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Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 14.03.2007
Aktenzeichen: 8 S 1921/06
Rechtsgebiete: BauGB
Vorschriften:
BauGB § 12 | |
BauGB § 31 Abs. 2 |
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil
Verkündet am 14.03.2007
In der Verwaltungsrechtssache
wegen Erteilung einer Baugenehmigung
hat der 8. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 09. März 2007
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 19. Januar 2006 - 12 K 475/05 - geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 25. August 2004 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die mit Schreiben vom 11. Juni 2004 beantragte Baugenehmigung zur Erweiterung der Verkaufsfläche innerhalb ihres bestehenden Einzelhandelsbetriebs in Kirchheim/Teck, Schlierbacher Straße 49, zu erteilen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren wird für notwendig erklärt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin erstrebt eine Baugenehmigung für die Erweiterung der Verkaufsfläche eines Lebensmittelmarkts.
Sie betreibt auf dem im Nordosten des Stadtgebiets der Beklagten gelegenen Grundstück Schlierbacher Straße 49 einen von der Beklagten im Jahre 2001 genehmigten Lebensmittelmarkt. Das eingeschossige Gebäude enthält einen 47,35 m x 17,30 m großen Verkaufsraum; die übrige Fläche wird in erster Linie als Lager genutzt.
Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des vorhabenbezogenen Bebauungsplans "Wangergasse" der Beklagten vom 20.6.2001, der es als Mischgebiet ausweist. Gemäß dem dazu geschlossenen Durchführungsvertrag sei "somit hier von der baurechtlichen Zulässigkeit eines Lebensmittelmarkts bis maximal 800 m2 Verkaufsfläche und 1.200 m2 Geschossfläche auszugehen".
Die Klägerin möchte eine 3,25 m x 17,00 m (= 55,25 m2) große Teilfläche, die bisher als Lager genutzt wurde, in den Verkaufsraum einbeziehen und stellte unter dem 11.6.2004 einen entsprechenden Bauantrag. Die Beklagte lehnte dieses Vorhaben am 25.8.2004 mit der Begründung ab, es widerspreche dem Bebauungsplan. Diesem lägen Pläne zugrunde, in denen eine Verkaufsfläche von 781 m2 ausgewiesen sei. Nach der Begründung des Bebauungsplans solle eine Verkaufsfläche für einen Discount-Markt bis 800 m2 zugelassen werden. Mit der beabsichtigten Nutzung eines Teils der bisherigen Lagerfläche als Verkaufsfläche werde die gesamte Verkaufsfläche auf 831 m2 erhöht und damit gegen den Bebauungsplan verstoßen. Befreiungsgründe im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB seien nicht erkennbar.
Gegen diesen ablehnenden Bescheid legte die Klägerin am 13.9.2004 Widerspruch ein und trug vor, ihr Vorhaben sei selbst dann zulässig, wenn man davon ausgehe, dass die Einpackzone von 39 m2 der Verkaufsfläche hinzuzurechnen sei. Zwar sei dann die im Bebauungsplan festgesetzte maximale Verkaufsfläche um 37 m2 überschritten, sie habe jedoch einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Befreiung. Insbesondere würden durch diese Überschreitung die Grundzüge der Planung nicht berührt, weil die zu schützende Infrastruktur der Stadt in keiner Weise betroffen werde. Erforderlichenfalls werde dies durch ein noch vorzulegendes Gutachten (z. B. der GMA Ludwigsburg) belegt. Das Befreiungsermessen sei auf Null reduziert. Dieser Widerspruch blieb unbeschieden.
Am 1.2.2005 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Stuttgart mit dem Antrag Klage erhoben, die Beklagte unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheids zu verpflichten, die beantragte Baugenehmigung zu erteilen. Sie hat darauf verwiesen, die der streitigen Verkaufsstätte zukommende Nahversorgungsfunktion komme sinnfällig dadurch zum Ausdruck, dass sie auf ausdrückliche Bitte der Beklagten eine fußläufige Verbindung zu dem unmittelbar angrenzenden Wohngebiet geschaffen habe.
