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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 29.06.2004
Aktenzeichen: 13 S 990/04
Rechtsgebiete: AuslG, GG


Vorschriften:

AuslG § 55 Abs. 2
GG Art. 6
Zur Frage rechtlicher Abschiebungshindernisse aufgrund (biologischer) Vaterschaft und (gemeinsamen) Sorgerechts (im Anschluss an BVerfG, Beschlüsse vom 09.04.2003 (NJW 2003, S. 2151 f.)
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

13 S 990/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Abschiebung

hier: Antrag nach § 123 VwGO

hat der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Jacob, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Ridder und die Richterin am Verwaltungsgericht Kopp

am 29. Juni 2004

beschlossen

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 16. März 2004 - 5 K 2889/03 - geändert; der Antragsgegner wird im Weg der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Der Antrag des Antragstellers beim Verwaltungsgericht, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, ihn abzuschieben - ein Begehren, das der Antragsteller mit der Beschwerde weiterverfolgt -, war der Sache nach (s. §§ 88, 86 Abs. 3 VwGO) darauf gerichtet, den Antragsgegner im Weg der einstweiligen Anordnung zur Erteilung einer Duldung zu verpflichten (s. dazu Beschlüsse des Senats vom 04.11.2003 - 13 S 2303/03 - und vom 02.05.2000 - 13 S 2456/99 -, EZAR 020 Nr.14). Mit diesem Inhalt war der Antrag zulässig und begründet. Ein Anordnungsgrund i.S.d. § 123 Abs. 1 VwGO war offensichtlich gegeben, da die Abschiebung des Antragstellers drohte. Auch sonstige Zulässigkeitsbedenken bestehen nicht; insbesondere lag ein entsprechendes Rechtsschutzinteresse des Antragstellers vor. In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob die früher zu seinen Gunsten ergangene einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 18.09.2000 nach dem Ablauf der ihm aufgrund dieser Entscheidung erteilten Duldungen ihre rechtliche Wirkung verloren hatte. Immerhin wurde nach dem Tenor der Entscheidung vom 18.9.2000 die Abschiebung nicht generell, sondern nur "vorläufig" untersagt (zur eingeschränkten Rechtskraft von Entscheidungen nach § 123 VwGO s. Happ in Eyermann, VwGO, 2000, Rdnr. 75 zu § 123). Selbst wenn aber der ursprüngliche Eilbeschluss mangels eines Abänderungsverfahrens nach § 80 Abs. 7 VwGO noch rechtliche Wirkungen entfaltete (s. Happ a.a.O.), beseitigt dies das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers für einen neuen Eilantrag nicht. Es ergibt sich bereits daraus, dass sich der Antragsgegner offensichtlich an die frühere Entscheidung nicht mehr gebunden hielt.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat der Antragsteller auch einen Anordnungsanspruch i.S.v. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht. Auch in diesem Zusammenhang kann der Senat offen lassen, ob dies bereits aus der früheren Eilentscheidung folgt; auch zum jetzigem Zeitpunkt ist nämlich ein Duldungsanspruch aus § 55 Abs. 2 AuslG glaubhaft gemacht. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer u.a. dann eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist.

Als rechtliches Abschiebungshindernis in diesem Sinne kommen im vorliegenden Fall ausschließlich die Vorschriften des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK in Betracht. Auf seine elterlichen Rechte und den Gedanken des Familienschutzes hat der Antragsteller seinen Antrag unter Bezugnahme auf seine im September 1999 geborene und wegen der deutschen Mutter die deutsche Staatsangehörigkeit besitzende (s. § 4 Abs. 1 S. 1 StAG) Tochter gestützt, und er hat sich auch in einer der Vorschrift des § 146 Abs. 4 S. 3 VwGO (noch) entsprechenden Weise mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Fehlen einer Lebensgemeinschaft mit seiner Tochter auseinandergesetzt. Indem der Antragsteller in diesem Zusammenhang unter Beifügung einer eidesstattlichen Versicherung der deutschen Mutter darauf hingewiesen hat, es bestehe ein tatsächlich ausgeübtes Umgangsrecht mit seiner Tochter, diese habe eine sehr enge und innige Beziehung zu ihm als ihrem Vater, und er besuche die Kindesmutter und seine Tochter mindestens einmal, oft sogar zweimal in der Woche, hat der Antragsteller der Sache geltend gemacht, das Verwaltungsgericht überspanne die Anforderungen an einen aus den Familienschutzvorschriften abgeleiteten Abschiebungsschutz, wenn es das Bestehen einer gegenwärtigen familiären Lebensgemeinschaft mit Tochter und Mutter verlange.

