftaten den Tatbestand der Ist-Ausweisung. Zwar genieße er aufgrund seiner Aufenthaltsberechtigung besonderen Ausweisungsschutz. Dies hindere aber seine Ausweisung nicht, da schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorlägen. Zwar werde die Ist- zur Regel-Ausweisung abgestuft, ein Ausnahmefall liege aber nicht vor. Ein weitergehender völkerrechtlicher Ausweisungsschutz komme dem Kläger nicht zu.

Der Kläger hat am 13.3.2000 vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben, zu deren Begründung er vortrug, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung machten seine Ausweisung nicht erforderlich. Er arbeite seit Oktober 1993 als Vertrauensperson mit der Polizei zusammen und habe an der Überführung von über 60 Rauschgifthändlern mitgewirkt. Die meisten der überführten Rauschgifthändler seien zwischenzeitlich in die Türkei abgeschoben worden. Im Falle einer Abschiebung sei mit Maßnahmen der Rauschgiftszene gegen ihn zu rechnen. Er lebe seit über 30 Jahren in der Bundesrepublik und ihm stehe der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zu. Weiter sei er ein wichtiger Zeuge in einem Mordprozess, der vor dem Landgericht Waldshut-Tiengen stattfinde. Auch wegen dieses Verfahrens sei er mit dem Tod bedroht worden.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart hob mit Urteil vom 24.4.2001 - 5 K 1684/00 -die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 24.2.2000 auf und wies die Klage im übrigen ab. In den Entscheidungsgründen heißt es: Die Ausweisung des Klägers sei aus den in dem angefochtenen Bescheid dargelegten Gründen nicht zu beanstanden. Die Abschiebungsandrohung sei hingegen aufzuheben, da eine weitere Sachaufklärung erforderlich sei. Es sei nicht berücksichtigt worden, dass aufgrund des Strafnachrichtenaustausches zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland die Verurteilung des Klägers in der Türkei bekannt gegeben worden sei. Es sei offen, welche Auswirkungen dies im Hinblick auf die §§ 51 und 53 AuslG haben könne.

Hiergegen beantragten sowohl der Kläger als auch der Beklagte fristgerecht Zulassung der Berufung.

Der Kläger machte in seinem Zulassungsantrag geltend, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, da das Verwaltungsgericht seine persönlichen Belange nicht zutreffend gewürdigt habe. Er habe nicht nur bei der Überführung anderer Rauschgifthändler mitgewirkt, sondern sei tragender Zeuge in einem anhängigen Mordprozess. Seine Unterstützung in diesem Verfahren und die gegen ihn ausgesprochenen Morddrohungen ließen eine Ausweisung als unbillige Härte erscheinen. Im übrigen werde auf die Begründung der Klage hingewiesen.

Mit Beschluss vom 14.8.2001 - 10 S 1409/01 - lehnte der erkennende Verwaltungsgerichtshof den Zulassungsantrag des Klägers ab. Das Verwaltungsgericht habe seine persönlichen Belange gewürdigt. Allein der Umstand, dass es diese abschließend nicht in dem vom Kläger gewünschte Sinne würdige, begründe noch keine ernstlichen Zweifel. Im Rahmen der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall vorliege, habe das Verwaltungsgericht das Vorbringen des Klägers berücksichtigt, er habe bei der Überführung anderer Rauschgifthändler mitgewirkt. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass dies die Annahme eines Ausnahmefalls grundsätzlich nicht rechtfertige, sei rechtlich nicht zu beanstanden. Soweit der Kläger vortrage, er sei tragender Zeuge in einem Mordprozess und es seien bereits Morddrohungen ausgesprochen worden, zeige das Zulassungsvorbringen nicht in einer den Anforderungen an die Darlegung nach § 124a Abs. 1 Satz 4 VwGO genügenden Weise auf, weshalb insoweit ernstliche Zweifel an der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestünden.

Auf den Zulassungsantrag des Beklagten ließ der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 13.8.2001 - 10 S 1409/01 - die Berufung in Bezug auf die Aufhebung der Abschiebungsandrohung zu. Mit Urteil vom 19.12.2001 änderte es auf die Berufung des Beklagten das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart und wies die Klage auch hinsichtlich der in der Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 24.2.2000 verfügten Abschiebungsandrohung ab.

Mit Urteil vom 20.3.2003 - 1 KLs 61 Js 25579/02 - verurteilte das Landgericht Heilbronn den Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 23 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Dieses Urteil ist seit dem 28.8.2003 rechtskräftig.