Die Beklagte ist der Klage entgegen getreten. Der Vorhaben- und Erschließungsplan der Klägerin sei gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 BauGB Bestandteil des Bebauungsplans. Im Teilplan "Grundriss" sei die zulässige Verkaufsfläche definiert als "Verkaufsraum mit einer Nutzfläche von 799,85 m2." Entsprechend seiner Rechtsnatur als vorhabenbezogener Bebauungsplan erschöpfe er sich in der Zulassung eines bestimmten Vorhabens. Modifikationen bedürften neuer planungsrechtlicher Rechtfertigung. Die Aufstockung auf eine Verkaufsfläche von 831 m2 sei daher durch den Bebauungsplan nicht gedeckt und bedürfe neuer planerischer Zulassung. Im Übrigen seien weder Anhaltspunkte für eine betriebliche noch für eine städtebauliche Atypik erkennbar, die ein Abweichen von der Regelvermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO zuließen.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 19.1.2006 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Klage sei als Untätigkeitsklage zulässig, in der Sache aber nicht begründet. Der Bebauungsplan "Wangergasse" erlaube nur eine Verkaufsfläche von 800 m2 und dieses Maß werde durch die von der Klägerin beabsichtigte Nutzung eines Teils des bisherigen Lagerraums als Verkaufsfläche überschritten. Da der Vorhaben- und Erschließungsplan, der Bebauungsplan und der Durchführungsvertrag aufeinander abgestimmt sein müssten und sich nicht widersprechen dürften, sei fraglich, ob eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans strukturell in Betracht komme. Dies bedürfe aber keiner abschließenden Klärung, da die Befreiungsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht vorlägen, weil die von der Klägerin beanspruchte Abweichung von den Vorgaben des Bebauungsplans die Grundzüge der Planung berühre. Die für die zulässige Verkaufsfläche geltende Grenze von 800 m2 sei nicht als mehr oder weniger beliebige Zahl "gegriffen", sondern eine für die Plankonzeption der Beklagten wesentliche Regelung, von der eine Befreiung nicht erteilt werden könne.
Hiergegen richtet sich die vom Senat mit Beschluss vom 17.8.2006 - 8 S 483/06 - zugelassene Berufung der Klägerin, mit der sie beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 19. Januar 2006 - 12 K 475/05 - zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 25. August 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die mit Schreiben vom 11. Juni 2004 beantragte Baugenehmigung zur Erweiterung der Verkaufsfläche innerhalb ihres bestehenden Einzelhandelsbetriebs in Kirchheim/Teck, Schlierbacher Straße 49, zu erteilen sowie die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren für notwendig zu erklären.
Sie macht geltend: Auch ein vorhabenbezogener Bebauungsplan sei einer Befreiungsentscheidung zugänglich. Der Gesetzgeber habe in § 12 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 4 BauGB die Anwendung bestimmter planungsrechtlich relevanter Vorschriften ausgeschlossen, nicht jedoch die Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB. Hinzu komme, dass die "Abstimmung" zwischen Vorhabenträger und planender Gemeinde im vorliegenden Fall lediglich darin bestanden habe, dass die Beklagte eine maximale Verkaufsfläche von 800 m2 verbindlich vorgegeben habe. Es bestehe deshalb im Hinblick auf Befreiungsmöglichkeiten kein Unterschied zu einem "normalen" Bebauungsplan, der diese Vorgabe durch die Festsetzung eines Baugebiets mache. Die Sachverhalte seien deshalb identisch zu beurteilen. Städtebaulich relevante Gesichtspunkte, die es rechtfertigen könnten, die beantragte Befreiung zu verweigern, seien nicht gegeben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie erwidert: Im Falle eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans