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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 09.01.2001
Aktenzeichen: 3 S 2413/00
Rechtsgebiete: BauGB, LVwVfG


Vorschriften:

BauGB § 14 Abs. 3
LVwVfG § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 4
Die Freistellungsklausel des § 14 Abs. 3 BauGB schließt den allein auf eine nachträglich erlassene Veränderungssperre gestützten Widerruf einer Baugenehmigung gemäß § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 LVwVfG aus. Dies gilt jedenfalls angesichts der durch das BauROG 1998 ausdrücklich gesetzlich geregelten Erweiterung des Anwendungsbereichs der Freistellungsklausel auch auf Vorhaben, die auf Grund eines anderen baurechtlichen Verfahrens als des Baugenehmigungsverfahrens zulässig sind.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

3 S 2413/00

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Aufhebung einer Baugenehmigung;

hier: einstweiliger Rechtsschutz

hat der 3. Senat des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Stopfkuchen-Menzel, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Schieber und den Richter am Verwaltungsgericht Kappes

am 9. Januar 2001

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 18. August 2000 - 13 K 2057/00 - geändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. April 2000 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf jeweils 159.700,-- DM festgesetzt.

Gründe:

Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Anders als vom Verwaltungsgericht angenommen, ist der Antragstellerin der beantragte vorläufige gerichtliche Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren und die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den - kraft formell ordnungsgemäßer behördlicher Anordnung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 S. 1 VwGO) - sofort vollziehbaren Aufhebungsbescheid der Antragsgegnerin vom 13.4.2000 wiederherzustellen.

Die gebotene Abwägung (§ 80 Abs. 5 S. 1 VwGO) ergibt, dass das private Interesse der Antragstellerin daran, vom Vollzug des im Widerspruchsverfahren angegriffenen Aufhebungsbescheids der Antragsgegnerin vom 13.4.2000 einstweilen verschont zu bleiben und damit von der auf sie übergegangenen Baugenehmigung vom 7.12.1999 nicht nur in Bezug auf die zwischen den Beteiligten nicht im Streit befindliche Abbrucherlaubnis, sondern auch hinsichtlich der aufgehobenen Genehmigung zur Errichtung baulicher Anlagen bereits vor Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens Gebrauch machen zu dürfen, das gegenläufige öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt. Das öffentliche Interesse an einer Verhinderung vollendeter Tatsachen hat hier bereits deshalb hinter das private Interesse der Antragstellerin zurückzutreten, weil sich der zu ihren Lasten ergangene Aufhebungsbescheid als nach aller Voraussicht rechtswidrig erweist. Nach der hier allein möglichen summarischen Prüfung liegen nämlich weder die Voraussetzungen für eine von der Antragsgegnerin unbedingt verfügte Rücknahme der Genehmigung zum Neubau eines SB-Marktes einschließlich Getränkemarkt und Bäckerei mit einer Gesamtverkaufsfläche von 1.597,61 m² nebst Errichtung von 143 Stellplätzen auf den Grundstücken Flst.-Nrn. 126 und 126/1 auf der Gemarkung der Antragsgegnerin vor (1.), noch lässt sich die Aufhebung des besagten Teils der Baugenehmigung mit Erfolg auf die von der Antragsgegnerin im angegriffenen Bescheid hilfsweise angeführten Widerrufsvorschriften stützen (2.).

1.

Die von der Antragsgegnerin in erster Linie ausgesprochene Teilrücknahme der Baugenehmigung vom 7.12.1999 scheidet nach der hier maßgeblichen Vorschrift des § 48 Abs. 1 S. 1 LVwVfG voraussichtlich schon deshalb aus, weil die besagte Genehmigung im Zeitpunkt ihres Erlasses nicht rechtswidrig gewesen sein dürfte (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl. 2000, RdNrn. 33 ff. zu § 48). Insbesondere spricht nichts dafür, dass das Bauvorhaben - wie die Antragsgegnerin meint - nach der Art der beabsichtigten baulichen Nutzung im Zeitpunkt seiner Genehmigung bauplanungsrechtlich unzulässig war. Auf die Gültigkeit des von der Antragsgegnerin vorgelegten, am 27.4.1952 genehmigten Bebauungsplans "Herrenwiesen" oder des am 18.4.1961 genehmigten Bebauungsplans "Herrenwiesen Industriegebiet" kommt es dabei nicht an:

Allerdings liegen die Baugrundstücke der Antragstellerin nicht nur im Geltungsbereich des am 18.4.1961 genehmigten Bebauungsplans "Industriegebiet Herrenwiesen", der - wie vom Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt - wohl keine rechtsverbindliche Festsetzung der Art der baulichen Nutzung enthält. Vielmehr werden jedenfalls Teile dieser Grundstücke auch vom vorgelegten, am 27.4.1952 genehmigten Bebauungsplan "Herrenwiesen" erfasst, der u.a. für das mit den nordöstlichen Teilen der Baugrundstücke Flst.-Nrn. 1628 und 1628/1 (neu) identischen Grundstück Flst.-Nr. 1389 (alt) ein Industriegebiet festsetzt. Indes wäre die von der Antragstellerin beabsichtigte Nutzung - die (fortbestehende) Gültigkeit der Festsetzung unterstellt - auf der Grundlage dieses Bebauungsplans zulässig. Der vorliegende Plan selbst enthält nichts zur näheren Bestimmung der Industriegebietsausweisung, und die mangels abweichender Regelung im Aufbaugesetz vom 18.8.1948 (RegBl. S. 127; vgl. hierzu insbesondere § 8 Abs. 3 lit. a AufbauG) bei Erlass des Bebauungsplans fortgeltende Vorschrift des § 59 Abs. 1 Württ. BauO vom 28.7.1910 (RegBl. S. 333; vgl. zur Fortgeltung der genannten Vorschrift Holch, Württ. BauO, 5. Aufl. 1959, S. 19 Anm. 5 sowie die Vorbemerkung des Erlasses an die Landratsämter und die Bürgermeisterämter im Landesbezirk Württemberg zur Durchführung der §§ 4 - 12 und des § 29 des AufbauG vom 29.10.1948, ABl. S. 185 [abgedruckt bei Holch, a.a.O.]), die demgemäss zur Auslegung des Begriffs des Industriegebiets heranzuziehen ist, schloss Einzelhandelsbetriebe allgemein dort ebenso wenig aus, wie § 9 der erst später in Kraft getretenen Baunutzungsverordnung 1962 oder dessen bis heute erfolgte Änderungen (vgl. zur Zulässigkeit von Nutzungen minderer Störungsqualität in "Industrievierteln" nach § 59 Abs. 1 Württ. BauO, Haeffner, Württ. BauO, 3. Aufl. 1927, Anm. 1 a.E. zu § 59; vgl. zur allgem. Zulässigkeit von Einzelhandelsbetrieben in Gewerbe- und Industriegebieten nach der BauNVO: BVerwG, Urteil vom 3.2.1984, BVerwGE 68, 352, 353, 359 sowie VGH Bad.-Württ., Urteil vom 4.5.1992, ESVGH 42, 279 ff.). Einen Ausschluss von Einzelhandelsbetrieben wegen ihrer Größe und möglicher Auswirkungen im Sinne der §§ 9 Abs. 2 Nr. 1, 11 Abs. 3 BauNVO 1968 bzw. der §§ 11 Abs. 3 BauNVO 1977 und 1990 kannte die Württ. BauO 1910 - wie auch die BauNVO 1962 (vgl. BVerwG, Urteil vom 3.2.1984, a.a.O., S. 359) - nicht.

Aber auch im Falle der Ungültigkeit insbesondere des am 27.4.1952 genehmigten Bebauungsplans "Herrenwiesen" der Antragsgegnerin dürfte das Bauvorhaben der Antragstellerin nach der Art der beabsichtigten baulichen Nutzung als - gemäß § 34 Abs. 1 BauGB - planungsrechtlich zulässig und daher nicht als im Sinne des § 48 Abs. 1 S. 1 LVwVfG rechtsfehlerhaft genehmigt anzusehen sein; der Senat verweist insoweit auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts, gegen die die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren Einwendungen nicht erhoben hat.

2.

Der von der Antragsgegnerin hilfsweise ausgesprochene Widerruf der Baugenehmigung vom 7.12.1999 greift ebenfalls nicht durch.

Dies gilt - unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit dieser Regelung auf den Widerruf von Baugenehmigungen - zunächst mit Blick auf § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 LVwVfG. Denn diese Vorschrift setzt u.a. voraus, dass die Behörde auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen nunmehr berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, dass also auf Grund einer Änderung rechtlich relevanter tatsächlicher Gegebenheiten entweder die Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsakts entfallen sind oder sich die für die Ermessens- oder Beurteilungsentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte geändert haben (vgl. Kopp/Ramsauer, a.a.O., RdNr. 43 zu § 49). Eine solche Veränderung von Tatsachen liegt aber hier nicht vor. Der nach Erteilung der Baugenehmigung eingetretene Bauherrenwechsel und die damit voraussichtlich einhergehende Auswechslung des späteren Betreibers des geplanten großflächigen Einzelhandelsbetriebs sind für sich genommen baurechtlich irrelevant. Aber auch in einer damit möglicherweise verbundenen Ausweitung von Einzelhandelsflächen im Stadtgebiet der Antragsgegnerin mit Auswirkungen auf den innerstädtischen Handel ist keine hier erhebliche Tatsachenänderung zu sehen. Denn derartige Umstände wären von der Antragsgegnerin - als untere Baurechtsbehörde im Sinne des § 46 Abs. 1 Nr. 3 LBO i.V.m. den §§ 13 Abs. 1 Nr. 1, 16 LVG - im Rahmen der Erteilung der Baugenehmigung nach § 58 Abs. 1 Satz 1 LBO nur dann zu berücksichtigen, wenn sie zuvor ihren Niederschlag in öffentlich-rechtlichen Vorschriften - und hier insbesondere in einem von der Antragsgegnerin in ihrem örtlichen Wirkungskreis als Selbstverwaltungskörperschaft (§§ 1, 2 Abs. 1 GemO) beschlossenen, die Baugrundstücke einbeziehenden Bebauungsplan (§§ 8 ff. BauGB i.V.m. § 4 GemO) - gefunden hätten. Dies ist indes nicht der Fall. Darauf, welche bauplanungsrechtlichen Mittel die Antragsgegnerin bei Kenntnis der nunmehr eingetretenen Sachlage zur Verhinderung des genehmigten Bauvorhabens ergriffen hätte, kommt es nicht an.