Mit Antrag vom 17.1.2005, konkretisiert durch Schriftsatz vom 4.2.2005, beantragte der Kläger beim Regierungspräsidium Stuttgart, die Ausweisungsverfügung vom 24.2.2000 im Wege des Wiederaufgreifens zu widerrufen und für den Fall, dass er abgeschoben werde, die Wirkungen der Ausweisungsverfügung sowie der Abschiebung ab dem Zeitpunkt der Abschiebung zu befristen. Zur Begründung trug er vor: Er dürfe nur nach einer einzelfallbezogenen Prüfung, die von seinem persönlichen Verhalten ausgehe, ausgewiesen werden. Die Gefahrenprognose beschränke sich auf spezialpräventive Gesichtspunkte und dürfe sich nicht allein an einer strafgerichtlichen Verurteilung orientieren. Eine Ausweisung sei darüber hinaus nur gerechtfertigt, wenn das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Bürgers an einem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiege. In Anbetracht dessen, dass er im Bundesgebiet aufgewachsen sei und seine Familie mit zwei Kindern noch im Bundesgebiet lebe und weil seine Ausweisung eine erhebliche Gefahr für seine Person begründe, sei diese nicht gerechtfertigt. Er habe als V-Mann für die Polizei in Hessen und Baden-Württemberg gearbeitet. Er sei an der Festnahme zahlreicher Personen aus der organisierten Kriminalität beteiligt gewesen. Er werde von den Straftätern bedroht, die mit seiner Hilfe überführt worden und nach der Verbüßung ihrer Haftstrafe in die Türkei abgeschoben worden seien. Dem Antrag war u.a. ein 43-seitiges handschriftliches Schreiben des Klägers vom 30.9.2004 beigefügt, in dem er von seiner jahrelangen Tätigkeit als V-Mann und über mehrere Anschläge, die auf ihn und seine Familienangehörigen verübt worden seien, im einzelnen berichtet. Insbesondere schildert der Kläger darin auch einen angeblichen Angriff (wohl im Jahr 2002) im Urlaub in der Türkei und weshalb er sich wegen einer Zeugenaussage in einem Mordprozess gefährdet fühle.

Mit Bescheid vom 16.2.2005 - zugestellt am 18.2.2005 - lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart den Antrag auf Rücknahme bzw. Widerruf der Ausweisung vom 24.2.2000 ab. In den Gründen wird ausgeführt: Gegenstand dieser Entscheidung sei lediglich der Antrag auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens. Hinsichtlich des Vorliegens etwaiger Abschiebungshindernisse ergehe eine gesonderte Entscheidung. Über den am 4.2.2005 gestellten Antrag auf nachträgliche Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung werde erst nach erfolgter Abschiebung entschieden. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 LVwVfG lägen nicht vor. Eine Änderung der Rechtsprechung stelle keine Änderung der Rechtslage dar. Die Rücknahme nach § 48 LVwVfG setze voraus, dass die Ausweisung rechtswidrig sei. Es werde nicht verkannt, dass die am 24.2.2000 verfügte Ausweisung nicht in Einklang mit der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts stehe und somit rechtswidrig sei. § 48 LVwVfG räume jedoch der Behörde Ermessen ein. Bei einer zum heutigen Zeitpunkt zu treffenden Ermessensentscheidung müssten alle seit dem seinerzeit maßgeblichen Zeitpunkt eingetretenen Umstände berücksichtigt werden. Die am 20.3.2003 vom Landgericht Heilbronn verhängte neuerliche Freiheitsstrafe sei Anlass genug, die Ausweisung des Klägers zu verfügen. Es werde nicht verkannt, dass ihm eine Rechtsposition aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 zustehe. Der ihm hiernach zustehende besondere Ausweisungsschutz sei dadurch überwunden, dass von ihm eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung ausgehe. Sonstige weitere im persönlichen und privaten Umfeld zu berücksichtigende Umstände oder Änderungen seit dem damals maßgeblichen Zeitpunkt seien nicht eingetreten und auch nicht vorgetragen worden.

Der Kläger hat am 18.3.2005 Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben und in der mündlichen Verhandlung die Rücknahme der Ausweisung, hilfsweise deren Befristung, beantragt.