könne der Tatbestand des § 31 Abs. 2 BauGB schon deshalb nicht erfüllt sein, weil er nur eine Befreiung von einzelnen Festsetzungen eines Bebauungsplans erlaube, die Zulässigkeit eines Vorhabens im Geltungsbereich eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans aber nach § 30 Abs. 2 BauGB voraussetze, dass es dem Bebauungsplan schlechthin nicht widerspreche. Diese unterschiedliche Formulierung berücksichtige, dass ein vorhabenbezogener Bebauungsplan einerseits keine Festsetzungen im Sinne des § 9 BauGB treffen müsse und er andererseits von dem Katalog dieser Bestimmung unabhängige Vorgaben enthalten könne. Für § 30 Abs. 2 BauGB gebe es keine seinen Wortlaut aufgreifende Befreiungsvorschrift. Eine analoge Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB verbiete sich schon deshalb, weil diese Bestimmung keine geeigneten Maßstäbe für Abweichungen von Zulässigkeitsvorgaben enthalten könne, die nicht aus dem Festsetzungskatalog des § 9 BauGB stammten. § 12 Abs. 3 Satz 2 BauGB sei schrankenlos formuliert, dem entsprechend ließen sich allgemeine Voraussetzungen für die Zulassung von Abweichungen schwerlich aufstellen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die vorliegenden Akten und die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die - aufgrund ihrer Zulassung im Beschluss des Senats vom 17.8.2006 statthafte und auch im Übrigen zulässige - Berufung ist begründet, denn die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrte Abweichung von den Vorgaben des Bebauungsplans "Wangergasse". Die Vorschriften über Befreiungen von Bebauungsplänen in § 31 Abs. 2 BauGB sind auf vorhabenbezogene Bebauungspläne im Sinne des § 12 BauGB anwendbar (nachfolgend 1.), die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung liegen vor (nachfolgend 2.) und das Befreiungsermessen ist auf Null reduziert (nachfolgend 3.).
1. Der Senat bejaht die vom Verwaltungsgericht aufgeworfene, letztlich aber offen gelassene Frage, ob auch vorhabenbezogene Bebauungspläne einer Befreiung nach den Bestimmungen des § 31 Abs. 2 BauGB zugänglich sind. Der Gesetzeswortlaut steht einer Anwendung dieser Vorschrift nicht entgegen. Denn § 12 Abs. 3 BauGB führt - worauf die Klägerin zutreffend hinweist - eine Reihe von Bestimmungen an, die keine Anwendung finden; § 31 BauGB gehört jedoch nicht dazu. Auch der Wortlaut des § 30 Abs. 2 BauGB weist - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht in die gegenteilige Richtung. Es trifft zwar zu, dass hier - anders als in § 30 Abs. 1 BauGB - nicht von "Festsetzungen" die Rede ist, sondern von "dem Bebauungsplan", dem das Vorhaben nicht widersprechen darf. Das erklärt sich aber daraus, dass ein vorhabenbezogener Bebauungsplan nach § 12 Abs. 3 BauGB nicht notwendig Festsetzungen (im Sinne des § 9 BauGB und der BauNVO) enthalten muss. Ferner überzeugt das weitere Vorbringen der Beklagten nicht, § 31 Abs. 2 BauGB enthalte keine geeigneten Maßstäbe für die Beurteilung von Abweichungen und allgemeine Voraussetzungen ließen sich schwerlich aufstellen, denn die Voraussetzungen für Ausnahmen und Befreiungen ergeben sich aus § 31 BauGB und nicht aus dem Festsetzungskatalog des § 9 BauGB. Auch der Sache nach erscheint es nicht gerechtfertigt, jede noch so kleine Abweichung von einem vorhabenbezogenen Bebauungsplan unter den Vorbehalt einer Planänderung zu stellen. Eine solche Inflexibilität würde dieses Instrument städtebaulicher Planung in nicht unerheblichem Umfang seiner Vorteile berauben, weil Investoren befürchten müssten, notwendige Änderungen bei der Detailplanung ihrer Vorhaben durch ein - auch unter Berücksichtigung des vereinfachten Verfahrens nach § 13 BauGB - zähes Bauleitplanverfahren schleusen zu müssen. Schließlich