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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 21.11.2006
Aktenzeichen: 5 S 1825/06
Rechtsgebiete: BauGB, LBO, LVwVfG


Vorschriften:

BauGB § 34
LBO § 57 Abs. 1
LVwVfG § 48 Abs. 1
LVwVfG § 48 Abs. 3
LVwVfG § 50
Erscheint es im Aussetzungsverfahren als offen, ob die Rücknahme eines Bauvorbescheids rechtmäßig ist, besteht grundsätzlich ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Rücknahmeentscheidung, weil nur so die Erteilung einer möglicherweise rechtswidrigen Baugenehmigung und damit die Schaffung vollendeter Tatsachen verhindert werden kann.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

5 S 1825/06

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Rücknahme eines Bauvorbescheids

hier: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO

hat der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

am 21. November 2006

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 12. Juli 2006 - 2 K 902/06 - geändert.

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertbestimmung des Verwaltungsgerichts für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf 400.000,- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hätte den Antrag ablehnen müssen. Denn das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der mit Verfügung vom 09.03.2006 ausgesprochenen Rücknahme des unter dem 25.02.2005 erteilten Bauvorbescheids überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 5 VwGO).

Entgegen der Auffassung der Beteiligten lassen sich nach Lage der Akten, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse des vom Verwaltungsgericht am 12.07.2006 eingenommenen Augenscheins, die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht mit hinreichender Sicherheit beurteilen. Insoweit wird es wesentlich auf die Frage ankommen, wie die nähere Umgebung des Vorhabens im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB abzugrenzen ist. Zu dieser Frage könnte sich der Senat zwar durch die Einnahme eines Augenscheins ggf. zusätzliche Erkenntnismöglichkeiten verschaffen. Dennoch blieben Unsicherheiten bei der Beurteilung des festgestellten Sachverhalts, die letztlich nur im Rahmen einer rechtsmittelfähigen Entscheidung in der Hauptsache ausgeräumt werden könnten. Dies ergibt sich im Einzelnen aus Folgendem:

In Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind die Beteiligten und auch das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die nähere Umgebung eines Vorhabens, die den Beurteilungsmaßstab für das "Einfügen" im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB liefert, so weit reicht, wie sich das Vorhaben auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, Beschl. v. 20.08.1998 - 4 B 79.98 - NVwZ-RR 1999, 105 m.w.N.). Prägend auf das Baugrundstück wirken kann dabei nicht nur die Bebauung, die in unmittelbarer Nachbarschaft überwiegt, sondern auch diejenige der weiteren Umgebung, wobei allerdings in aller Regel die größere Nähe zu einer stärker prägenden Wirkung führt (BVerwG, Urt. v. 26.05.1978 - 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369; Beschl. v. 10.01.1994 - 4 B 158.93 - BRS 56 Nr. 66). Dem entspricht es, dass die nähere Umgebung eines Vorhabens im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB nicht notwendig alle Grundstücke in der Umgebung umfasst, die hinsichtlich der Merkmale, nach denen sich das Vorhaben einfügen muss, (überwiegend) im Wesentlichen in gleicher Weise bebaut sind und genutzt werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.08.1998 - 4 B 79.98 - a.a.O.). Angrenzende Verkehrsflächen gehören nicht zur näheren Umgebung eines Vorhabens im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB, weil sie für eine Bebauung nicht zur Verfügung stehen und damit gerade nicht die Art der Bebauung prägen können; sie können im Übrigen wie auch topographische Gegebenheiten für die Bestimmung der maßgeblichen Umgebungsbebauung sowohl trennende als auch verbindende Wirkung haben; zu beurteilen ist dies jeweils nach den Umständen des Einzelfalls (BVerwG, Beschl. v. 11.02.2000 - 4 B 1.00 - BRS 63 Nr. 102 m.w.N.; vgl. auch Senatsurt. v. 24.07.2002 - 5 S 149/01 - ESVGH 53, 30 zur trennenden Wirkung einer innerörtlichen Bundesstraße).