Mit Beschluss vom 26.3.2007 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts ab. In den Gründen heißt es, der Klage fehle hinreichende Erfolgsaussicht. Eine Änderung der Rechtsprechung sei keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG. Der Kläger habe aber auch keinen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 LVwVfG. Es sei bereits zweifelhaft, ob die verfügte Ausweisung schon allein deshalb rechtswidrig sei, weil sie nicht als Ermessensentscheidung ergangen sei. Die Kammer des Verwaltungsgerichts, der der Berichterstatter angehöre, habe sich gegenüber der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern distanziert. Aber auch wenn man zugunsten des Klägers davon ausgehe, dass eine Ermessensentscheidung zu verlangen sei, fehle es an glaubhaft gemachten Umständen dafür, dass dieses rechtmäßig nur dahingehend ausgeübt werden könne, die verfügte Ausweisung zurückzunehmen. Überdies sei weder vorgetragen noch erkennbar, dass die Ausweisung - bezogen auf den Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung über die Ausweisung - im Ergebnis nicht auch hätte "ermessensfehlerfrei" erfolgen können. Hiernach dürfte es nicht entscheidungserheblich sein, ob wegen der zwischenzeitlich erneuten Verurteilung des Klägers dieser nunmehr wiederum ausgewiesen werden könne, wovon das Regierungspräsidium Stuttgart in seinem Bescheid vom 16.2.2005 ausgehe. Folglich komme es voraussichtlich nicht darauf an, dass keine Ermittlungen zum Verlauf des Strafvollzugs erfolgt seien.

Mit Urteil vom 13.4.2007 - 5 K 1035/05 - wies das Verwaltungsgericht die auf Rücknahme der Ausweisung, hilfsweise auf deren Befristung gerichtete Klage unter Bezugnahme auf die Ausführungen in seinem Prozesskostenhilfebeschluss vom 26.3.2007 ab. Ergänzend wird ausgeführt: Soweit der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung besonders hervorgehoben habe, dass hier ein Fall der erstrebten Rücknahme eines noch nicht vollzogenen Bescheids vorliege, führe dies zu keinem anderen Ergebnis. Derartige Umstände könnten als ausschlaggebende Erwägungen für oder gegen eine Rücknahme nicht entscheidungserheblich sein. Der erst in der mündlichen Verhandlung gestellte Hilfsantrag, den Beklagten zu verpflichten, die Wirkungen der Ausweisung vom 24.2.2000 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu befristen, sei unzulässig. Der in dem Schriftsatz vom 4.2.2005 an das Regierungspräsidium Stuttgart gestellte Antrag sei unter einer aufschiebenden Bedingung (für den Fall, dass der Kläger abgeschoben werde) gestellt worden. Da diese Bedingung noch nicht eingetreten sei, liege keine Untätigkeit des Beklagten vor. Deshalb seien die Voraussetzungen des § 75 Satz 1 VwGO nicht erfüllt. Im übrigen gehe der Hilfsantrag über das Begehren im Verwaltungsverfahren hinaus, weshalb dem Kläger auch kein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite stehe.

Gegen das ihm am 16.5.2007 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12.6.2007 Zulassung der Berufung beantragt. Zur Begründung der vom Senat mit Beschluss vom 27.11.2007 - zugestellt am 7.12.2007 - zugelassenen Berufung hat er am 7.1.2008 vorgetragen: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe er dargelegt, dass er im Bundesgebiet mit seiner Familie nicht nur fest verwurzelt sei, sondern auch dass sein Leben durch die Ausweisung und Abschiebung in die Türkei konkret gefährdet werde. Daher habe er einen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung, zumindest einen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über seinen Antrag auf Rücknahme der Ausweisung. Er habe ein handschriftliches Schreiben mit 43 Seiten vorgelegt, in dem er nicht nur seine Verwurzelung in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die Härten, die seine Familie im Falle seiner Ausweisung treffen würden, und die konkrete Gefahr für sein Leben, falls er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen werde, beschrieben habe. In der Begründung des Bescheids vom 16.2.2005 werde die mit einer Ausweisung verbundene Lebensgefahr in keiner Weise berücksichtigt. Der Beklagte habe es unterlassen, den Inhalt dieses Schreibens in seine Ermessensentscheidung einzubeziehen. Es werde fälschlicherweise in dem angefochtenen Bescheid ausgeführt, dass weitere in seinem persönlichen und privatem Umfeld zu berücksichtigende Umstände oder Änderungen seit dem Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung nicht eingetreten und nicht vorgetragen worden seien. Es liege ein Ermessensdefizit vor, weil der Beklagte die Gefährdung seines Lebens bei der Ausübung seines Rücknahmeermessens nicht berücksichtigt habe. Seit seiner erneuten Haftentlassung (am 5.4.2007) wohne er mit seiner Familie zusammen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 13.4.2007 - 5 K 1035/05 - zu ändern, den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 16.2.2005 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung vom 24.2.2000 zurückzunehmen,