besteht aufgrund der Einbindung des Vorhaben- und Erschließungsplans in den Bebauungsplan (§ 12 Abs. 3 Satz 1 BauGB) auch keine Notwendigkeit für eine restriktive Auslegung des § 31 BauGB. Denn Übereinstimmung muss nur auf der Planungsebene herrschen. Auf der Genehmigungsebene besteht dagegen kein prinzipieller Unterschied zu "normalen" Bebauungsplänen. Die Besonderheit besteht lediglich darin, dass nicht nur von der gemeindlichen Bauleitplanung, sondern auch vom Vorhaben- und Erschließungsplan abgewichen wird. Es gibt aber keinen Grund, den Investor in einem solchen Plangebiet nur deshalb schlechter zu stellen, weil seine Planungen mit denjenigen der Gemeinde "abgestimmt" sind. Ebenso wie demjenigen, der in einem "normalen" Plangebiet bauen möchte, muss es ihm möglich sein, von den zunächst einvernehmlich getroffenen planerischen Entscheidungen abzuweichen, wenn die Voraussetzungen für die Zulassung einer solchen Abweichung vorliegen. Es kann ihm nicht zum Schaden gereichen, dass er sich damit auch von seinen eigenen ursprünglichen Planungsvorstellungen distanziert, die im Vorhaben- und Erschließungsplan ihren Niederschlag gefunden hatten. Dementsprechend geht die Kommentarliteratur - soweit ersichtlich - einhellig davon aus, dass von vorhabenbezogenen Bebauungsplänen Ausnahmen und Befreiungen erteilt werden können (vgl. die Zitate auf S. 6 des angefochtenen Urteils; ebenso ausdrücklich: Gaentzsch, in: Berliner Kommentar zum BauGB, 3. Aufl. 2002, § 31 RdNr. 3; auch Rieger, in Schrödter, BauGB, 7. Aufl. 2006, § 31 RdNr. 4, schließt dies nicht aus). Schließlich hält ersichtlich auch das Bundesverwaltungsgericht § 31 Abs. 2 BauGB auf vorhabenbezogene Bebauungspläne grundsätzlich für anwendbar, denn es erwähnt in diesem Zusammenhang die Grenzen für die Zulassung einer Abweichung, ohne den Rückgriff auf diese Bestimmung prinzipiell auszuschließen (Beschluss vom 23.6.2003 - 4 BN 7.03 - BauR 2004, 975).
2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des sonach anwendbaren § 31 Abs. 2 BauGB liegen vor.
a) Das Verwaltungsgericht nimmt an, eine Befreiung sei ausgeschlossen, weil sie die Grundzüge der Planung berühren würde. Denn die Festlegung einer Grenze von 800 m2 für die Verkaufsfläche des zugelassenen Marktes sei nicht "gegriffen", sondern bewusst zur Verdeutlichung der Schwelle zur Großflächigkeit gewählt worden. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.
Durch das Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der Planung soll sichergestellt werden, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans nicht beliebig durch Verwaltungsakte außer Kraft gesetzt werden können. Die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach den §§ 1 Abs. 8, 2 Abs. 1 BauGB unverändert der Gemeinde und nicht der Baurechtsbehörde. Diese Regelung darf deshalb nicht durch eine großzügige Befreiungspraxis aus den Angeln gehoben werden. Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf - jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind - nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (BVerwG, Beschluss vom 5.3.1999 - 4 B 5.99 - NVwZ 1999, 1110; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.6.2003 - 3 S 2324/02 - VBlBW 2003, 438; Urteil des Senats vom 2.11.2006 - 8 S 361/06 -). Umgekehrt wird diese Grenze für die Erteilung einer Befreiung nicht überschritten, wenn die Abweichung von Festsetzungen, die für die Grundzüge der Planung maßgeblich sind, nicht ins Gewicht fällt oder wenn die Festsetzung, von der abgewichen werden soll, eher "zufällig" bzw. "isoliert" erfolgt ist oder diese Planvorgabe auf einer Annahme beruht, die später entfallen ist (Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Bd. 2, § 31 RdNrn. 36 und 38).
