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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 20.09.2001
Aktenzeichen: 3 S 781/01
Rechtsgebiete: LBO


Vorschriften:

LBO § 55 Abs. 2 Satz 2
In der Angrenzerbenachrichtigung muss das Vorhaben so eindeutig bezeichnet werden, dass davon eine Anstoßwirkung ausgeht.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

3 S 781/01

Verkündet am 20.09.2001

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Anfechtung eines Bauvorbescheids

hat der 3. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Stopfkuchen-Menzel, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Fricke und den Richter am Verwaltungsgerichtshof Schieber auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 18. September 2001

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 9. Oktober 2000 - 3 K 2257/99 - wird zurückgewiesen.

Die Beigeladenen tragen die Kosten des Berufungsverfahrens als Gesamtschuldner.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen einen den Beigeladenen erteilten Bauvorbescheid.

Die Beigeladenen sind Eigentümer des mit einem Wohngebäude bebauten Grundstücks Flst.-Nr. 7047 (Winzerstraße 13) in Efringen-Kirchen. Der Kläger ist Eigentümer des ebenfalls mit einem Wohngebäude bebauten, westlich angrenzenden Grundstücks Flst.-Nr. 7046 (Winzerstraße 15). Beide Grundstücke liegen im räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans "Mühlgestad-Deicheläcker". Dieser Bebauungsplan setzt hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ein allgemeines Wohngebiet fest und begrenzt die jeweils überbaubare Grundstücksfläche durch Baugrenzen.

Unter dem 17.8.1998 beantragten die Beigeladenen die Erteilung eines Bauvorbescheids für den "Anbau eines Wintergartens". Das Vorhaben soll das Wohngebäude in südlicher Richtung erweitern und überschreitet die westliche und die südliche Baugrenze. Das Vorhaben weist an der Westseite eine massive Wand auf.

Am 17.9.1998 benachrichtigte das Bürgermeisteramt Efringen-Kirchen den Kläger als Angrenzer von dem Bauvorbescheidsantrag der Beigeladenen und bezeichnete dabei das Bauvorhaben als "Anbau eines Wintergartens". Der Kläger erhob keine Einwendungen.

Unter dem 19.10.1998 erteilte das Landratsamt Lörrach den Beigeladenen den beantragten Bauvorbescheid und ergänzte diesen mit Bescheid vom 27.10.1998 dahin, dass eine Befreiung wegen der Überschreitung der Baugrenze bei einer Durchführung eines Baugenehmigungsverfahrens in Aussicht gestellt werden könne.

Beide Bescheide sind dem Kläger nicht zugestellt worden.

Im Rahmen des nachfolgenden Baugenehmigungsverfahrens erhielt der Kläger Kenntnis vom Bauvorbescheid.

Gegen diese Entscheidung legte er am 26.5.1999 Widerspruch ein. Zur Begründung machte er geltend, die Bauvoranfrage sei unbestimmt gewesen, da sie keine bestimmte Frage bezeichnet habe. Eine Befreiung wegen der Überschreitung der Baugrenze hätte nicht erteilt werden dürfen.

Den Widerspruch des Klägers verwarf das Regierungspräsidium Freiburg mit Widerspruchsbescheid vom 22.9.1999 als unzulässig. Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe innerhalb der Frist des § 55 Abs. 2 S. 1 LBO keine Einwendungen erhoben. Dadurch sei ein endgültiger Rechtsverlust eingetreten. Der Widerspruch sei daher unzulässig.

Am 12.10.1999 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg mit dem Antrag erhoben, den Bauvorbescheid des Landratsamts Lörrach vom 19. und 27.10.1998 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom 22.9.1999 aufzuheben. Zur Begründung hat er vorgetragen, die Voraussetzungen des Einwendungsausschlusses aus § 55 Abs. 2 S. 2 LBO lägen nicht vor, weil die Bauvoranfrage nicht präzise gestellt gewesen sei. Aus ihr sei der Gegenstand des Bauvorhabens nicht ausreichend sicher ersichtlich gewesen. Insbesondere die Bezeichnung "Wintergarten" sei irreführend gewesen.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Nach Einnahme eines Augenscheins hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 9.10.2000 den Bauvorbescheid des Landratsamts Lörrach vom 19. und 27.10.1998 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom 29.9.1999 aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Kläger sei mit seinen Einwendungen nicht gemäß § 55 Abs. 2 S. 2 LBO präkludiert. Im Antrag auf Erteilung eines Bauvorbescheids sei das geplante Vorhaben als "Wintergarten" bezeichnet worden. Kennzeichnend für einen Wintergarten seien nach § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO Wände und Dächer aus lichtdurchlässigen Baustoffen. Dies sei bei dem geplanten Vorhaben nicht der Fall. Wegen der falschen Bezeichnung "Wintergarten" habe der Kläger die von dem Vorhaben tatsächlich ausgehenden Beeinträchtigungen nicht vollständig erkennen können. Planungsrechtlich verstoße der geplante Wintergarten gegen die Festsetzungen des Bebauungsplans "Mühlgestad-Deicheläcker" hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung lägen nicht vor. Trotz der Neufassung des § 31 Abs. 2 BauGB 1998 komme eine Befreiung nur in atypischen Sonderfällen in Betracht. Eine derartige Situation liege nicht vor, weil eine Befreiung von der Einhaltung der Baugrenzen von jedem Grundstückseigentümer im Plangebiet mit derselben Berechtigung gefordert werden könnte. Durch die in Aussicht gestellte Befreiung werde der Kläger auch in einer nachbarschützenden Norm verletzt, denn die zu seinem Grundstück gerichtete westliche Baugrenze diene auch seinem Schutz. Im Übrigen sei die Abweichung von den Festsetzungen des Bebauungsplans mit nachbarlichen Interessen des Klägers nicht vereinbar.