hilfsweise, den Beklagten zu verpflichten, über die Rücknahme der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 24.2.2000 erneut zu entscheiden und hierbei die Rechtsauffassung des Gerichts zu beachten

sowie höchst hilfsweise nur für den Fall, dass der Hauptantrag und der erste Hilfsantrag vollständig abgelehnt werden, den Beklagten zu verpflichten, die Wirkungen der Ausweisungsverfügung vom 24.2.2000 zu befristen bzw. über eine Befristung zu entscheiden und hierbei die Rechtsauffassung des Gerichts zu beachten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung macht er geltend: Die vom Kläger geltend gemachten Gründe führten nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null und damit nicht zu einem Rechtsanspruch auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung. Im übrigen stelle das diesbezügliche Vorbringen des Klägers lediglich dessen Sicht der Dinge dar. Es seien keine Tatsachen bekannt, die einer Abschiebung in die Türkei entgegen stünden. Auf das - sogleich wiedergegebene - Schreiben der Polizeidirektion Heilbronn vom 28.12.2004 werde verwiesen. Der Kläger sei nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe erneut im Bundesgebiet in besonders schwerwiegender Weise straffällig geworden.

Der Beklagte hat ein Schreiben der Polizeidirektion Heilbronn vom 28.12.2004 vorgelegt, in dem ausgeführt wird: Der Erstkontakt datiere vom Frühjahr 1994. Der Kläger sei am 10.1.1995 gemäß § 1 des Gesetzes über die förmliche Verpflichtung nicht beamteter Personen verpflichtet worden. Abstrakt seien Vertrauenspersonen nicht einschätzbaren Gefährdungen ausgesetzt. Konkrete Gefährdungen hätten sich während der Tätigkeit des Klägers teilweise ergeben. Mit seiner Festnahme am 6.4.1999 seien die Fürsorgemaßnahmen für ihn eingestellt worden. Durch die Festnahme und die anschließende Einlieferung in die Haftanstalt hätten sich neue Gefährdungslagen ergeben. Auch aufgrund von Aussagen des Klägers in einem Mordfall vor dem Landgericht Waldshut-Tiengen gegen zwei türkische Tatverdächtige sei es zu Drohungen gegenüber dem Kläger gekommen, die jedoch nach heutiger Bewertung gegenstandslos seien. Nach seiner Haftentlassung habe keine konkrete Gefährdungslage für ihn mehr bestanden.

Mit Urteil vom 11.4.2008 - 41 Cs 24 Js 7058/08 - verurteilte das Amtsgericht Heilbronn den Kläger wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (Tatzeit 25.1.2008) zu einer Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen. Dieses Urteil ist seit dem 7.5.2008 rechtskräftig.

Mit Anklageschrift vom 10.6.2008 schuldigte die Staatsanwaltschaft Heilbronn den Kläger an, am 10.8.2007 eine Sachbeschädigung in Tateinheit mit einem Familiendiebstahl und einer Bedrohung, am 12.8.2007 und am 22.8.2007 zwei weitere Vergehen der Bedrohung - in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Erpressung, zwischen dem 1.2. und dem 12.3.2008 einen Diebstahl sowie am 1.4.2008 eine Sachbeschädigung begangen zu haben.

Dem Senat liegen die einschlägigen Verwaltungsakten des Regierungspräsidiums Stuttgart (5 Hefte) sowie die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Stuttgart - 5 K 1035/05 - und - 5 K 223/05 - sowie die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichtshofs der Verfahren - 10 S 1815/01 -, - 10 S 1816/01 - und - 13 S 95/06 - vor. Auf diese Akten wird wegen der näheren Einzelheiten Bezug genommen; sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Die Klage ist in Bezug auf das mit dem Hauptantrag und dem ersten Hilfsantrag verfolgten Begehren nicht begründet.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat insoweit in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich klargestellt, dass Gegenstand des Hauptantrags allein die Rücknahme der Ausweisung ist. Der Kläger hat indes weder einen Anspruch auf eine Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 24.2.2000 noch kann er verlangen, dass die Behörde über seinen entsprechenden Antrag erneut entscheidet und hierbei die Rechtsauffassung des Gerichts beachtet (vgl. § 113 Abs. 5 Sätze 1 und 2 VwGO), denn die Voraussetzungen einer Rücknahme § 48 Abs. 1 LVwVfG liegen nicht vor (1.). Bezüglich des höchst hilfsweise gestellten Antrags auf Befristung der Wirkungen der Ausweisungsverfügung vom 24.2.2000 ist die Klage unzulässig (2.).