Nach keiner dieser Deutungsvarianten sind im vorliegenden Fall die Grundzüge der Planung berührt. Der Gesichtspunkt der planungsrechtlichen Beliebigkeit, weil sich in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle dieselben Gründe für eine Befreiung anführen ließen, kann hier nicht zum Tragen kommen, weil der Bebauungsplan als einzigen wesentlichen Regelungsgegenstand nur die Zulassung des Marktes der Klägerin umfasst und es weitere Einzelhandelsbetriebe auf einer vergleichbaren planungsrechtlichen Grundlage im Gemeindegebiet der Beklagten nach Auskunft ihrer Vertreter in der mündlichen Verhandlung nicht gibt. Die Abweichung von der vorgegebenen Verkaufsfläche von 800 m2 fällt auch nicht ins Gewicht, denn mit ihr soll keine Erweiterung des Sortiments verbunden sein und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Einbeziehung einer bisherigen Lagerfläche mit einer Größe von etwa 55 m2 in den Verkaufsbereich die Plankonzeption der Beklagten grundlegend in Frage stellen würde. Denn sie hat durch die Festschreibung einer Grenze von 800 m2 zwar ersichtlich die Schwelle zur Großflächigkeit verdeutlichen wollen und sich dabei - wie ihre Vertreter in der mündlichen Verhandlung erläutert haben - von der Regelgrenze einer Geschossfläche von 1200 m2 in § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO leiten lassen. Da durch das streitige Erweiterungsvorhaben der Klägerin die Geschossfläche des Marktes aber nicht geändert wird, bleibt dieser Ausgangspunkt der Beklagten unangetastet. Deshalb spricht nichts für die Annahme, die Ausweitung der Verkaufsfläche um etwa 7 % könne derart tief in das Interessengeflecht der Abwägung eingreifen, dass die Grundzüge der Planung nicht mehr gewahrt wären.
Es kommt hinzu, dass die Beklagte, wenn sie sich schon an der Geschossflächengrenze von 1200 m2 in § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO orientierte, die maximale Verkaufsfläche nicht starr festlegen durfte. Denn dabei handelt es sich lediglich um eine Vermutungsregel für die in § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO aufgeführten Auswirkungen, die aber nach § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO widerlegbar ist. Anhaltspunkte dafür, dass trotz Beibehaltung der Geschossfläche allein durch die Erhöhung der Verkaufsfläche um etwa 7 % aus dem bisher auch nach Auffassung der Beklagten "unbedenklichen" Lebensmittelmarkt ein etwa in Ansehung seiner negativen Auswirkungen auf die Entwicklung der zentralen Versorgungsbereiche in der Kernstadt nicht mehr hinnehmbarer Einzelhandelsgroßbetrieb entstehen könnte, sind nicht ersichtlich und konnten auch von den Vertretern der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht angeführt werden. Im Übrigen hat die Klägerin im Verlauf des Verfahrens mehrfach angeboten, durch Einholung eines Gutachtens (z. B. der Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung in Ludwigsburg) zu belegen, dass die Ausweitung der Verkaufsfläche die zu schützende Infrastruktur der Stadt nicht beeinträchtige. Hätte die Beklagte - entgegen dem vorstehend Ausgeführten - doch Anhaltspunkte dafür gesehen, dass dies der Fall sein könnte, hätte sie die Klägerin zur Beibringung eines derartigen Gutachtens anhalten müssen. Der Senat sieht nach Aktenlage und nach den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung keine Veranlassung, eine entsprechende sachverständige Äußerung einzuholen oder von der Klägerin beibringen zu lassen.
