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Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 19.08.2003
Aktenzeichen: 9 S 2398/02
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 42
SGB VIII § 89d
SGB VIII § 89f
1. Die vom örtlichen Träger der Jugendhilfe für die Inobhutnahme eines unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendlichen aufgewendeten Kosten sind durch das vom Bundesverwaltungsamt benannte Land nur insoweit zu erstatten, wie die Inobhutnahme rechtmäßig ist.

2. Eine rechtmäßig begründete Inobhutnahme wird nicht allein dadurch rechtswidrig, dass für den Jugendlichen durch das Familiengericht ein Vormund bestellt wird.

3. Die Inobhutnahme ist eine vorläufige Maßnahme der Krisenintervention und darf weder vom Jugendlichen, noch vom Personensorge- oder Erziehungsberechtigten und auch nicht vom Jugendamt als Lösung erzieherischer Probleme angesehen werden. Das Jugendamt ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass sie alsbald wieder beendet wird.

4. Eine rechtmäßig begründete Inobhutnahme wird in kostenerstattungsrechtlicher Hinsicht regelmäßig nach Ablauf von drei Monaten rechtswidrig.

5. Eine wegen Zeitablaufs rechtswidrig gewordene Inobhutnahme wird in kostenrechtlicher Hinsicht nicht ohne weiteres dadurch wieder rechtmäßig, dass der Amtsvormund einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung für den untergebrachten Jugendlichen stellt.


9 S 2398/02

VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Erstattung von Jugendhilfekosten

für xxxxx xxxxx

hat der 9. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Schwan und die Richter am Verwaltungsgerichtshof Prof. Dr. Rennert und Gaber auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 19. August 2003

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 06. Dezember 2001 - 12 K 3547/00 - geändert.

Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die in der Zeit vom 16. März 1999 bis 20. April 1999 entstandenen Jugendhilfekosten zu erstatten und den Erstattungsbetrag mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24. Juli 2000 zu verzinsen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt 9/10 und der Beklagte 1/10 der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt als Träger der örtlichen Jugendhilfe vom beklagten Land die Erstattung von Jugendhilfekosten für die Inobhutnahme des am 19.09.1983 geborenen ausländischen Jugendlichen R. A.

Der Aufenthalt des unbegleitet eingereisten Jugendlichen in Hamburg wurde am 11.01.1999 festgestellt. Die Klägerin nahm ihn mit Verfügung vom 25.01.1999 rückwirkend ab 20.01.1999 in eine Erstversorgungseinrichtung in Obhut, weil der Minderjährige darum gebeten und die Gefahr der Obdachlosigkeit bestanden habe. Gleichzeitig wurde beim Familiengericht der Antrag auf Bestellung eines Vormundes eingereicht. Mit Beschluss vom 08.03.1999 stellte das Amtsgericht - Familiengericht - das Ruhen der elterlichen Sorge fest, richtete eine Vormundschaft ein und wählte das Jugendamt Hamburg-Wandsbek als Vormund aus. Der Beschluss ging am 15.03.1999 ein.

Auf Antrag der Klägerin vom 28.01.1999 bestimmte das Bundesverwaltungsamt am 08.02.1999 das beklagte Land als Kostenträger.

Am 08.06.1999 beantragte der Vormund mündlich Hilfe zur Erziehung. Diese wurde mit Verfügung vom 04.02.2000 gewährt und zugleich die Inobhutnahme mit diesem Zeitpunkt aufgehoben. Der Jugendliche zog in eine Jugendwohnung um.

Mit Schreiben vom 16.02.1999 bat die Klägerin den Beklagten um Anerkennung der Erstattungspflicht. Diese wurde mit Bescheid vom 09.02.2000 dem Grund nach ausgesprochen für die Zeit der Inobhutnahme vom 20.01. bis 15.03.1999 sowie für die ab 04.02.2000 gewährte Hilfe zur Erziehung. In Aussicht gestellt wurde die Kostenerstattung ab der Beantragung der Hilfe zur Erziehung. Abgelehnt wurde die Kostenerstattungspflicht für die Inobhutnahme nach dem Eingang des Beschlusses des Familiengerichts bis zur Beantragung von Hilfe zur Erziehung.