1. a) Die Klage ist mit ihrem Hauptantrag zulässig. Insbesondere steht ihr nicht die Rechtskraft der Gerichtsentscheidungen entgegen, mit denen die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vom 24.2.2000 gerichtlich bestätigt worden ist. Es liegt hier kein Fall vor, in dem die Behörde oder das Gericht schon gehindert ist, überhaupt eine neue Sachentscheidung zu treffen. Gemäß § 121 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Dies bedeutet, dass sich die Bindungswirkung nicht auf alle Urteilselemente, sondern nur auf den Entscheidungssatz erstreckt. § 121 VwGO ist nicht zu entnehmen, dass die Bindung nur für identische Streitgegenstände gilt. Allerdings unterscheidet sich die Bindungswirkung je nachdem, ob es sich um einen identischen oder einen anderen Streitgegenstand handelt. Bei identischen Streitgegenständen ist der Folgeprozess - oder eine neue Behördenentscheidung - wegen entgegenstehender Rechtskraft bereits unzulässig. Die Rechtskraft wirkt hier als Prozesshindernis und hindert bereits jede abweichende neue Sachentscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.5.1994 - 9 C 501/93 -, BVerwGE 96, 24 ff.; OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 6.12.2007 - 15 A 3294/07.A -, Ls. in DVBl. 2008, 133; vgl. auch Senatsbeschluss vom 5.3.2008 - 13 S 58/08 -). Ein solcher vollkommen identischer Streitgegenstand liegt hier jedoch nicht vor, da der in diesem Verfahren geltend gemachte Anspruch auf die Rücknahme einer Ausweisungsverfügung nach §§ 51 Abs. 5, 48 Abs. 1 LVwVfG nicht identisch mit deren damaliger Anfechtung ist.

b) Der Hauptantrag ist unbegründet. Es fehlt an den tatbestandlichen Voraussetzungen der begehrten Rücknahme auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 LVwVfG. Nach dieser Vorschrift können nur rechtswidrige Verwaltungsakte zurückgenommen werden. Für das vorliegende Verfahren ist jedoch bindend von einer rechtmäßigen Ausweisung auszugehen. Aufgrund der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24.4.2001 - 5 K 1684/00 -, die bezüglich der Ausweisung durch die Ablehnung des Berufungszulassungsantrags des Klägers mit Beschluss des erkennenden Gerichtshofs vom 14.8.2001 - 10 S 1409/01 - eingetreten ist, ist gemäß § 121 Nr. 1 VwGO für das vorliegenden Verfahren für beide Beteiligte bindend davon auszugehen, dass die damalige Ausweisung rechtmäßig ist.

Auch bei fehlender Identität der Streitgegenstände kann eine Bindungswirkung nach § 121 VwGO eintreten. Dies gilt für die Konstellationen, in denen die rechtskräftige Zuerkennung oder Aberkennung eines prozessualen Anspruchs für einen anderen prozessualen Anspruch, der zwischen denselben Beteiligten streitig ist, vorgreiflich ist (präjudizielle Rechtskraft). Denn Zweck des § 121 VwGO ist es zu verhindern, dass die aus einem festgestellten Tatbestand hergeleitete Rechtsfolge, über die bereits durch Urteil entscheiden worden ist, bei unveränderter Sach- und Rechtslage erneut - mit der Gefahr unterschiedlicher Ergebnisse - zum Gegenstand eines Verfahrens zwischen denselben Beteiligten gemacht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.9.2001 - 1 C 7/01 -, BVerwGE 115, 118 = NVwZ 2002, 345; OVG Nordrh.-Westf., a.a.O.; Senatbeschluss, a.a.O.). Die Wirkung der Rechtskraft auf nachfolgende Verfügungen derselben Behörde gegenüber demselben Betroffenen rechtfertigt sich aus dem Sinn der Rechtskraft, dem Rechtsfrieden zu dienen und das Vertrauen in die Beständigkeit des Rechts zu schützen (BVerwG, Urteil vom 8.12.1992 - 1 C 12/92 -, BVerwGE 91, 256). Im Falle einer erfolgreichen Anfechtungsklage wird festgestellt, dass der Kläger keinen Rechtsanspruch auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts besitzt und dieser ihn nicht in solchen Rechten verletzt, deren Verletzung seine Aufhebung zur Folge haben müssten (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 121 Rn. 21). Begehrt ein Kläger die Rücknahme einer Behördenentscheidung, deren Rechtmäßigkeit durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist, steht diesem Begehren die Rechtskraft des Urteils entgegen (Nds. OVG, Beschluss vom 6.9.2002 - 8 LA 126/02 -, juris; vgl. auch OVG Saarl., Beschluss vom 16.7.1999 - 2 Q 22/99 -, juris).

