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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 04.07.2003
Aktenzeichen: 8 S 1251/03
Rechtsgebiete: LBO, BauNVO


Vorschriften:

LBO § 5 Abs. 6 Nr. 2
BauNVO § 19 Abs. 3 Satz 1
1. Auch für den Begriff des Vorbaus im Sinn des § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO gilt, dass er dem hinter ihm liegenden Gebäude zu- und untergeordnet sein muss. Ein vor die Außenwand gesetzter Bauteil fällt danach jedenfalls im Grundsatz nur dann unter diesen Begriff, wenn er diese Wand nicht überragt.

2. Zum Begriff des Baulands im Sinn des § 19 Abs. 3 S. 1 BauNVO


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

8 S 1251/03

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Baugenehmigung

hier: vorläufiger Rechtsschutz

hat der 8. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichtshofs Prof. Dr. Schmidt sowie die Richter am Verwaltungsgerichtshof Schenk und Rieger

am 4. Juli 2003

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerden der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 30. April 2003 - 11 K 961/03 - geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller gegen die Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 5. Februar 2003 wird insoweit angeordnet, als die Genehmigung das in den Bauplänen mit Haus A bezeichnete Mehrfamilienwohnhaus im Westen des Baugrundstücks betrifft. Im Übrigen werden die Anträge abgelehnt.

Die Antragsteller tragen zusammen die Hälfte der Gerichtskosten sowie der außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerin und der Beigeladenen; die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen je ein Viertel der Gerichtskosten sowie der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller. Im Übrigen findet ein Kostenausgleich nicht statt. Für die von ihnen zu tragenden Kosten haften die Antragsteller als Gesamtschuldner.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerden sind teilweise begründet. Der Senat nimmt mit dem Verwaltungsgericht an, dass die Widersprüche der Antragsteller keinen Erfolg haben werden, soweit sie sich gegen die Genehmigung des in den Bauplänen mit Haus B bezeichneten Mehrfamilienwohnhaus im Osten des Baugrundstücks wenden. Dafür, dass die Antragsteller durch diesen Teil des Vorhabens der Beigeladenen in ihren Rechten verletzt würden, vermag auch der Senat nichts zu erkennen. Für die Genehmigung des anderen, in den Bauplänen mit Haus A bezeichneten Mehrfamilienwohnhauses im Westen des Baugrundstücks gilt dies nicht. In seiner geplanten und genehmigten Form dürfte dieses Gebäude gegen § 5 LBO verstoßen und damit zugleich die Antragsteller in ihren sich aus dieser Vorschrift ergebenden Rechten verletzen. Soweit sich die Widersprüche der Antragsteller gegen die Genehmigung dieses Gebäudes richten, überwiegt daher das Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihrer Widersprüche das gegenläufige Interesse der Beigeladenen an einem sofortigen Baubeginn.

1. Zwischen den Beteiligten besteht Einigkeit darüber, dass die in dem maßgebenden Bebauungsplan getroffenen Festsetzungen über die Geschossflächenzahl nur der städtebaulichen Ordnung, aber nicht dem Schutz des Nachbarn dienen. Durch die von der Antragsgegnerin erteilte Befreiung von der das Baugrundstück betreffende Festsetzung würden die Antragsteller daher nur dann in ihren Rechten verletzt, wenn diese Entscheidung nicht hinreichend Rücksicht auf ihre nachbarlichen Interessen nähme (BVerwG, Beschl. v. 8.7.1998 - 4 B 64.98 - BauR 1998, 1206 = PBauE § 31 BauGB Nr. 18; Urt. v. 19.9.1986 - 4 C 8.84 - NVwZ 1987, 409 = PBauE a.a.O. Nr. 3). Das hat das Verwaltungsgericht mit der ohne weiteres einleuchtenden Begründung verneint, dass die Überschreitung der zulässigen Geschossfläche nur 56 m2 oder 5,7 % betrage und daher nicht weiter ins Gewicht falle. Gegen diese Schlussfolgerung als solche werden auch von den Antragstellern keine Einwendungen erhoben. Sie sind jedoch der Ansicht, dass die Überschreitung tatsächlich wesentlich mehr, nämlich über 10 % betrage, da ein Teil des Baugrundstücks mit einem Bauverbot belegt sei und dieser Teil bei der Ermittlung der zulässigen Geschossfläche nicht berücksichtigt werden dürfe. Dem ist das Verwaltungsgericht zu Recht nicht gefolgt.