Am 24.07.2000 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben mit dem Antrag, den Beklagten zu verurteilen, ihr die in der Zeit vom 16.03.1999 bis 03.02.2000 entstandenen Jugendhilfekosten in Höhe von DM 53.693,72 zuzüglich 4 % Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit zu erstatten. Ihrer Ansicht nach endet die Inobhutnahme nicht mit der Bestellung des Amtsvormundes. Jugendhilfeträger und Amtsvormund seien nicht identisch. Ein Amtsvormund könne regelmäßig nicht persönlich die tatsächliche Sorge für sein Mündel übernehmen. Die Inobhutnahme sei bis zur Gewährung von Hilfe zur Erziehung erforderlich gewesen, um eine akute Gefährdung durch Obdachlosigkeit und fehlende Betreuung und Versorgung abzuwenden.

Das Verwaltungsgericht hat, dem Antrag des Beklagten folgend, mit Urteil vom 06.12.2001 die Klage abgewiesen. Die Kostenerstattungspflicht des vom Bundesverwaltungsamt benannten Landes umfasse nur Aufwendungen, die durch rechtmäßige Jugendhilfemaßnahmen entstanden seien. Die Inobhutnahme des unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendliche sei jedoch ab dem 16.03.1999 nicht mehr das zulässige Mittel gewesen, um ihm Hilfe zukommen zu lassen, denn der Grund der Hilfemaßnahme habe allein in dem Umstand gelegen, dass er ohne Personensorge- bzw. Erziehungsberechtigten gewesen sei. Das sei mit der Bestellung des Amtsvormundes entfallen.

Zur Begründung ihrer vom Senat mit Beschluss vom 22.10.2002 zugelassenen Berufung trägt die Klägerin vor: Der Jugendliche sei in der Erstversorgungseinrichtung nicht nur untergebracht, sondern auch beaufsichtigt, erzogen und betreut worden. Im Anschluss an die Inobhutnahme seien Erziehungsmaßnahmen eingeleitet und durchgeführt worden. Diese Sachlage entspräche, mit der Einschränkung, dass hier nicht verspätet der Antrag auf Bestellung eines Vormundes gestellt worden sei, derjenigen im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.06.1999 (- 5 C 24/98 -). Darin sei die Rechtsauffassung der Vorinstanz, des Oberverwaltungsgerichts Münster (Urteil vom 27.08.1998 - 16 A 3477/97 -), gebilligt und bestätigt worden, dass die Inobhutnahme nicht mit der Bestellung eines Amtsvormundes, sondern vielmehr erst mit dem tatsächlichen Einsatz der zuvor beantragten Hilfe zur Erziehung ende.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 06.12.2001 - 12 K 3547/00 - zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die in der Zeit vom 16.03.1999 bis 03.02.2000 entstandenen Jugendhilfekosten zu erstatten, und den Erstattungsbetrag mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24.07.2000 zu verzinsen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er behauptet, der Jugendliche habe nicht um Inobhutnahme gebeten, sondern nur materielle Leistungen erwartet. Deshalb könne der Grund für eine Inobhutnahme allenfalls in dem Umstand gesehen werden, dass er ohne Personensorgeberechtigter gewesen sei. Ein Konflikt zwischen dem Personensorgeberechtigten und dem Jugendlichen bestehe daher nicht. Deshalb stelle sich bereits die Frage, ob hier § 42 SGB VIII als Rechtsgrundlage für die Erstversorgung unbegleiteter Flüchtlingskinder überhaupt anwendbar sei. Wenn aber alleiniger Grund der Inobhutnahme die fehlende gesetzliche Vertretung des Jugendlichen gewesen sei und sein soll, so sei folgerichtig mit der Vormundbestellung der Maßnahmegrund weggefallen und die Inobhutnahme damit beendet. Im Übrigen habe während der Zeit der in Inobhutnahme der Vormund hinreichend Gelegenheit besessen, abzuklären, ob Maßnahmen der Jugendhilfe erforderlich seien, so dass deren Fortdauer nicht notwendig gewesen sei. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Vertreter des Beklagten, die Inobhutnahmekosten würden entgegen der früheren Verwaltungspraxis nicht mehr ab dem Stellen des Antrags auf Hilfe zur Erziehung geleistet. Hierfür gebe es keinen Grund. Erst für die tatsächlich gewährte Hilfe zur Erziehung werde, sofern die übrigen Voraussetzungen vorlägen, eine Kostenübernahmeerklärung abgegeben.

