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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 15.02.2008
Aktenzeichen: 13 S 341/08
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 60 Abs. 1
VwGO § 60 Abs. 2 Satz 1
Ob die Verweigerung oder die Verzögerung einer für eine Rechtsmittelbegründung beantragten Akteneinsicht ein unverschuldetes Hindernis im Sinn des § 60 Abs. 1 Satz 1 VwGO darstellt, lässt sich nicht generell beantworten (so wohl BVerwG, Beschluss vom 10.10.1989 - 9 B 268/89 -, VBlBW 1990, 100), sondern ist eine Frage des Einzelfalles.

Zu der Frage, wann eine "Nachfrist" als Überlegungsfrist in Betracht kommt, wenn ein Hindernis im Sinn des § 60 Abs. 1 VwGO noch innerhalb der versäumten Frist entfallen ist (im Anschluss an BVerwG, Beschluss vom 16.2.1999 - 8 B 10.99 - NVwZ-RR 1999, 472).


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

13 S 341/08

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Aufenthaltserlaubnis und Abschiebungsandrohung;

hier: vorläufiger Rechtsschutz

hat der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

am 15. Februar 2008

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. Dezember 2007 - 3 K 5468/07 - wird als unzulässig verworfen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, in dem dieses den Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis und gegen die Abschiebungsandrohung (Verfügungen vom 20.9.2007) abgelehnt hat, kann bereits aus prozessualen Gründen keinen Erfolg haben; die Beschwerde ist zwar rechtzeitig erhoben (§ 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO), jedoch nicht innerhalb der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO begründet worden, so dass sie zu verwerfen ist (siehe § 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO).

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 17.12.2007 ist dem Antragsteller-Vertreter am 7.1.2008 zugestellt worden; am 21.1.2008 - und damit rechtzeitig - hat er Beschwerde erhoben. Die Beschwerde ist jedoch bis zum heutigen Tag nicht begründet worden, so dass die Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO nicht gewahrt ist. Dass das noch beim Verwaltungsgericht gestellte Gesuch des Antragstellers vom 21.1.2008 um Akteneinsicht - dem Senat vorgelegt am 28.1.2008 - als solches auf den Lauf der Beschwerdebegründungsfrist keinen Einfluss hat, liegt auf der Hand; die Beschwerdebegründungsfrist lief unabhängig hiervon am 7.2.2008 ab. Eine Wiederereinsetzung ist nicht beantragt; sie könnte auch nicht gewährt werden. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Eine Wiedereinsetzung von Amts wegen scheitert im vorliegenden Fall bereits daran, dass die versäumte Rechtshandlung - die Begründung der Beschwerde - bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht nachgeholt worden ist (siehe § 60 Abs. 2 Satz 4 VwGO). Aber auch ein innerhalb der Monatsfrist nach Wegfall des Hindernisses zu stellender Wiedereinsetzungsantrag (§ 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO) würde im vorliegenden Fall eine Wiedereinsetzung in die Beschwerdebegründungsfrist nicht ermöglichen; einmal spricht nichts dafür, dass der Antragsteller im vorliegenden Fall im Sinn des § 60 Abs. 1 VwGO "verhindert war", die gesetzliche Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO einzuhalten (1), und zum andern wäre ihm selbst bei Annahme eines solchen Hindernisses im konkreten Fall eine Wiedereinsetzung nicht zu gewähren, da auch eine entsprechende "Nachfrist" inzwischen abgelaufen ist (2).