Auf Antrag der Beigeladenen hat der Senat mit Beschluss vom 26.3.2001 die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg zugelassen.

Die Beigeladenen beantragen,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 9.10.2000 - 3 K 2257/99 - zu ändern und die Klage abzuweisen.

Zur Begründung machen sie geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei zu Lasten des Klägers eine Präklusionswirkung eingetreten. Der Kläger habe es nicht für nötig gehalten, auf die Angrenzerbenachrichtigung hin die Planunterlagen einzusehen. Die Unterlagen seien vollständig und eindeutig gewesen. Die Bezeichnung des Bauvorhabens als Wintergarten stehe dem nicht entgegen, denn dieser Begriff werde häufig untechnisch verwendet, ohne auf die Definition des § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO zurückzugreifen. Im Übrigen sei das Vorhaben planungsrechtlich zulässig. Nach der Novellierung des Befreiungstatbestand des § 31 Abs. 2 BauGB könne ein atypischer Sonderfall als Voraussetzung für die Erteilung einer Befreiung nicht mehr gefordert werden. Die Befreiung sei auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung macht er geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass eine materielle Präklusion nicht eingetreten sei. Der Angrenzerbenachrichtigung komme eine Anstoßfunktion zu. Sie werde ihrem Informationszweck nur gerecht, wenn dem Angrenzer dadurch die Situation vermittelt werde, aus der er eine mögliche Betroffenheit ableiten könne. Bei einem Wintergarten müsse es sich um einen untergeordneten Bauteil aus licht- und sichtdurchlässigen Baustoffen handeln. Vorliegend handele es sich jedoch um ein Vorhaben in Massivbauweise. Die Falschbezeichnung habe deshalb im Hinblick auf die Anstoßwirkung der Angrenzerbenachrichtigung erhebliche Relevanz. Im Übrigen sei aus dem Antrag nicht ersichtlich gewesen, auf welche Fragen sich die Bauvoranfrage beziehe. Zutreffend habe das Verwaltungsgericht auch entschieden, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nicht vorlägen.

Das beklagte Land stellt keinen Antrag. Es hält die Auffassung des Verwaltungsgerichts jedoch für falsch.

Der Senat hat auf den Grundstücken des Klägers und der Beigeladenen einen Augenschein eingenommen. Hinsichtlich der dabei getroffenen Feststellungen wird auf die Niederschrift Bezug genommen.

Dem Senat lagen die Bebauungsplanakten der Gemeinde Efringen-Kirchen, die Behördenakten des Landratsamts Lörrach und des Regierungspräsidiums Freiburg sowie die Akte des Verwaltungsgerichts Freiburg vor. Auf den Inhalt dieser Akten und die gewechselten Schriftsätze wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beigeladenen ist nicht begründet.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht den den Beigeladenen erteilten Bauvorbescheid des Landratsamts Lörrach vom 19. und 27.10.1998 aufgehoben, denn dieser ist rechtswidrig und verletzt Rechte des Klägers.

Der Kläger ist nicht wegen der Versäumung der Einwendungsfrist gemäß §§ 55 Abs. 2 Satz 2, 57 Abs. 2 LBO mit seinem Vorbringen gegen den Bauvorbescheid vom 19. und 27.10.1998 ausgeschlossen. Der von dem Bauvorbescheidsantrag der Beigeladenen am 17.8.1998 benachrichtigte Kläger hat zwar nicht innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Benachrichtigung Einwendungen erhoben, doch ist vorliegend diese Frist nicht in Lauf gesetzt worden.