Für die Ermittlung der zulässigen Geschossfläche ist nach § 19 Abs. 3 S. 1 in Verbindung mit § 20 Abs. 2 BauNVO die Fläche des Baugrundstücks maßgebend, "die im Bauland und hinter der im Bebauungsplan festgesetzten Straßenbegrenzungslinie" liegt. Der - im BauGB nicht mehr verwendete - Begriff des "Baulands" geht zurück auf § 9 Abs. 1 Nr. 1 BBauG 1960, in dem es - soweit hier von Interesse - hieß, dass der Bebauungsplan "das Bauland und für das Bauland die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise, die überbaubaren und die nicht überbaubaren Grundstücksflächen sowie die Stellung der baulichen Anlagen" festsetzt. Zum Bauland gehören daher im Allgemeinen auch die nicht überbaubaren Grundstücksflächen im Sinn des § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB und § 23 BauNVO. Dies gilt selbst dann, wenn der Bebauungsplan für diese Flächen zusätzliche Festsetzungen wie Pflanzgebote oder Pflanzbindungen nach § 9 Abs. 1 Nr. 25 BauGB trifft (SächsOVG, Beschl. v. 17.1.1998 - 1 S 669/98 - BRS 60 Nr. 167; NdsOVG Beschl. v. 17.1.1986 - 9 B 37/85 - ZfBR 1986, 184; König: in König/Stock/Roeser, BauNVO § 19 Rn. 15). Dafür, dass zum Bauland im Sinn des § 19 Abs. 3 BauNVO im Grundsatz auch die nicht überbaubaren Grundstücksflächen gehören, spricht im Übrigen auch, dass diese Flächen einer baulichen Nutzung nicht schlechthin entzogen sind, da nach § 23 Abs. 5 BauNVO Nebenanlagen auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen zugelassen werden können, soweit der Bebauungsplan nichts anderes bestimmt. Das Gleiche gilt für bauliche Anlagen, soweit sie nach Landesrecht in den Abstandsflächen zulässig sind oder zugelassen werden können. § 23 Abs. 2 und 3 BauNVO erlauben es ferner, dass Gebäude und Gebäudeteile eine Baulinie oder Baugrenze in geringfügigem Umfang überschreiten und sich damit insoweit auf die nicht überbaubaren Grundstücksfläche erstrecken. Die Antragsgegnerin hat somit ihrer Berechnung der zulässigen Geschossfläche zu Recht die gesamte zum Grundstück der Beigeladenen gehörende Fläche zugrunde gelegt.

Ob die mit einem Bauverbot belegten Teile des Grundstücks der Beigeladenen zum Bauland zählen und damit bei der Ermittlung der zulässigen Geschossfläche mit zu berücksichtigen sind, kann davon abgesehen nicht entscheidend dafür sein, ob die Antragsteller durch die von der Antragsgegnerin erteilte Befreiung unzumutbar beeinträchtigt werden. Für diese Frage kann es vielmehr nur auf die konkreten Auswirkungen ankommen, die die von der Antragsgegnerin in Abweichung von dem Bebauungsplan zugelassene intensivere bauliche Nutzung des Baugrundstücks für das Grundstück der Antragsteller hat. Dass diese Auswirkungen die Grenzen des Zumutbaren überschreiten, kann den Ausführungen der Antragsteller nicht entnommen werden und lässt sich auch sonst nicht feststellen.

Entsprechendes gilt, soweit die Antragsteller rügen, dass auch die Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten Zahl der Vollgeschosse nicht hätte erteilt werden dürfen. Die Beteiligten stimmen darin überein, dass diese Festsetzung des Bebauungsplans ebenfalls keine nachbarschützende Wirkung hat. Es kommt daher auch insoweit nur darauf an, ob mit der Zulassung eines vierten Vollgeschosses für die Antragsteller unzumutbare Nachteile verbunden sind. Das Vorbringen der Antragsteller ist auch in dieser Richtung unergiebig. Dass eine viergeschossige Bebauung stärkere Auswirkungen auf die Besonnung, Belichtung und Belüftung ihres Grundstücks hat als eine nur dreigeschossige, mag zutreffen. Unzumutbare Beeinträchtigungen sind damit jedoch nicht dargetan. Für Beeinträchtigungen dieser Art ist auch sonst nichts zu erkennen, zumal die obersten Geschosse der beiden geplanten Gebäude gegenüber den darunter liegenden Geschossen zurückversetzt sind. 2. Die Antragsteller wenden sich jedoch zu Recht gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, ein sie in ihren Rechten verletzender Verstoß gegen die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften liege ebenfalls nicht vor.