1. Die Frage, ob eine unverschuldete Verhinderung an der Fristeinhaltung schon dann vorliegt, wenn der Betroffene eine von ihm für erforderlich gehaltene Akteneinsicht nicht oder nicht rechtzeitig nehmen konnte, wird in ständiger Rechtsprechung jedenfalls des Bundesverwaltungsgerichts verneint (siehe dazu BVerwG, Beschluss vom 10.10.1989 - 9 B 268/89 -, VBlBW 1990, 100; Beschluss vom 26.5.1975 - III B 117.74 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 131); das Bundesverwaltungsgericht verlangt von dem Prozessbevollmächtigten grundsätzlich, gegebenenfalls allein aufgrund der ihm vorliegenden angefochtenen Entscheidung und der Information durch den Mandanten eine den gesetzlichen Anforderungen im Mindestmaß genügende Begründung fristgerecht einzureichen (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 18.11.1996 - 11 VR 2/96 -, NVwZ 1997, 993 zur Antragsfrist des § 20 Abs. 5 Satz 2 AIG). Die Literatur hält dieser strengen, zur Nichtzulassungsbeschwerde und ihren besonderen Voraussetzungen nach § 133 VwGO entwickelten Auffassung allerdings entgegen, die Anforderungen an die Wiedereinsetzung würden überspannt, da man dem Rechtssuchenden zumute, vorsorglich Rechtsbehelfe zu ergreifen, ohne sich vorher ein zuverlässiges Bild von den Erfolgsaussichten machen zu können (siehe Sodan/Ziekow, VwGO, 2006, Rn 53 zu § 60). Dieses Argument ist jedenfalls für diejenigen Fälle nicht von vorneherein von der Hand zu weisen, in denen ein Akteneinsichtsgesuch gesetzwidrig oder sonst vorwerfbar abgelehnt oder seine Bearbeitung verzögert wird (siehe dazu Sodan/Ziekow a.a.O. Rn 53 zu § 60 m.w.N.). Das ergibt sich bereits aus dem rechtstaatlichen Gebot des fairen Verfahrens, das es dem Gericht verbietet, bei eigenen prozessualen Verstößen den Beteiligten Fristversäumnisse vorzuhalten (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 4.5.2004 - 1 BvR 1892/03 -, DVBl 2004, 1229). Im übrigen ist auch dem Gesetzgeber die Bedeutung vorheriger Akteneinsicht für die Begründung von Rechtsmitteln bekannt; die ursprüngliche Fassung des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO sollte z.B. den Beteiligten innerhalb der dort geltenden Begründungsfrist eine Akteneinsicht beim ortsnahen VG ermöglichen (Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 161 zu § 124 a mit Hinweis auf die allerdings zu einer richterlichen Frist ergangene Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 5.2.2003 -2 BvR 153/02 -, DVBl. 2003, 861). Es spricht daher mehr dafür, Wiedereinsetzungsanträge, die mit fehlender oder verspäteter Akteneinsicht begründet werden, nicht bereits von vorneherein als unbegründet abzulehnen, sondern es der Einzelfallprüfung vorzubehalten, ob (und wielange) der Betreffende an der versäumten Rechtshandlung (hier: der Beschwerdebegründung) wegen unterbliebener oder verspätet gewährter Akteneinsicht im Rechtssinn "gehindert" war.

Jedenfalls in der hier vorliegenden Fallkonstellation liegt nach der Überzeugung des Senats in der erst am 31.1.2008 erfolgten Akteneinsicht kein im Sinn des § 60 Abs. 1 VwGO beachtlicher Hinderungsgrund.

Nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO muss sich die Beschwerde "mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen", d.h. der Gesetzgeber geht davon aus, dass Gegenstand der Beschwerdebegründung in erster Linie die Argumentation der angefochtenen Entscheidung ist. Diesem Mindesterfordernis konnte der Antragsteller, der bereits in der ersten Instanz durch den gleichen Prozessbevollmächtigten vertreten war, ohne weiteres auch ohne zusätzliche Akteneinsicht gerecht werden, zumal Erläuterungen und Konkretisierungen bereits geltend gemachter Gründe auch nach Fristablauf im Beschwerdeverfahren möglich sind (siehe dazu Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 84 zu § 146 m.w.N.). Es kommt hinzu, dass dem Prozessbevollmächtigten bereits im November 2007 beim Verwaltungsgericht Akteneinsicht gewährt worden war, um den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu begründen (siehe Schriftsatz vom 11.12.2007). Da der Beschluss des Verwaltungsgerichts bereits eine Woche nach diesem Schriftsatz erging (17.12.2007), ist nichts dafür ersichtlich, dass die Anfertigung einer Beschwerdebegründung im Sinn des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO ohne erneute Akteneinsicht unzumutbar erschwert gewesen sein könnte.

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wäre aber auch dann nicht möglich, wenn man annehmen sollte, dass der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers wenigstens bis zum 31.1.2008 (Empfang der Akten) im Sinn des § 60 Abs. 1 VwGO an der Beschwerdebegründung "gehindert" war. In diesem Fall ist nämlich auch eine womöglich zu gewährende "Nachfrist" inzwischen abgelaufen, ohne dass die erforderliche Rechtshandlung nachgeholt worden wäre.