Die materielle Präklusion des § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO knüpft an die nach der Verfahrensordnung zur Landesbauordnung mit dem Baugesuch oder dem Bauvorbescheidsantrag eingereichten Bauvorlagen an. Diese müssen so beschaffen sein, dass sich ein Angrenzer über Art und Ausmaß einer möglichen Betroffenheit in zumutbarer Weise hinreichend genau informieren kann (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4.3.1998 - 5 S 3180/97 - und Beschluss vom 14.7.1999 - 3 S 1358/99 -).

Teil der Bauvorlagen ist auch im Rahmen eines Antrags auf Erteilung eines Bauvorbescheids u.a. eine Baubeschreibung, die die Nutzung des Vorhabens erläutert (vgl. § 7 Abs. 1 LBO VVO). Die Art der Nutzung des Vorhabens ist auch bei einem Bauvorbescheidsantrag, mit der die planungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens geklärt werden soll, zwingender Bestandteil der Vorlagen. Im Rahmen der Angrenzeranhörung nach § 55 Abs. 1 LBO ist für die Entscheidung des Angrenzers, ob er Einsicht in die Antragsunterlagen nimmt und ob er ggf. Einwendungen erhebt, die Art der Nutzung des Vorhabens von entscheidender Bedeutung. Deshalb muss das Vorhaben in der Angrenzerbenachrichtigung so eindeutig bezeichnet werden, dass davon eine Anstoßwirkung auf den Angrenzer ausgeht.

Die Beigeladenen haben ihr Vorhaben als "Anbau eines Wintergartens" bezeichnet. Damit durfte der Angrenzer davon ausgehen, dass ein Anbau mit Wänden und Dach aus lichtdurchlässigen Baustoffen verwirklicht werden sollte. Von den möglichen negativen Auswirkungen, die von einem derartigen Gebäudeteil auf ein benachbartes Wohngrundstück ausgehen, wird er seine Entscheidung abhängig machen, ob er durch Einsicht in die Antragsunterlagen eine etwaige Beeinträchtigung überprüft oder ob er bereit ist, das vom Bauherrn bezeichnete Vorhaben hinzunehmen. Die weitreichenden Folgen für den Nachbarn, der innerhalb der kurz bemessenen Frist von zwei Wochen keine Einwendungen erhebt, erfordert eine zutreffende Bezeichnung des Vorhabens. Daran fehlt es vorliegend. Die Beigeladenen haben in der Sache einen Bauvorbescheid für einen Umbau ihres Wohngebäudes durch eine teilweise zweigeschossige Erweiterung nach Süden beantragt, wobei die westliche Außenwand in massiver Bauweise erstellt werden soll. Dieses Vorhaben geht weit über einen Wintergarten hinaus, wie ihn die Landesbauordnung aber auch die Verkehrsanschauung verstehen. Aus der von den Beigeladenen gewählten Bezeichnung ihres Vorhabens konnte der Kläger als Angrenzer auch bei Anwendung der von ihm zu erwartenden Sorgfalt ein derartiges Vorhaben nicht erwarten. Seine Untätigkeit führt deshalb auch nicht zu einem Rechtsverlust.

Der den Beigeladenen erteilte Bauvorbescheid einschließlich der "in Aussicht gestellten" Befreiung verletzt Nachbarrechte des Klägers. Planungsrechtlich verstößt das Vorhaben der Beigeladenen gegen die Festsetzungen des Bebauungsplans "Mühlgestad-Deicheläcker" hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche. Nach Westen und nach Süden werden die Baugrenzen mehr als geringfügig überschritten.

Die westliche Baugrenze, die dem Grundstück des Klägers gegenüber liegt, dient nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Gerichtshofs auch dem Schutz des Klägers (vgl. Beschlüsse vom 23.7.1991 - 8 S 1606/91 -, vom 10.11.1994 - 3 S 1967/94 - und vom 23.10.1997 - 5 S 1596/97 -).

An der planungsrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen ändert auch die Befreiung nichts. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 8.7.1998 - 4 B 64.98 -) vermittelt § 31 Abs. 2 BauGB bei einer fehlerhaften Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans stets einen nachbarlichen Abwehranspruch. Dies bedeutet, dass bei nachbarschützenden Festsetzungen jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung führt.

Die vom Landratsamt Lörrach im Bescheid vom 27.10.1998 für das Bauvorhaben der Beigeladenen in Aussicht gestellte Befreiung wegen der Überschreitung der Baugrenzen ist rechtswidrig.