Dem Senat liegen die einschlägigen Akten der Klägerin, der Beklagten und des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird diese Akten und die im Berufungszulassung- und Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze der Beteiligten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige Berufung der Klägerin ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Klägerin steht für den dort genannten Zeitraum ein Anspruch auf Erstattung der ihr entstandenen Jugendhilfekosten durch den Beklagten zu. In diesem Umfang hat sie auch einen Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen.

Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin auf Kostenerstattung ist § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der ab 01. Juli 1998 geltenden Fassung (BGBl. I S. 3546), da die Maßnahme der Jugendhilfe, für die Kostenersatz begehrt wird, nach diesem Zeitpunkt begonnen hat (§ 89h Abs. 1 SGB VIII). Danach sind vom Land die Kosten, die ein örtlicher Träger aufgewendet hat, zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt dieser Person richtet (§ 89d Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB VIII). Ist die Person im Ausland geboren, so wird das erstattungspflichtige Land vom Bundesverwaltungsamt bestimmt (§ 89d Abs. 3 Satz 1 SGB VIII). All diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Die Klägerin hat als zuständiger örtlicher Träger der Jugendhilfe einem jungen unbegleitet eingereisten Menschen innerhalb eines Monats nach der Einreise Jugendhilfe gewährt und das Bundesverwaltungsamt hat den Beklagten als erstattungspflichtiges Land bestimmt (vgl. zur behördlichen Zuständigkeit innerhalb des Landes: Verordnung des Sozialministeriums über die Zuständigkeit für die Kostenerstattung bei Gewährung von Jugendhilfe nach der Einreise, GABl. 1999 S. 349).

Die Anwendung der Kostenerstattungsvorschrift wird auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Jugendliche einen Asylantrag gestellt und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten hat (§ 89d Abs. 1 Satz 3 SGB VIII; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 24.06.1999 - 5 C 24.98 - BVerwGE 109, 155 ff.). Sie geht auch sonstigen Kostenerstattungsvorschriften vor (§ 89d Abs. 5 SGB VIII).

Die aufgewendeten Kosten sind allerdings nur zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs - Achtes Buch - entspricht (§ 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), wobei die Grundsätze, die im Bereich des tätig gewordenen örtlichen Trägers zur Zeit des Tätigwerdens angewandt werden, gelten (§ 89f Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Die Aufgabenerfüllung entspricht nur dann dem genannten Gesetz, wenn sie rechtmäßig ist. Eine Erstattung scheidet daher aus, wenn und soweit die Jugendhilfe rechtswidrig war (allgemeine Ansicht, vgl. Wiesner in Wiesner/Mörsberger/Oberlos- kamp/Struck, SGB VIII, 2. Aufl., § 89f Rdnr. 3). Die Klägerin hat hier den jugendlichen Ausländer in der Zeit vom 20.01.1999 bis zum 20.04.1999 rechtmäßig in Obhut genommen.