Die Rechtskraftwirkung eines Urteils tritt allerdings dann nicht ein, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage verändert hat (BVerwG, ebd. sowie BVerwGE 14, 359 <362 f.>; 35, 234 <236>; BVerfGE 47, 146 <165>). Eine solche Fallkonstellation ist hier jedoch nicht gegeben. Die Rechtskraftwirkung entfällt nicht schon dann, wenn - wie hier - im Vorprozess eine Ausweisungsverfügung aus sachlichrechtlichen Gründen bestätigt worden ist, die sich im Lichte einer späteren Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung möglicherweise als nicht stichhaltig erweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O.). Eine maßgebliche Änderung der Sach- und Rechtslage, liegt mit anderen Worten nicht schon dann vor, wenn sich lediglich die Erkenntnislage oder deren Würdigung ändert (insoweit wohl auf die vorliegende Konstellation übertragbar: BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 - 9 C 12/00 -, BVerwGE 112, 80 = NVwZ 2001, 335).

Diese Rechtskraftwirkungen treten auch dann ein, wenn sich die im Vorprozess obsiegende Behörde wie im vorliegenden Fall nicht auf deren Bindungswirkungen beruft, sondern selbst die Rechtmäßigkeit der Erstverfügung überprüft und hiernach davon ausgeht, der ursprüngliche Verwaltungsakt sei (nach heutiger Erkenntnislage) rechtswidrig. Das Bundesverwaltungsgericht hat - insoweit nicht tragend - ausgeführt, die im Vorprozess obsiegende Behörde sei durch die Rechtskraftwirkung allein nicht gehindert, unter Beachtung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auf die Durchsetzung des von ihr erlassenen belastenden Verwaltungsaktes zu verzichten oder den begehrten begünstigenden Verwaltungsakt zu erlassen; die Rechtskraft wirke nur zugunsten, nicht zuungunsten der obsiegenden Partei (BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O.; Kopp/Schenke, a.a.O., Rn. 13 und 21).

Diese Auffassung vermag jedoch jedenfalls insoweit dogmatisch nicht zu überzeugen, als sie die Wirkungen der Rechtskraft im Folgeprozess davon abhängig macht, ob sich der im Erstprozess obsiegende Beteiligte auf sie beruft. Die Ansicht, dass die Rechtskraft und deren Wirkungen zur Disposition eines Beteiligten stehen sollen, beruht wohl auf der Übernahme zivilprozessualer Grundsätze, die ihrerseits durch die Dispositionsbefugnis der Parteien im Zivilprozess gerechtfertigt sind. Da die Parteienherrschaft im Verwaltungsprozess jedoch weit weniger ausgeprägt ist, kann es dort nicht zulässig sein, dass ein Beteiligter auf die Wirkungen der Rechtskraft für den Folgeprozess verzichtet - sei es bewusst oder auch weil er sich (wie wohl hier) dieser Wirkungen gar nicht bewusst ist. Die Rechtskraft dient den objektiven Belangen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit. Neue Verfahren und widerstreitende gerichtliche Entscheidungen über dieselbe Streitsache sollen verhindert werden. Dabei wird die Möglichkeit, dass infolge der Rechtskraft eine unrichtige Entscheidung maßgeblich bleibt, grundsätzlich geringer gewertet als die Rechtsunsicherheit, die ohne die Rechtskraft bestehen würde. Die Rechtskraftwirkung des § 121 VwGO tritt unabhängig davon ein, ob das rechtskräftige Urteil die Sach- und Rechtslage zutreffend gewürdigt hat oder nicht (BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O. m.w. Nachw., Urteil vom 31.7.2002 - 1 C 7.02 - NVwZ 2003 Beilage I 1, 1-2). Dient die Rechtskraft hiernach primär den objektiven Belangen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit und der Vermeidung widerstreitender gerichtlicher Entscheidungen, ist nicht erklärbar, weshalb ein Beteiligter die Befugnis haben sollte, über diese ihm nicht zustehenden Belange zu verfügen. Erst recht gilt dies dann, wenn wie hier die Behörde (bzw. deren Träger) von der Rechtskraft begünstigt wäre. Denn die Verwaltung ist an das geltende Recht gebunden und kann daher nicht nach Belieben auf die Wirkungen der Rechtskraft für den Folgeprozess verzichten (vgl. Maurer, JZ 1993, 574; s. auch Erfmeyer, DVBl. 1997, 27).