Zunächst erscheint es bereits fraglich, ob überhaupt eine Befreiung erteilt worden ist. Die gewählte Formulierung verkennt die Rechtsnatur eines Bauvorbescheids, da dieser keine bloße Zusage oder die Ankündigung einer Regelung ist, sondern ein vorweggenommener Teil der Baugenehmigung (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.10.2000 - 8 S 1445/00 -, VBlBW 2001, 188 m.w.N.).

Selbst wenn man davon ausgeht, dass das Landratsamt Lörrach trotz des irreführenden Wortlauts der Entscheidung einen verbindlichen Bauvorbescheid mit einer Befreiung erteilen wollte und eine solche auch objektiv erteilt hat, ist die Befreiung rechtswidrig.

Das Landratsamt hat bei der Erteilung der Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans das ihm in § 31 Abs. 2 BauGB eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. Die Entscheidung des Landratsamts Lörrach vom 27.10.1998 enthält überhaupt keine Begründung für die Erteilung der Befreiung. Der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom 22.9.1999 beschäftigt sich ausschließlich mit der Frage der materiellen Präklusion nach § 55 Abs. 2 LBO. Damit enthalten beide Bescheide keine Ausführungen zu den gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung und zu den Ermessensüberlegungen, die die Befreiung rechtfertigen sollen.

Darüber hinaus liegen auch - wie der vom Senat eingenommene Augenschein ergeben hat - die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach der hier allein in Frage kommenden Bestimmung des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB nicht vor. Danach kann eine Befreiung nur erteilt werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Dies bedeutet auch nach der seit 1.1.1998 geltenden Neufassung des § 31 Abs. 2 BauGB, dass die Festsetzungen eines Bebauungsplans für das Baugenehmigungsverfahren grundsätzlich strikt verbindlich sind. Der Gesetzgeber stellt mit § 31 Abs. 2 BauGB ein Instrument zur Verfügung, das trotz dieser Rechtsbindung im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit und der Wahrung der Verhältnismäßigkeit für Vorhaben, die Festsetzungen zwar widersprechen, sich mit den planerischen Vorstellungen aber gleichwohl in Einklang bringen lassen, ein Mindestmaß an Flexibilität schafft. Er knüpft die Befreiung indes an genau umschriebene Voraussetzungen. Durch das Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der Planung stellt er sicher, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans nicht beliebig durch Verwaltungsakt außer Kraft gesetzt werden können (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5.3.1999 - 4 B 5.99 -, BRS 62, Nr. 99).

Die den Beigeladenen erteilte Befreiung berührt bereits die Grundzüge der Planung. Dabei beschränken sich die Grundzüge der Planung nicht auf die Art und das Maß der im Bebauungsplan zugelassenen Vorhaben. Auch hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen kann der Bebauungsplan einen Grundzug enthalten. Aus den schriftlichen Festsetzungen des Bebauungsplans "Mühlgestad-Deicheläcker" ergibt sich, dass die Bereiche außerhalb der durch Baugrenzen eingeschränkten überbaubaren Grundstücksfläche von baulichen Anlagen sehr weitgehend frei gehalten werden sollen. So hat der Bebauungsplan die Anwendung von § 23 Abs. 5 BauNVO in der maßgeblichen Fassung vom 26.11.1968 dadurch weitgehendst ausgeschlossen, dass Nebenanlagen im Sinne von § 14 BauNVO, die Gebäude sind, unzulässig sind und dass auch Garagen, die nach Landesrecht in den Abstandsflächen zulässig sind, durch die Festsetzung von Garagenstandorten außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche nicht zugelassen werden können.

Dieser Grundzug würde durch die Befreiung berührt, die eine von der Gemeinde getroffene planerische Regelung bei Seite schieben würde, die sich auf eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle auswirken könnte.

Hinzu kommt, dass die Überschreitung der Baugrenzen unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen nicht vereinbar ist. Insoweit müssen die für eine Befreiung anzuführenden öffentlichen und privaten Belange den von der Befreiung berührten nachbarlichen Interessen gegenübergestellt und gewichtet werden. Bei gleichgewichtig gegenüberstehenden Interessen scheidet eine Befreiung aus (Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 31 RdNr. 60). Öffentliche Belange für eine Befreiung liegen nicht vor. Die privaten Belange der Beigeladenen sind von geringem Gewicht, denn sie können einen Wintergarten auch innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche verwirklichen. Demgegenüber wird die Belichtung des Wohngebäudes des Klägers durch das geplante Vorhaben der Beigeladenen mit einer 5,50 m langen und ca. 3,50 m hohen Wand parallel zur Grundstücksgrenze erheblich eingeschränkt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da kein Fall des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Beschluss

vom 18. September 2001

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 10.000,-- DM festgesetzt (§ 13 Abs. 1 Satz 1 GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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