Die Inobhutnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen, die eine "andere Aufgabe der Jugendhilfe ist" (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII), ist die vorläufige Unterbringung des Kindes oder des Jugendlichen bei einer geeigneten Person oder in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform (§ 42 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Das Gesetz versteht unter Inobhutnahme sowohl die vorläufige Unterbringung von Selbstmeldern (§ 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII), also Kindern oder Jugendlichen die um Obhut bitten, als auch von sogenannten Zugeführten (§ 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII), d.h. Kindern oder Jugendlichen die durch Dritte, beispielsweise Polizei, Lehrer, Verwandte, Nachbarn zugeführt werden, weil sie schutzlos sind oder sich in bestimmten Gefahrenbereichen, etwa dem Prostitutions- oder Drogenmilieu aufhalten (Wiesner a.a.O. § 42 Rdnr. 39). Während der Inobhutnahme ist der notwendige Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen und die Krankenhilfe sicherzustellen (§ 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Das Jugendamt hat für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen, es oder ihn in seiner gegenwärtigen Lage zu beraten und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen (§ 42 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII). Die bloße Gewährung von Unterkunft und die Sicherstellung der rein physischen Bedürfnisse im Sinne eines einfachen Verwahrens reichen hierfür nicht aus (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.03.2003 - 7 S 1818/01 -). Hier ging die Betreuung des Jugendlichen in der Erstversorgungseinrichtung der Klägerin, wie diese im Berufungszulassungsverfahren im einzelnen dargelegt hat und von dem Beklagten auch nicht bestritten wird, über eine bloße Obdachlosenunterbringung hinaus, sodass eine Inobhutnahme vorlag.

Rechtmäßig ist die Inobhutnahme ab dem Zeitpunkt der Aufnahme des Jugendlichen in die Erstversorgungseinrichtung der Klägerin. Das Jugendamt hat insbesondere unverzüglich eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeigeführt, da dessen Personensorge- oder Erziehungsberechtigte nicht erreichbar waren (§ 42 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. dessen Satz 3 Nr. 2 SGB VIII; vgl. zu diesem Erfordernis: BVerwG, Urteil vom 24.06.1999 a.a.O.). Der Antrag auf Bestellung eines Vormunds war beim Familiengericht binnen weniger Tage ohne schuldhaftes Zögern gestellt worden.

Nicht mehr den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs - Achtes Buch - entspricht jedoch die Inobhutnahme des Jugendlichen ab dem 21.04.1999. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Inobhutnahme ist nach der gesetzlichen Definition (§ 42 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) "die vorläufige Unterbringung des Kindes oder des Jugendlichen bei einer geeigneten Person oder in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform". Sie ist demnach keine auf Dauer berechnete Maßnahme der Jugendhilfe, sondern eine vorläufige Maßnahme der Krisenintervention. Von keinem der Beteiligten, weder vom Jugendlichen, noch vom Personensorge- oder Erziehungsberechtigten und auch nicht vom Jugendamt darf die Inobhutnahme selbst als Lösung erzieherischer Probleme angesehen werden. Gerade das Jugendamt, dem durch bundesgesetzliche Regelung zulässigerweise diese Aufgabe zugewiesen worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.07.1967 - A 2 BvF 3/62 - BVerfGE 22, 180; Staatsgerichtshof Bad.-Württ., Urteil vom 10.05.1999 - 2/79 - ESVGH 49, 242) muss darauf hinwirken, dass sie alsbald wieder beendet werden kann. Erfolgt die Inobhutnahme wegen einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen (§ 42 Abs. 3 Satz 1) so hat das Jugendamt diese Gefahr für das Kindeswohl so rasch wie möglich abzuwenden und dafür zu sorgen, dass der Jugendliche in ein geordnetes Dasein eingegliedert wird, in welchem seine auf Dauer berechnete Entwicklung und Erziehung gewährleistet erscheint (vgl. § 1 Abs. 1 SGB VIII). Diese Verpflichtung zur raschen Gefahrenbeseitigung wird bei unbegleitet eingereisten ausländischen Jungendlichen dadurch unterstrichen, dass das Jugendamt unverzüglich, d.h. regelmäßig binnen dreier Tage, das Familiengericht anzurufen und die Bestellung eines Amtsvormunds zu beantragen hat (§ 42 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Satz 3 Nr. 2 SGB VIII; BVerwG, Urteil vom 24.06.1999 a.a.O.). Mit der Erfüllung dieser Verpflichtung und der Bestellung eines Amtsvormundes durch das Familiengericht ist indes die Aufgabe des Jugendamtes (noch) nicht erfüllt, die Krisensituation in der sich der Jugendliche befindet zu beseitigen. Die bloße Existenz eines Amtsvormundes und damit eines Personensorgeberechtigten, verschafft dem Jugendlichen keine Unterkunft und schon gar nicht die gegebenenfalls erforderlichen erzieherischen Hilfen.