Die dem Grundstück der Antragsteller zugewandte nördliche Außenwand des im westlichen Teil des Baugrundstücks geplanten Gebäudes A weist einen 4,44 m breiten Vorsprung auf, der um 1,50 m bzw. 1,68 m vor die übrige Außenwand tritt und einen Abstand von (nur) 2 m zum Grundstück der Antragsteller einhält. Das Verwaltungsgericht sieht in diesem Vorsprung einen Vorbau im Sinn des § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO und meint deshalb, dass dieser bei der Bemessung der Abstandsfläche außer Betracht zu bleiben habe. Darauf, dass der betreffende Teil der Außenwand auf der Ostseite um mehr als 1,5 m vortrete, komme es nicht an, da die entsprechende Forderung in § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO keine nachbarschützende Wirkung habe, wenn der Grenzabstand von 2 m eingehalten sei. Das wird von den Antragstellern zu Recht angegriffen.

Nach § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO bleiben Vorbauten wie Wände, Erker, Balkone, Tür- und Fenstervorbauten bei der Bemessung der Abstandsfläche außer Betracht, wenn sie nicht breiter als 5 m und nicht mehr als 1,5 m, bei Wänden mit lichtdurchlässigen Baustoffen nicht mehr als 2 m vortreten und von den Nachbargrenzen mindestens 2 m entfernt bleiben. Ob dem Verwaltungsgericht darin zu folgen ist, dass das Erfordernis, ein Vorbau dürfe nicht mehr als 1,5 m vortreten, allgemein nicht nachbarschützend ist, kann dahinstehen. Der Umstand, dass der genannte Wandvorsprung auf der Ostseite 1,68 m und damit mehr als dieses Maß vor die sich in diese Richtung anschließende Außenwand tritt, ist jedenfalls deshalb als unschädlich anzusehen, weil sich diese Überschreitung nur daraus ergibt, dass dieser Teil der Außenwand gegenüber ihrem westlichen Teil um 0,18 m zurückversetzt ist. Würde die sich nach Osten an den Wandvorsprung anschließende Teil der Außenwand um eben dieses Maß vorgerückt, wären somit die in § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO genannten Abmessungen eingehalten. Wie die Beigeladene zu Recht bemerkt, wäre damit aber für die Antragsteller keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung verbunden. Das Verlangen in § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO, dass ein Vorbau nicht mehr als 1,5 m vortreten dürfe, ist jedenfalls in einem solchen Fall als nicht nachbarschützend anzusehen (vgl. Senatsurteil v. 24.7.1998 - 8 S 1306/98 - VBlBW 1999, 64).

Die Antragsteller sind jedoch zu Recht der Ansicht, dass es sich bei dem Vorsprung, den die ihrem Grundstück zugewandte nördliche Außenwand des Gebäudes A aufweist, nicht um einen Vorbau im Sinn des § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO handelt. Durch die Einfügung des Begriffs "Wände" in die beispielhafte Aufzählung der Vorbauten in dieser Vorschrift kommt zwar zum Ausdruck, dass Vorbauten nicht oberhalb der Erdoberfläche oder unterhalb des Daches enden müssen, wie es in der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg zu § 6 Abs. 4 S. 6 LBO a. F. angenommen wurde, sondern sich über die gesamte Gebäudehöhe erstrecken können (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 6.9.1996 - 5 S 2049/96 - VBlBW 1997, 144). Auch für den Begriff des Vorbaus im Sinn der heutigen Regelung gilt jedoch, dass er dem hinter ihm liegenden Gebäude zu- und untergeordnet sein muss. Ein vor die Außenwand gesetzter Bauteil fällt danach jedenfalls im Grundsatz nur dann unter diesen Begriff, wenn er diese Wand nicht überragt. Diese Einschränkung ist auch deshalb erforderlich, weil sonst die Gefahr bestünde, dass durch eine entsprechende Gestaltung des Gebäudes die Regelungen über die Abstandsflächen zum Nachteil des Grundstücksnachbarn unterlaufen werden. Der hier in Rede stehende Gebäudeteil kann demnach nicht mehr als Vorbau angesehen werden, da er die hinter ihm liegende Außenwand um 0,95 bis 1,9 m überragt. Dass die Traufhöhe des - zurückversetzten - obersten Geschosses die Höhe dieses Gebäudeteil ihrerseits um ca. 0,5 bis 1,5 m übersteigt, ändert daran nichts.

Greift § 5 Abs. 6 Nr. 2 LBO somit nicht ein, so ist der Gebäudeteil als Wandabschnitt zu beurteilen, vor dem eine nach den allgemeinen Regeln zu berechnende Abstandsfläche liegen muss. Der nachbarschützende Teil dieser Abstandsfläche beträgt (9,3 m x 0,4 =) 3,72 m und wird somit von dem nur 2 m von der Grenze zum Grundstück der Antragsteller entfernten Gebäudeteil deutlich unterschritten.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 1, 159 S. 2 und 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 13 Abs. 1 S. 1 GKG.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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