Dies erscheint schließlich auch deshalb nicht geboten, weil die Beklagte ersichtlich bei Erlass des Bebauungsplans "Wangergasse" selbst davon ausgegangen ist, dass die Infrastruktur ihrer Kernstadt auch dann nicht tangiert wird, wenn in dem eher peripher gelegenen Plangebiet ein Lebensmittelmarkt zugelassen wird, der eine größere Verkaufsfläche aufweist als der bundesweit anerkannte Typ eines die Grenze zur Großflächigkeit nicht übersteigenden Einzelhandelsbetriebs der wohnungsnahen Versorgung. Das ergibt sich aus folgendem: Ausgehend von mehreren Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.5.1987 (u. a. - 4 C 19.85 - BauR 1987, 528; - 4 C 30.86 - VBlBW 1988, 130, dazu: Birk, VBlBW 1988, 281 ff.) hat die Rechtsprechung nahezu einhellig bis in das Jahr 2005 angenommen, dass nach dem Einkaufsverhalten der Bevölkerung und den Gegebenheiten im Einzelhandel die Verkaufsflächen-Obergrenze für Einzelhandelsbetriebe der wohnungsnahen Versorgung "nicht wesentlich unter 700 m2, aber auch nicht wesentlich darüber" liege (so etwa noch: BVerwG, Beschluss vom 22.7.2004 - 4 B 29.04 - DVBl. 2004, 1308; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.7.2004 - 5 S 1205/03 - VBlBW 2005, 67; Urteil vom 16.6.2005 - 3 S 479/05 - BauR 2006, 486). Vor diesem Hintergrund lässt die Entscheidung der Beklagten, in dem Bebauungsplan "Wangergasse" vom 20.6.2001 trotz Festsetzung eines Mischgebiets "von der baurechtlichen Zulässigkeit eines Lebensmittelmarkts bis maximal 800 m2 Verkaufsfläche und 1.200 m2 Geschossfläche auszugehen", nur den Schluss zu, dass sie aufgrund örtlicher Besonderheiten die kritische Grenze erst bei einer gegenüber dem Bundesdurchschnitt um etwa 100 m2 höheren Verkaufsfläche gesehen hat. In den letzten Jahren hat sich aber der Anteil der Verkaufsflächen an den Geschossflächen von Einzelhandelsbetrieben typischerweise erhöht und der Anteil der Lagerflächen wegen der "Lagerhaltung auf der Straße" verringert, ohne dass sich daraus eine Verstärkung der Auswirkungen auf zentrale Lagen ergeben hätte. Dem hat das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 24.11.2005 - 4 C 10.04 - BVerwGE 124, 364 und - 4 C 14.04 - BVerwGE 124, 376; dem folgend: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 10.7.2006 - 3 S 2309/05 - VBlBW 2006, 433; vgl. auch: Birk, VBlBW 2006, 289 ff.; Schütz, UPR 2006, 169 ff.) Rechnung getragen und die Grenze der Verkaufsflächengröße, ab der von einem großflächigen Einzelhandelsbetrieb im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO auszugehen ist, bei 800 m2 gezogen. Vor diesem Hintergrund kann nur angenommen werden, dass aufgrund dieser allenthalben zu konstatierenden Verschiebung der Verkaufsflächen- und Lagerflächenanteile für den Bereich der Beklagten die kritische Grenze auch heute mehr oder weniger deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt. Da diese Schwelle nach den genannten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.11.2005 nunmehr bei (exakt) 800 m2 anzunehmen ist, muss davon ausgegangen werden, dass eine Überschreitung der im Bebauungsplan mit derselben Maßzahl vorgegebenen maximalen Verkaufsfläche - ohne Abzug für Putz und ohne Herausrechnung der Einpackzone und des Windfangs - um etwa 50 m2, wie sie die Klägerin beantragt hat, innerhalb der die allgemeine Schwelle übersteigenden Bandbreite bleibt, die die Beklagte nach ihren Planungsvorstellungen hinnehmen wollte. Auch unter diesem Gesichtspunkt sind deshalb die Grundzüge der Planung gewahrt.
b) Die Befreiung ist auch städtebaulich vertretbar im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB. Voraussetzung dafür ist, dass die Abweichung mit einer geordneten städtebaulichen Entwicklung entsprechend § 1 BauGB vereinbar ist und deshalb zulässiger Inhalt eines Bebauungsplans sein könnte (BVerwG, Urteil vom 17.12.1998 - 4 C 16.97 - BVerwGE 108, 190; Urteil vom 19.9.2002 - 4 C 13.01 - BVerwGE 117, 50; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Bd. 2, § 31 RdNr. 47 m.w.N.). Daran kann im vorliegenden Fall aber kein Zweifel bestehen. Denn die Beklagte könnte unter Berücksichtigung dessen, dass sie bei einem vorhabenbezogenen Bebauungsplan nicht an die Vorgaben des § 9 BauGB und der BauNVO gebunden ist, auch eine Verkaufsfläche von 850 m2 ausdrücklich zulassen. Anhaltspunkte dafür, dass die Vergrößerung der Verkaufsfläche um etwa 50 m2 ohne Sortimentserweiterung gegen einen der Grundsätze des § 1 BauGB verstoßen könnte, sind dagegen weder vorgetragen noch ersichtlich.