Es spricht einiges dafür, dass, wovon das Regierungspräsidium Karlsruhe als höhere Baurechtsbehörde ausgeht, die nähere Umgebung des Vorhabens sich auf das gewerblich genutzte ehemalige Schlachthofgelände und die gewerblich genutzten Grundstücke entlang der Kleiststraße bis zu ihrer Einmündung in die Blücherstraße, die als Zeppelinstraße nach Süden abknickt, beschränkt und allenfalls - dann im Sinne einer Großgemengelage - noch die nördlich der Kleiststraße gelegene Wohnbebauung einschließt. Insoweit erscheint die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang zwischen dem Vorhaben und dem großflächigen Einzelhandelsbetrieb G. jenseits der Zeppelinstraße noch eine Sichtverbindung besteht, von eher geringer Bedeutung. Das gilt auch für den Umstand, dass das Vorhabengrundstück und jener Betrieb mehr als 250 m voneinander entfernt liegen. Zwar setzt sich die gewerbliche Nutzung des Geländestreifens zwischen der Eisenbahnstrecke und der Blücherstraße jenseits der Zeppelinstraße nach Osten fort. Es erscheint dem Senat aber nicht ohne Weiteres als zwingend, die vom Verwaltungsgericht festgestellte "spiegelbildliche" gewerbliche Nutzung in Bezug auf die Zeppelinstraße, im Westen durch ein Busdepot und anschließend durch den großflächigen Einzelhandelsbetrieb G. und im Osten durch eine Autowaschanlage, weiter durch einen Entsorgungsbetrieb und sodann das Vorhaben der Antragstellerin, als Beleg gegen eine trennende Wirkung der Straße zu werten. Denn umgekehrt ließe sich auch die Sichtweise vertreten, dass die angenommene "spiegelbildliche" gewerbliche Nutzung die städtebauliche Trennungswirkung der Zeppelinstraße in dem Sinne unterstreicht, dass sie jeweils zur Zeppelinstraße hin jedenfalls im Volumen der baulichen Nutzung geringer wird. Auch spricht gegen diese "spiegelbildliche" Betrachtung der baulichen Nutzung auf einem bahnparallelen Geländestreifen mit der Zeppelinstraße als Symmetrieachse, dass das ehemalige Schlachthofgelände nach Norden erheblich über die Kleiststraße hinausreicht und gerade in diesem Bereich einen eigenen baulichen Schwerpunkt bildet. Ohnehin dürfte es für die Bestimmung der Reichweite der näheren Umgebung des Vorhabens, gerade auch im Blick auf die Frage der trennenden Wirkung der Zeppelinstraße, eher auf die Beeinträchtigung der Umgebung durch den von dem Vorhaben ausgelösten Verkehrslärm ankommen. Dabei spricht viel dafür, dass der überwiegende Anteil des durch das Vorhaben bedingten Anlieferungs- und Kundenverkehrs über die Zeppelinstraße zur Eutingerstraße fährt (und nicht über die Blücherstraße) und somit diese Auswirkungen des Vorhabens nicht über die Zeppelinstraße hinweg nach Westen hinausreichen. Umgekehrt ist auch das ehemalige Schlachthofgelände wohl kaum von den verkehrlichen (oder sonstigen) Auswirkungen der Gewerbebetriebe westlich der Zeppelinstraße betroffen. Diese unter dem Blickwinkel der verkehrlichen und immissionsschutzrechtlichen Einwirkungen wohl eher gegebene trennende Wirkung wird durch die Führung der Zeppelinstraße im Einschnitt (zur Unterführung der Eisenbahnstrecke) auch optisch unterstrichen. Dass schließlich die gleichförmige (Wohn-)Bebau-ung nördlich der Blücher- und der Kleiststraße, für die ein allgemeines Wohngebiet festgesetzt ist, die jeweils südlich gelegene gewerbliche Nutzung verklammern könnte, liegt fern, zumal sie wegen der klaren Nutzungsabgrenzung wohl nicht mehr zur näheren Umgebung des Vorhabens und der weiteren gewerblichen Nutzungen in dem beschriebenen gewerblich genutzten Geländestreifen zwischen Blücher- und Kleiststraße und der Eisenbahnlinie gehört. Unwahrscheinlich ist auch, dass die nähere Umgebung des Vorhabens nach Süden über den Bahndamm (wesentlich) hinausreicht.