Mit diesem Vortrag hat die Beschwerde des Antragstellers Erfolg; auch der Senat ist der Auffassung, dass der Antragsteller, der die Vaterschaft für das im September 1999 geborene Kind bereits vor der Geburt (03.05.1999) anerkannt und eine gemeinsame Sorgerechtserklärung mit der Mutter des Kindes abgegeben hat (15.02.2000), aus Rechtsgründen aller Voraussicht nach nicht abgeschoben werden darf.

Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass die Familienschutzvorschriften des Art. 6 GG bzw. des Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG gewähren und damit einer Abschiebung entgegenstehen können. Zwar kommt in den Fällen, in denen Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK der Entfernung eines Ausländers aus dem Bundesgebiet entgegensteht und daher die Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, in der Regel vorrangig die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG an Stelle einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG in Betracht (siehe BVerwG, Urteil vom 04.06.1997 - 1 C 9.95 -, NVwZ 1997, S. 1114 und std. Rspr., siehe auch Senat, Beschluss vom 02.05.2000 - 13 S 2456/99 -, AuAS 2000, S. 158); vor Stellung eines Antrags auf Aufenthaltsbefugnis ist aber jedenfalls nach § 30 Abs. 4 AuslG der Besitz einer Duldung erforderlich, so dass der Ausländer zunächst darauf verwiesen ist, diese zu erstreiten. Für die Fälle des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO ergibt sich die Vorrangigkeit einer Duldung als Rechtsschutzziel auch aus dem das Rechtsinstitut der einstweiligen Anordnung prägenden (grundsätzlichen) Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache; zunächst, d.h. bei bevorstehender Abschiebung, genügt dem Interesse des Antragstellers an der Wahrung seiner familienbezogenen Rechte die Einräumung einer entsprechenden Duldung.

In welchen Fällen Art. 6 Abs. 2 GG bzw. der insofern keinen weitergehenden Schutz vermittelnde Art. 8 EMRK (s. BVerwG, Urteil vom 09.12.1997 - 1 C 19.96 -, InfAuslR 1998, S. 213) ein rechtliches Abschiebungshindernis darstellt, ergibt sich aus der Gewichtung der familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten; die Behörden sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 09.12.1997 a.a.O. m.w.N.) und der des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 21.05.2003, InfAuslR 2003, S.322, 323 m.w.N.) verpflichtet, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung diese Bindungen entsprechend ihrem Gewicht zur Geltung zu bringen. Was die Beziehungen zwischen einem Vater und seinem nichtehelichen Kind angeht, so werden auch sie vom Schutzbereich beider Vorschriften umfasst; zwischenzeitlich ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über den im Beschluss des Senats vom 02.05.2000 (a.a.O., m.w.N.) dargestellten Stand noch hinausgegangen. Durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 09.04.2003 (FamRZ 2003, S. 816 ff.; NJW 2003, S. 2151) ist insbesondere klargestellt worden, dass auch das Recht des "biologischen Vaters" auf Umgang mit seinem Kind durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt ist, "wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht"; der Grundrechtsschutz umfasst auch das Interesse am Erhalt dieser Beziehung, und der so mit seinem Kind verbundene "biologische Vater" darf nicht vom Umgang mit dem Kind ausgeschlossen werden, solange dieser dem Wohl des Kindes dient (BVerfG a.a.O.; s.a. Roth NJW 2003, S. 3153 f. und Dietz, InfAuslR 2004, S. 102 f. sowie Huber FamRZ 2003, S. 825 f.). Bei der speziell ausländerrechtlichen Bewertung dieser Entscheidungen ist allerdings zu bedenken, dass sie zu familien- und prozessrechtlichen Konfliktlagen ergangen sind; außerdem sagt die Anwendung des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG noch nichts darüber aus, mit welchem Gewicht diese Vorschrift in eine ausländerrechtlichen Fragestellung einzustellen ist. Immerhin bedarf es nach den oben dargestellten Grundsätzen immer einer Gewichtung der familiären Bindungen (s. BVerwG, Urteil vom 09.12.1997 a.a.O.). Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist es von Bedeutung, ob es sich um Familien mit "Deutschenbeteiligung" handelt oder nicht, welche Rückkehrmöglichkeiten die verbleibenden Familienmitglieder je nach ihrer unterschiedlichen Rechts- und Aufenthaltssituation haben (s. auch OVG Berlin, Beschluss vom 04.09.2003, InfAuslR 2004, S. 68,69), und ob auch vorübergehende Trennungen bzw. eine erneute Einreise unter Beachtung der Einreisevorschriften nicht zumutbar ist (s.. auch Hamb. OVG, Beschluss vom25.09.2003, AuAS 2004, S. 40, 41