§ 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 LVwVfG vermag den verfügten Widerruf der Baugenehmigung nach aller Voraussicht ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Allerdings handelt es sich bei der zwischen den Beteiligten unstreitig am 29.2.2000 vom Gemeinderat der Antragsgegnerin als Satzung (§ 16 Abs. 1 BauGB) beschlossenen Veränderungssperre - wie von § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 LVwVfG gefordert - um eine nach Genehmigungserteilung in Kraft getretene, also geänderte Rechtsvorschrift. Indes schließt § 14 Abs. 3 BauGB als bundesrechtliche Sonderregelung den Widerruf einer - wie hier - unanfechtbar erteilten Baugenehmigung (vgl. zum Merkmal der Unanfechtbarkeit Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand April 2000, RdNr. 60 zu § 14) wegen einer nachträglich in Kraft getretenen Veränderungssperre aus (vgl. Ernst/Zinkahn/Bielenberg, a.a.O., RdNr. 61 m.w.N. zum Streitstand; Brügelmann, BauGB, Stand Februar 2000, RdNr. 116 zu § 14; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 5. Aufl. 1998, RdNr. 67 zu § 49; VG Arnsberg, Urteil vom 6.9.1988, NVwZ 1990, 592; Gailus, "Die Zulässigkeit des Widerrufs der Baugenehmigung auf Grund einer Veränderungssperre", NVwZ 1990, 536 ff.; unentschieden zur Frage der Zulässigkeit des Widerrufs eines Bauvorbescheids: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 7. Aufl. 1999, RdNr. 21 zu § 14; a.A. Berliner Komm. zum BauGB, 2. Aufl. 1995, RdNr. 21 zu § 14; Schrödter, BauGB, 6. Aufl. 1998, RdNr. 24 zu § 14; Weidemann, "Widerruf einer Baugenehmigung nach Erlass einer Veränderungssperre", BauR 1997, 9 ff.). Dies gilt jedenfalls angesichts der Änderung des § 14 Abs. 3 BauGB durch das Bau- und Raumordnungsgesetz 1998 - BauROG - vom 18.8.1997 (BGBl. I S. 2081):

Denn der Gesetzgeber hat durch diese Änderung den Anwendungsbereich der Freistellungsklausel ausdrücklich auch auf Vorhaben erweitert, die ohne Genehmigung auf Grund eines anderen baurechtlichen Verfahrens als des Baugenehmigungsverfahrens - also beispielsweise im Kenntnisgabeverfahren nach § 51 LBO - zulässig geworden sind. Nachdem die Verwirklichung derartiger Vorhaben nicht von einem dem Widerruf zugänglichen Verwaltungsakt abhängt, lassen sich diese mithin auf der Grundlage einer nachträglich eingetretenen Veränderungssperre nicht verhindern. Angesichts dessen stellt sich aber auch der auf eine nachträglich erlassene Veränderungssperre gestützte Widerruf einer Baugenehmigung als unzulässig dar. Denn eine mit dem Widerruf einhergehende Schlechterstellung des Inhabers einer Baugenehmigung im Vergleich zu einem Bauherrn, dessen Vorhaben nach Durchlaufen des Kenntnisgabeverfahrens baurechtlich zulässig geworden ist, liefe nicht nur der Schutzfunktion der Baugenehmigung zuwider, sondern verstieße auch gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Soweit die Antragsgegnerin den Aufhebungsbescheid vom 13.4.2000 schließlich auf § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 LVwVfG gestützt hat, vermag der Senat schwere Nachteile für das Gemeinwohl ebenso wenig zu erkennen, wie das Verwaltungsgericht, auf dessen Entscheidung auch insoweit verwiesen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 25 Abs. 2, 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 S. 1 GKG (vgl. hierzu I.7. S. 1 i.V.m. II.7.1.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom Januar 1996 - NVwZ 1996, 563).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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