Wäre die nähere Umgebung in dem beschriebenen Sinne enger zu fassen, würde sich das Vorhaben voraussichtlich nicht im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB in sie einfügen, obwohl es sich - vorbehaltlich der Regelung des § 34 Abs. 3 BauGB - ebenfalls um eine in einem Gewerbegebiet grundsätzlich zulässige gewerbliche Nutzung handelte. Denn die Antragsgegnerin weist wohl zu Recht darauf hin, dass das Vorhaben die Ansiedlung weiterer großflächiger Einzelhandelsunternehmen auf dem Schlachthofgelände nach sich ziehen könnte und dass dies die verkehrliche und insbesondere die lärmschutzrechtliche Problematik wesentlich verschärfen würde. Es erscheint auch zumindest zweifelhaft, dass - wie das Verwaltungsgericht meint - die vorhandene "Großgemengelage" im Wesentlichen durch den Entsorgungsbetrieb westlich des Baugrundstücks vorbelastet ist und dass deshalb die mit der Ansiedlung von mindestens zwei großflächigen Einzelhandelsbetrieben verbundenen Lärmimissionen für die Wohnbebauung nördlich der Kleiststraße durch Liefer- und Kundenverkehr kein Gewicht mehr hätten. Aus der für das Vorhaben von der Antragstellerin eingeholten schalltechnischen Stellungnahme ergibt sich dies jedenfalls nicht (vgl. S. 17, 18). Denn danach führt allein das Vorhaben bei der Wohnbebauung entlang der Kleiststraße zu einer Überschreitung der Beurteilungswerte im Plan-0-Fall von bis zu 1,7 dB(A) tags und 1,8 dB(A) nachts und der hier als Orientierungswerte herangezogenen Grenzwerte der 16. BImSchV von 59 dB(A) tags und 49 dB(A) nachts von bis zu 2,0 dB(A) tags und nachts. Einer negativen Vorbildwirkung des Vorhabens kann die Antragstellerin auch nicht entgegen halten, die Antragsgegnerin könne die Ansiedlung weiterer großflächiger Einzelhandelsbetriebe an dieser Stelle verhindern, weil sie Eigentümerin aller dafür in Betracht kommender Grundstücke des Schlachthofgeländes sei. Denn die Antragsgegnerin, welche den Bauvorbescheid im Übrigen nur auf Weisung des Regierungspräsidiums zurückgenommen hat, wäre bei einer Verwirklichung des Vorhabens nicht gehindert, die ihr noch gehörenden Grundstücke, für deren Bebaubarkeit sich nach der Verwirklichung des Vorhabens der Antragstellerin zusätzliche Möglichkeiten ergäben, zu veräußern. Dass sie in diesem Fall verpflichtet wäre, die Bebaubarkeit des Grundstücks im Kaufvertrag (und dinglich) zu beschränken oder der Ansiedlung eines weiteren großflächigen Einzelhandelsbetriebs durch Erlass eines Bebauungsplans vorzubeugen, liegt fern. Entscheidend für das Vorliegen einer bodenrechtliche Spannungen begründenden oder vertiefenden negativen Vorbildwirkung eines Vorhabens ist nicht, ob die jeweiligen Grundstückseigentümer Folgenutzungen tatsächlich verwirklichen wollen und - in einem umfassenden Sinne - können, sondern allein, ob ihnen dazu die planersetzende Vorschrift des § 34 Abs. 1 BauGB objektiv die Möglichkeit bietet. Dies dürfte hier der Fall sein. Im Übrigen hat die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 13.11.2006 dargelegt, dass sie nicht Eigentümerin aller weiteren Flächen des Schlachthofgeländes ist und dass auf den ihr nicht gehörenden Flächen ein weiterer großflächiger Einzelhandelsmarkt errichtet werden könnte.