Welche Grundsätze zu gelten haben, wenn ein "Hindernis" im Sinn des § 60 Abs. 1 VwGO noch vor Ablauf der maßgebenden gesetzlichen Frist wegfällt, ist in Literatur und Rechtsprechung jedenfalls dann streitig, wenn die noch verbleibende Frist kürzer als die in § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO geregelte Frist ist (siehe dazu Kopp/Schenke, VwGO, 2007, Rn 7 zu § 60 m.w.N.). So liegt es hier: Nach Zusendung der Akten verblieb dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers noch eine Woche zur Vorlage der Beschwerdebegründung, während § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO für den Wiedereinsetzungsantrag und die Nachholung der Rechtshandlung im vorliegenden Fall eine Monatsfrist vorsieht. Während Teile der Literatur und Rechtsprechung dem Betroffenen in solchen Fällen eine volle Nachfrist nach § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO einräumen (siehe dazu die Nachweise bei Kopp/Schenke a.a.O. Fn 19 und BayVGH, Beschluss vom 28.9.1979 - 2 Cs 1350/70 -, BayVBl. 1980, 183), scheidet nach der älteren Gegenansicht der Rechtsprechung eine Wiedereinsetzung in einer Fallgestaltung wie der hier vorliegenden grundsätzlich aus (siehe VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.7.1978 - X 1058/78 -, DÖV 1979, 303 mit Hinweis auf die frühere Rechtsprechung des BVerwG; BayVGH, Beschluss vom 24.4.1981 - 23 B 1763/79 -, NJW 1982, 251; weitere Nachweise bei Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 104 zu § 60). Nach der neueren, vermittelnden Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts und wohl auch der herrschenden Auffassung in der Kommentarliteratur (BVerwG, Beschluss vom 16.2.1999 - 8 B 10/99 -, NVwZ-RR 1999, 472, und Beschluss v 21.5.1986 - 6 CB 33.85 -juris, ebenso Sodan/Ziekow, a.a.O. sowie Albedyll in: Bader, VwGO, 2007, Rn 15 zu § 60, und Bier in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Rn 50 zu § 60) wird bei Wegfall eines Hindernisses für die Rechtsmitteleinlegung noch innerhalb der Rechtsmittelfrist jedenfalls nicht ohne weiteres eine neue (volle) "Überlegungsfrist" nach § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO in Lauf gesetzt; es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Schwierigkeit der Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs, an, ob eine über die eigentliche Rechtsmittelfrist hinausreichende zusätzliche "Beratungsfrist" einzuräumen ist. Es spricht vieles dafür, in dieser Streitfrage dem Bundesverwaltungsgericht zu folgen: Entfällt z.B. ein unverschuldetes Hindernis im Sinn des § 60 Abs. 1 VwGO erst unmittelbar vor Ablauf der gesetzlichen Rechtsmittelfrist, so kann durchaus im Einzelfall eine Wiedereinsetzung wegen nicht ausreichender Überlegungsfrist geboten sein. Dem Rechtsmittelführer steht nämlich grundsätzlich die volle gesetzliche Frist zur Überlegung offen (siehe dazu die Nachweise bei Kopp/Schenke, a.a.O., Rn 17 zu § 60 Fn 72). Andererseits ist es nicht geboten, in allen Fällen des Hinderniswegfalls noch während der laufenden Frist eine weitere gesetzliche Frist - diejenige des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO - als Überlegungsfrist "nachzuschalten". Es ist nämlich eine den Einzelfall betreffende Frage der Kausalität, ob die Frist gerade deshalb versäumt wurde, weil die nach Wegfall des Hindernisses verbleibende Zeit für eine angemessene Überlegung und Beratung nicht ausreichte (siehe BVerwG, Beschluss vom 5.10.1984 - 9 B 10668/83 -, VBlBW 1985, 177 und Beschluss vom 21.5.1986 - 6 CB 33.85 -, Buchholz 310 § 360 VwGO Nr. 150 und Beschluss vom 16.2.1999, a.a.O. m.w.N.), oder ob gleichwohl ohne weiteres die Fristeinhaltung noch zumutbar war. An dieser Kausalität fehlt es im hier vorliegenden Fall.

Das Verwaltungsgericht hat das Akteneinsichtsgesuch des Prozessbevollmächtigten nach wenigen Tagen an den Senat entsprechend seiner prozessualen Fürsorgepflicht (siehe dazu BVerwG, Beschluss vom 9.1.2008 - 6 B 51.07 -) weitergeleitet, wo es am 28.1. 2008 einging, und der Senat hat ihm - unter ausdrücklichem Hinweis auf die Fristbestimmung des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO - nach Erhalt umgehend entsprochen. Aufgrund des Akteneinsichtsgesuchs erhielt der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers die Akten am 31.1.2008 und damit eine Woche vor Fristablauf. Selbst wenn man insofern noch eine weitere "Nachfrist" einräumen würde, so wären jedenfalls die inzwischen verstrichenen zwei Wochen nach Gewährung der Akteneinsicht als solche Nachfrist ausreichend. Zur Begründung kann der Senat auf die gleichen Überlegungen verweisen, aus denen er bereits bei der einzelfallbezogenen Prüfung ein "Hindernis" im Sinn des § 60 Abs. 1 VwGO verneint hat (s. oben 1).

3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2 i.V.m. § 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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