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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 21.10.2002
Aktenzeichen: 9 S 1790/02
Rechtsgebiete: ARB, VwGO, ZPO, LVwVfG


Vorschriften:

ARB Nr. 3/80 Art. 3 Abs. 1
VwGO § 114
VwGO § 166
ZPO § 114
LVwVfG § 48
LVwVfG § 51
1. Ob die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Einbeziehung türkischer Staatsangehöriger in den Kreis der Anspruchsberechtigten für Landeserziehungsgeld der nachträglichen Änderung der Rechtslage gleichzustellen ist, welche dazu berechtigt, von der Behörde die Entscheidung über die Wiederaufnahme negativ abgeschlossener Bewilligungsverfahren zu verlangen, bleibt offen.

2. Der Grundsatz der effektiven Durchsetzung des Europarechts verbietet der Behörde nicht, die Wiederaufnahme negativ abgeschlossener Bewilligungsverfahren nach Ermessen abzulehnen, weil dies die öffentlichen Haushalte rückwirkend mit einer Fülle nicht eingeplanter Mehrausgaben belaste.


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

9 S 1790/02

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Landeserziehungsgeld hier: Prozesskostenhilfe

hat der 9. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Schwan, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Prof. Dr. Rennert und den Richter am Verwaltungsgericht Reimann

am 21. Oktober 2002

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Juli 2002 - 1 K 1370/02 - wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe:

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Mit Recht hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Klägerin abgelehnt, ihr Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug zu bewilligen; denn ihre Klage ist ohne Aussicht auf Erfolg (§ 166 VwGO, § 114 ZPO).

Allerdings ist der Klägerin zuzugeben, dass die Prüfung der Erfolgsaussicht nicht dazu dienen darf, die Rechtsverfolgung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Einer Klage kann daher in aller Regel hinreichende Erfolgsaussicht dann nicht abgesprochen werden, wenn die Entscheidung über sie von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990 - 2 BvR 94/88 u.a. -; BVerfGE 81, 347 <357, 359>). Die Klägerin wirft dem Verwaltungsgericht jedoch zu Unrecht vor, diese Grundsätze missachtet zu haben. Das Verwaltungsgericht ist in den Gründen des angefochtenen Beschlusses lediglich im einzelnen auf das rechtliche Vorbringen der Klägerin eingegangen. Schwierige Rechtsfragen hat es dabei nicht entschieden. Dass die Klage keine hinreichende Erfolgsaussicht hat, liegt vielmehr auch angesichts des Klägervortrags auf der Hand. Im einzelnen gilt Folgendes:

Die Beklagte hatte einen Antrag der Klägerin auf Gewährung von Landeserziehungsgeld für ihr am 10.02.1998 geborenes Kind mit Bescheid vom 21.01.2000 abgelehnt, der bestandskräftig wurde. Am 03.01.2002 beantragte die Klägerin, das Verfahren wiederaufzugreifen. Das lehnte die Beklagte ab, weil ein Wiederaufgreifensgrund nicht vorliege, jedenfalls aber das Interesse der Allgemeinheit, die ohnehin stark beanspruchten öffentlichen Haushalte nicht zusätzlich mit einer Fülle von nicht eingeplanten Mehrausgaben zu belasten, eine Nachzahlung von Landeserziehungsgeld in bestandskräftig abgeschlossenen Altfällen nicht zulasse. Das war zweifellos rechtmäßig. Zwar mag gestritten werden, ob die vorliegend berührte Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Assoziationsratsbeschluss Nr. 3/80 der nachträglichen Änderung der Rechtslage gleichzustellen ist, welche die Klägerin dazu berechtigte, von der Beklagten die Entscheidung über die Aufhebung oder Änderung des negativen Erziehungsgeldbescheides vom 21.01.2000 zu verlangen (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG). Jedenfalls aber sind die Ermessenserwägungen, mit denen die Beklagte die begehrte Aufhebung oder Änderung des genannten Bescheides vorsorglich ebenfalls abgelehnt hat, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (§ 114 Satz 1 VwGO; vgl. Senat, Beschluss vom 13.06.2002 - 9 S 873/02 -).

Die Klägerin meint, der Grundsatz der effektiven Durchsetzung des Europarechts gebiete im vorliegenden Falle eine Auslegung der §§ 48 ff., 51 LVwVfG, die nur die Wiederaufnahme des bestandskräftig abgeschlossenen Verfahrens und alsdann die rückwirkende Gewährung des begehrten Erziehungsgeldes als rechtmäßig erscheinen lasse. Das ist offensichtlich unrichtig. Der Europäische Gerichtshof selbst hat in seinem Urteil vom 04.05.1999 (- Rs. C-262/96 <Sürül> -, InfAuslR 1999, S. 324), das der Änderung der Rechtsprechung des erkennenden Verwaltungsgerichtshofs (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.02.2001 - 1 S 287/00 -, VBlBW 2001, 407) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 06.12.2001 - 3 C 25.01 -, DVBl 2002, 915) zugrundelag und auf das sich der klägerische Wiederaufnahmeantrag stützt, festgestellt, dass die unmittelbare Wirkung des Artikels 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80 nicht zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor Erlass dieses Urteils geltend gemacht werden könne, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt hätten (Rz. 113). Zur Begründung hat er ausdrücklich zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit angeführt, die es ausschlössen, Rechtsverhältnisse, die vor Erlass dieses Urteils abschließend geregelt waren, in einer Situation wieder in Frage zu stellen, in der dies die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten rückwirkend erschüttern würde (Rz. 111). Genau auf diesen Gesichtspunkt hat sich die Beklagte bei ihrer Weigerung, das bestandskräftig abgeschlossene Verfahren wiederaufzugreifen, berufen.

Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Klägerin das Wiederaufgreifen eines Verfahrens begehrt, das erst nach Erlass des genannten Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 04.05.1999, aber vor Ergehen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 06.12.2001 - negativ - abgeschlossen wurde. Im Gegenteil liegt auf der Hand, dass solchen Anspruchstellern die Bestandskraft des Versagungsbescheides umso eher entgegengehalten werden kann. Das öffentliche Interesse daran, die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit nicht durch eine Vielzahl nachträglich geltend gemachter Leistungsansprüche rückwirkend zu erschüttern, besteht auch in diesen Fällen und ist auch hier gleichermaßen rechtlich anerkennenswert. Umgekehrt aber wiegt das Interesse eines Anspruchstellers, der einen Versagungsbescheid noch nach Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs hat unanfechtbar werden lassen, ungleich geringer als das Interesse eines anderen Anspruchstellers, der sich vor Erlass dieses Urteils so verhalten hatte; denn dieser musste einen Rechtsbehelf für weitgehend aussichtslos halten, während jener um die neue Rechtsprechung bereits wissen konnte.

Ungeklärte Rechtsfragen des Europarechts wirft all dies nicht auf. Dass Art. 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80 unmittelbare Wirkung entfaltet und damit nicht wie eine Richtlinie der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedarf, ist zweifelsfrei. Die Erwägungen der Klägerin, dass der Beklagten das Festhalten an der Bestandskraft des Versagungsbescheides unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Folgen einer pflichtwidrigen Nichtumsetzung von Richtlinien zu verwehren sei, liegen damit neben der Sache und vermögen der Rechtssache keine hinreichende Erfolgsaussicht zu geben; darauf hat das Verwaltungsgericht ausführlich und zutreffend hingewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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