Auch das Bundesverwaltungsgericht scheint davon auszugehen, dass die Rechtskraft eines Urteils, mit dem die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung abgewiesen wurde, deren Rücknahme entgegenstehen kann. In seinem Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - hat es - insoweit allerdings nicht tragend - ausgeführt, in dem dort entschiedenen Fall stehe § 121 VwGO der gerichtlichen Inzidentprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung im Rahmen des § 48 LVwVfG nicht entgegen, weil sie der dortige Kläger nicht angefochten habe (juris, Rn. 17; vgl. auch - allerdings ohne nähere Begründung - VG Karlsruhe, Urteil vom 17.4.2008 - 2 K 3360/07 -, juris).

Die mit der Rechtskraftwirkung verbundene Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber anderen Ausländern, die eine Ausweisung nicht vor Gericht angefochten haben, ist entgegen seiner in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung nicht ungerechtfertigt. Sie beruht auf der Natur der Sache. Die Wirkungen der Rechtskraft können nach § 121 Nr. 1 VwGO immer nur zugunsten oder zulasten desjenigen eintreten, der als Beteiligter eines gerichtlichen Verfahrens ein rechtskräftiges Urteil erwirkt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O., juris Rn. 16).

Diese Grundsätze werden - die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers und einen Verstoß der Ausweisung gegen Gemeinschaftsrecht zu seinen Gunsten unterstellt - durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Der Europäische Gerichtshof respektiert die Bestandskraft eines Verwaltungsakts als Ausprägung der Rechtssicherheit, die zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundsätzen zählt (vgl. EuGH, Urteil vom 13.1.2004 - C-453/00 - Kühne u. Heitz -, Slg. 2004 I, 837 = NVwZ 2004, 459 Rn. 24). Die in dieser Entscheidung entwickelten Voraussetzungen eines Rücknahmeanspruchs im Anschluss an eine rechtskräftige, die Vorlagepflicht verletzende letztinstanzliche Gerichtsentscheidung sind hier nicht gegeben. Der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet hiernach eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden Antrag hin, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn

- die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,

- die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,

- das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war, und

- der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofes erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.

Hier fehlt es zumindest an der dritten Voraussetzung, dass das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war. Denn der damals zuständige 10. Senat des erkennenden Gerichtshofs war nicht berechtigt oder gar verpflichtet, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen. Der Kläger hatte in seinem damaligen Zulassungsantrag allein geltend gemacht, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, da das Verwaltungsgericht seine persönlichen Belange nicht zutreffend gewürdigt habe, denn er habe nicht nur bei der Überführung anderer Rauschgifthändler mitgewirkt, sondern sei tragender Zeuge in einem anhängigen Mordprozess; seine Unterstützung in diesem Verfahren und die gegen ihn ausgesprochenen Morddrohungen ließen eine Ausweisung als unbillige Härte erscheinen; im übrigen werde auf die Begründung der Klage hingewiesen. Mit diesem Vorbringen hatte der Kläger keine ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu den europarechtlichen Voraussetzungen der gegen ihn verfügten Ausweisung dargelegt.

Auch wenn der Europäische Gerichtshof (Urteil vom 12.2.2008 - C-2/06 -Kempter, DÖV 2008, 505, Rn. 44 und 45; s. auch Weiß, DÖV 2008, 47) mittlerweile wohl nicht mehr primär auf eine Verletzung der Vorlagepflicht abstellt, sondern darauf, ob das in letzter Instanz entscheidende nationale Gericht einen gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkt hätte aufgreifen dürfen oder müssen, ergibt sich für den vorliegenden Fall nicht anderes. Der 10. Senat des erkennenden Gerichtshofs war im damaligen Berufungszulassungsverfahren nicht berechtigt, gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkte zu prüfen, nachdem sie der Kläger in seinem damaligen Zulassungsantrag nicht erwähnt hatte. Denn anders als im Berufungsverfahren existiert im Berufungszulassungsverfahren keine umfassende Pflicht des Oberverwaltungsgerichts bzw. des Verwaltungsgerichtshofs zur Amtsaufklärung. Vielmehr ist nach der maßgeblichen nationalen Vorschrift des § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Berufung nur zuzulassen, wenn ein Zulassungsgrund dargelegt wird (und vorliegt). Daher können bei der Entscheidung über die Zulassung der Berufung grundsätzlich nur solche Gründe berücksichtigt werden, auf die sich der Rechtsmittelführer fristgerecht beruft (Kopp/Schenke, a.a.O., § 124a Rn. 50).