Die Rücknahmeverfügung leidet voraussichtlich auch nicht an Ermessensfehlern (§ 48 Abs. 1 Satz 1, § 40 LVwVfG). Dabei kann offenbleiben, ob die Antragsgegnerin einen Vertrauensschutz (§ 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 LVwVfG) der Antragstellerin zutreffend mit der Erwägung verneint hat, die benachbarte Gemeinde K. habe unter Hinweis auf die Auswirkungen des Vorhabens auf ihre wohnortnahe Grundversorgung und auf § 34 Abs. 3 BauGB rechtzeitig Widerspruch eingelegt (vgl. § 50 LVwVfG). Denn die Antragsgegnerin hat in den Gründen der angefochtenen Verfügung hilfsweise und voraussichtlich zutreffend ausgeführt, dass auch dann, wenn sich die Antragstellerin insoweit auf Vertrauensschutz berufen könnte, das öffentliche Interesse an der Rücknahme des Bauvorbescheids ihr Interesse an der Vermeidung finanzieller Nachteile überwiegen würde. Auch insoweit führt die Antragsgegnerin wohl zu Recht das öffentliche Interesse an der Vermeidung einer negativen Vorbildwirkung an, die - wie oben ausgeführt - mit der Zulassung des Vorhabens einherginge. Es wird wohl auch nicht zu beanstanden sein, dass die Antragsgegnerin (etwaige weitere) Vertrauensschutzgesichtspunkte wesentlich auch dadurch gemindert sieht, dass die Antragstellerin ggf. einen Ausgleich von Vermögensnachteilen gemäß § 48 Abs. 3 LVwVfG verlangen kann. Dass die Antragsgegnerin nicht eigens erwähnt hat, dass ein entsprechender Anspruch nicht Aufwendungen umfasst, die vor Erteilung des Bauvorbescheids gemacht wurden, und auch nicht entgangenen Gewinn aus einem ggf. von der Fa. K. gekündigten Mietvertrag, begründet wohl kaum ein Ermessensdefizit oder gar die Beurteilung, dass die Rücknahme im engeren Sinne unverhältnismäßig wäre.

Erscheint es somit als offen, ob die Rücknahme des Bauvorbescheids rechtmäßig ist, besteht grundsätzlich ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit dieser Entscheidung, weil nur so die Erteilung einer möglicherweise rechtswidrigen Baugenehmigung und damit die Schaffung vollendeter Tatsachen durch Verwirklichung des Vorhabens verhindert werden kann. Demgegenüber muss das wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin an der Erteilung einer Baugenehmigung ohne weitere Verzögerung und einer Baufreigabe zurücktreten; dieses ist bereits bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Rücknahmeentscheidung zu berücksichtigen. Dass die Firma K. den mit der Antragstellerin abgeschlossenen Mitvertrag fristlos kündigen kann, wenn eine Baugenehmigung und die Baufreigabe nicht bis zum 31.08.2007 erreicht werden, und dass der Antragstellerin im Falle der fristlosen Kündigung die Erträge aus dem abgeschlossenen langfristigen Mietvertrag entgehen würden, überwiegt das öffentliche Interesse nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts unter Änderung der Streitwertbestimmung des Verwaltungsgerichts beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 63 Abs. 3 GKG. Anders als das Verwaltungsgericht hält der Senat eine Ermäßigung des Streitwerts mit Blick auf die eingeschränkte Regelungswirkung eines Bauvorbescheids für angemessen (vgl. Nr. 9.2 des Streitwertkatalogs 2004, NVwZ 2004, 1327).

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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