Was den Antragsteller angeht, der die Vaterschaft anerkannt hat und gemeinsam mit der Mutter des Kindes das Sorgerecht ausübt (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 31.08.1999, NVwZ 2000, S. 59; Dietz, InfAuslR 1999, 177 und Kiehl, NVwZ 2000, S. 282), so dürfte er sich jedoch auf Abschiebungsschutz aus Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK berufen können. Die Glaubhaftmachung eines entsprechenden Abschiebungshindernisses im Verfahren der einstweiligen Anordnung setzt zunächst voraus dass die vom Bundesverfassungsgericht verlangte "sozial-familiäre Beziehung" besteht; es kommt, wie in der Literatur formuliert, in diesem Punkt "entscheidend auf die tatsächlich gelebte Verbundenheit der Familienmitglieder untereinander" an (Dietz a.a.O., S. 106; a.A. Roth a.a.O., S. 3160). Daraus folgt aber auch, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft im Sinn der durch das Erstgericht vorgenommenen Subsumtion oder gar eine sog. Beistandsgemeinschaft wohl nicht mehr erforderlich sein dürfte , um entsprechenden Abschiebungsschutz zu begründen Dies gilt jedenfalls für das vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Rechtsverhältnis zwischen Vater und deutschem Kind. Es kommt hinzu, dass eine gemeinsame Sorgerechtsausübung vorliegt; ausländerrechtlich kommt dem Sorgerecht noch stärkerer Schutz zugute als dem Umgangsrecht (s. Dietz a.a.O. S. 106; s. auch Hess. VGH, Beschluss vom 22.05.2003, InfAuslR 2003, S. 274 m.w.N. Auch hier dürfte aber Voraussetzung sein, dass die Personensorge durch einen entsprechenden tatsächlichen Erziehungs- und Betreuungsbeitrag für das Kind tatsächlich wahrgenommen wird (s. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 05.08.2002, NVwZ-RR 2003, S.152).

Die Voraussetzungen einer sozial-familiären Beziehung im dargestellten Sinn - verbunden mit entsprechenden Betreuungsleistungen - hat der Antragsteller im vorliegenden Fall glaubhaft gemacht. Dass er nicht mehr wie früher mit der Mutter und dem Kind zusammenlebt, ist nach der oben angeführten Rechtsprechung unschädlich; der mit der eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemachten (§ 173 VwGO i.V.m. § 294 Abs. 1 ZPO) Erklärung des Antragstellers, der der Antragsgegner auch nicht entgegengetreten ist, ist zu entnehmen, dass der Antragsteller nach der Entlassung aus der Strafhaft ungeachtet des neuen Wohnsitzes mit der Mutter seiner Tochter "nach wie vor sehr gut" befreundet ist und mit ihr "regelmäßigen Kontakt" hat. Es ist auch glaubhaft gemacht, dass die Tochter "eine sehr enge und innige Beziehung" zu dem Antragsteller hat und dass dieser seine Tochter regelmäßig d.h. einmal oder auch zweimal in der Woche besucht. Diese Besuche sind auch nicht nur kurzzeitig, sondern dauern in der Regel mehrere Stunden (nachmittags bis Abend), die der Antragsteller jeweils mit seiner Tochter verbringt. Die Mutter des Kindes hat auch an Eides statt versichert, dass sich die Tochter jedes Mal freue, wenn der Antragsteller zu ihr komme, und dass es für sie "ohne Zweifel ein schwerer Schlag" wäre, wenn sie ihn nicht mehr sehen würde. Damit ist nicht nur glaubhaft gemacht, dass die in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangte "sozial-familiäre Beziehung" besteht, die darauf beruht, dass der Vater tatsächlich Verantwortung für das Kind getragen hat und trägt (s. BVerfG, Beschluss vom 09.04.2003, a.a.O. S. 2155), sondern auch, dass die Aufrechterhaltung dieses Umgangs dem Kindeswohl dient (s. BVerfG, Beschluss vom 09.04.2003, a.a.O. S. 2156 m.w.N.).

In die aus den dargelegten Gründen durch Art. 6 Abs. 1 GG und ebenso durch Art. 8 ERMK geschützte Rechtsposition durch eine Abschiebung des Antragstellers einzugreifen, verletzt diesen in seinen Grundrechten, so dass nach wie vor davon auszugehen ist, dass ein entsprechendes familienbezogenes Abschiebungshindernis glaubhaft gemacht ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 13 Abs. 1 Satz 1 und 2, 20 Abs. 3, 25 Abs. 2 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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