3. Da somit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB für eine Befreiung vorliegen, hat die Klägerin auch einen Rechtsanspruch auf die begehrte Genehmigung. Das der Baurechtsbehörde bei der Erteilung einer Befreiung auf der Rechtsfolgenseite ansonsten zustehende Ermessen ist vorliegend ausnahmsweise auf Null reduziert.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen gegeben sind. Auch bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung besteht grundsätzlich kein Rechtsanspruch auf sie; vielmehr hängt die Befreiung von einer Ermessensentscheidung ab. Sind die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung gegeben, besteht für die Ausübung des Ermessens allerdings wenig Raum und steht das mit der Befreiungsvorschrift vom Gesetzgeber beabsichtigte Ziel der Einzelfallgerechtigkeit und städtebaulichen Flexibilität sowie der Grundsatz der Wahrung der Verhältnismäßigkeit einer leichtfertigen Ermessensausübung entgegen. Daraus folgt jedoch nicht, dass der zuständigen Behörde entgegen dem Wortlaut der Vorschrift kein Ermessensspielraum zusteht oder dass das Ermessen stets auf Null reduziert ist, wenn die Voraussetzungen für eine Befreiung vorliegen. Erforderlich für eine negative Ermessensentscheidung ist nur, dass der Befreiung gewichtige Interessen entgegenstehen (BVerwG, Urteil vom 19.9.2002, a.a.O.; Urteil vom 4.7.1986 - 4 C 31.84 - BVerwGE 74, 315). Kommen dagegen bei einem Bauvorhaben, das den Festsetzungen eines Bebauungsplans widerspricht, bei dem aber die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Befreiung erfüllt sind, für die Gemeinde Nachteile durch eine Zulassung des Vorhabens nicht in Betracht, so kann sich das ihr zustehende Ermessen dahin verdichten, dass sie zur Erteilung einer Befreiung verpflichtet ist (BGH, Urteil vom 23.9.1993 - 3 ZR 54.92 - DVBl. 1994, 278; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.3.2004 - 3 S 1745/02 -). Denn in diesen Fällen ist wegen des Umfangs der Anwendungsvoraussetzungen für die Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB der Spielraum für zusätzliche Erwägungen bei Ausübung des Ermessens tendenziell gering, so dass sich die Ermessensausübung im Einzelfall auf Null reduzieren kann (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.6.2003 - 3 S 2324/02 - VBlBW 2003, 438).
So liegt es hier. Gewichtige öffentliche Belange, die der Erteilung der Befreiung im Ermessenswege entgegenstehen könnten, sind nicht gegeben. Die vorliegende Entscheidung eignet sich auch nicht als Berufungsfall für andere Vorhaben. Sie beruht auf den Besonderheiten des konkreten Einzelfalls, die sich daraus ergeben, dass zum einen negative städtebauliche Auswirkungen nicht zu erwarten sind, es zum anderen um die Erweiterung eines vorhandenen und nicht um die Erstellung eines neuen Betriebes geht und schließlich - wie bereits angeführt - im Stadtgebiet der Beklagten keine Einzelhandelsbetriebe auf vergleichbarer planungsrechtlicher Grundlage existieren, die sich im Falle von Erweiterungswünschen auf die vorliegende Entscheidung stützen könnten. Nach alledem ist vorliegend ausnahmsweise von einer Ermessensreduktion auf Null auszugehen. Zur Klarstellung ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Beklagte durch dieses Verpflichtungsurteil nicht daran gehindert wird, Anforderungen, die die grundsätzliche Zulässigkeit der Markterweiterung nicht in Frage stellen (z. B. bau- oder brandschutzrechtlicher Art), durch die Erteilung von Auflagen Rechnung zu tragen.
Nach allem ist der Berufung der Klägerin mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren ist für notwendig zu erklären (§ 162 Abs. 2 VwGO), da diese Frage vom Standpunkt einer verständigen Partei aus und nicht aus der Sicht einer rechtskundigen Person zu beurteilen ist (BVerwG, Urteil vom 6.12.1963 - VII C 14.63 - BVerwGE 17, 245). Einem Rechtsunkundigen wäre es aber angesichts der Komplexität des Falles unmöglich gewesen, das Vorverfahren ordnungsgemäß einzuleiten und zu betreiben.
Gründe für eine Zulassung der Revision (vgl. § 132 Abs. 2 VwGO) sind nicht gegeben.
Beschluss
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nr. 9.1.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2004 (VBlBW 2004, 467) auf EUR 8.250,-- festgesetzt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Ende der Entscheidung
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