Es kann dahingestellt bleiben, ob ausnahmsweise eine Durchbrechung der Rechtskraft dann geboten ist, wenn die Aufrechterhaltung des durch die Vorentscheidung geschaffenen Zustandes schlechthin unerträglich wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O.). Eine solche Situation besteht im vorliegenden Fall nicht. Schwere und unerträgliche Folgen für den Ausländer können im Regelfall im Rahmen einer Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG vermieden werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man annimmt, dass eine Befristung - abweichend von dem Wortlaut von Satz 4 dieser Vorschrift - auch auf einen Zeitpunkt vor der Ausreise des Ausländers erfolgen kann, falls z.B. die Wertentscheidungen der Art. 6 GG, Art. 8 EMRK oder der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dies erfordern (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 24.7.2007 - 1 K 1505/06 - m.w. Nachw., juris; s. auch Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 3. Aufl. 2007, Rn. 485 ff.). Außerdem ist es durchaus fraglich, ob die Auffassung des Beklagten zutrifft, wonach auch in der vorliegenden Konstellation der Widerruf nach § 49 Abs. 1 LVwVfG ausgeschlossen sein soll. Denn hier geht es nicht um die Berücksichtigung einer tatsächlichen Änderung, für welche die Befristung nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG eine abschließende Sonderregelung enthält, sondern (auch) um die Anwendung neuer rechtlicher Erkenntnisse auf ein abgeschlossenes Verfahren. Insoweit erscheint es nicht von vornherein als undenkbar, dass für Fälle der vorliegenden Art Raum für die Anwendung des § 49 LVwVfG sein könnte.

2. In Bezug auf die höchst hilfsweise begehrte Befristung ist die Klage unzulässig. Denn es fehlt insofern an einem vorherigen Antrag bei der Verwaltung und demzufolge auch an der Durchführung eines Verwaltungs- und eines Vorverfahrens. Grundsätzlich muss nach § 68 VwGO auch bei einem Hilfsantrag ein entsprechendes Verwaltungs- und Vorverfahren durchgeführt worden sein, falls nicht die Voraussetzungen des § 75 VwGO vorliegen. Dies hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint. Der in dem Schriftsatz vom 4.2.2005 an das Regierungspräsidium Stuttgart gestellte Befristungsantrag ist ausdrücklich unter einer aufschiebenden Bedingung (für den Fall, dass der Kläger abgeschoben werde) gestellt worden. Da diese Bedingung nicht eingetreten ist, liegt auch keine Untätigkeit des Beklagten vor. Allein aus Gründen der Prozessökonomie darf die Anwendung zwingenden Verfahrensrechts nicht unterbleiben. Grundsätzlich ist es zunächst Sache der Verwaltung, sich mit den Ansprüchen zu befassen, die ein Bürger geltend macht. Gerichte sind dazu berufen, das Handeln der Verwaltung auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen, nicht aber dazu, sich an deren Stelle zu setzen und originär über erstmals vor Gericht geltend gemachte Ansprüche zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.1.1986 - 5 C 36/84 -, NVwZ 1987, 412; OVG Nordr.-Westf., Urteil vom 7.11.1996 - 7 A 4820/95 -; OVG Saarl., Beschluss vom 22.6.1994 - 3 W 1/94 -; Senatsbeschluss vom 19.2.2008 - 13 S 2774/07 -, juris).

Zudem fehlt es an einem Rechtsschutzinteresse des Klägers, weil der nunmehr ohne Bedingung verfolgte Hilfsantrag über das Begehren im Verwaltungsverfahren hinausgeht. Denn solange der Kläger diesen Antrag der Behörde nicht unterbreitet hat, lässt sich nicht feststellen dass er überhaupt auf gerichtlichen Rechtsschutz angewiesen ist. Es lässt sich auch nicht sagen, dass ein solcher Antrag von vornherein aussichtslos wäre. Die Behörde hat sich im vorliegenden Rechtsstreit in der Sache nicht auf das Begehren des Klägers eingelassen, so dass es offen ist, ob und inwieweit sie einem unbedingten Befristungsantrag entsprechen würde. Der Kläger müsste folglich zunächst einen derartigen Antrag beim Beklagten stellen und könnte nur dann, wenn dieser ganz oder teilweise abgelehnt wird, verwaltungsgerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Revision ist zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Beschluss vom 18. Juni 2008

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 10.000,-- EUR festgesetzt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

Zurück