Das Sozialgesetzbuch - Achtes Buch - geht davon aus, dass Kinder der Pflege und Erziehung bedürfen, diese das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuförderst obliegende Pflicht ist, hierüber aber die staatliche Gemeinschaft - hier durch das Jugendamt - wacht (§ 1 Abs. 2 SGB VIII). Ein Kind bedarf daher grundsätzlich der Erziehung und diese ist gegebenenfalls letztlich durch Intervention des Staates sicherzustellen. Aber auch junge Menschen (§ 7 Abs.1 Nr. 4 SGB VIII ), d.h. insbesondere Jugendliche (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII), haben ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Dieses Recht zu verwirklichen ist Aufgabe der den Jugendämtern übertragenen Jugendhilfe (§ 1 Abs. 3 SGB VIII). Diese allgemeine Beschreibung der Aufgaben der Jugendhilfe wird für die Zeit der Inobhutnahme dahin näher präzisiert, dass das Jugendamt für das Wohl des Jugendlichen zu sorgen, ihn in seiner gegenwärtigen Lage zu beraten und ihm Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen hat (§ 42 Abs. 1 Satz 5 SGB VIII). Die Sorge um den Jugendlichen und seine Beratung erfordert die Kontaktaufnahme mit ihm, seine Anhörung, die Klärung seiner bisherigen Lebens- und Erziehungssituation, sowie gegebenenfalls die Beobachtung seines sozialen Verhaltens. All dies hat mit dem Tag der Inobhutnahme einzusetzen. Diese Verpflichtung kann nicht mit der Bestellung des Amtsvormundes enden, denn auch ihn hat das Jugendamt zu beraten und zu unterstützen. Eine Übergabe des Jugendlichen an den die Personensorge ausübenden Amtsvormund, bzw. den damit betrauten Beamten oder Angestellten (§ 55 Abs. 2 SGB VIII), scheidet in aller Regel aus. Der Amtsvormund kann nicht wie etwa Eltern oder sonstige (private) Personensorgeberechtigte den Jugendlichen selbst aufnehmen. Dies hat das Jugendamt bei der hier vorliegenden Fallgestaltung in Rechnung zu stellen.

Bei der Einreise unbegleiteter ausländischer Jugendlicher sind im Wesentlichen drei Fallgestaltungen gegeben, deren Auslotung das Jugendamt während der Zeit der Inobhutnahme entsprechend seiner Aufgabe, diese so rasch wir möglich zu beenden, vorzunehmen hat. Die Fälle lassen sich mit folgenden Fragestellungen umschreiben: 1. Ist der Jugendliche baldmöglichst in sein Heimatland zurückzuführen? 2. Bedarf er der Hilfe zur Erziehung? 3. Welche Art der Hilfe zur Erziehung ist geeignet und erforderlich?

Zur Klärung der ersten Frage hat das Jugendamt - gegebenenfalls unter Beteiligung der Betreuer des Jugendlichen in der Erstaufnahmeeinrichtung - zu erforschen, ob der Jugendliche nach Hause zurückkehren will oder beabsichtigt, einen Asylantrag zu stellen oder aufgrund seiner Schilderung die Stellung eines Asylantrages angezeigt ist. Will der Jugendliche in sein Heimatland zurückkehren oder wird ein Asylantrag nicht gestellt, so erscheint es angebracht, die Inobhutnahme bis zur Ausreise fortdauern zu lassen. Will der Jugendliche einen Asylantrag stellen, oder hat dies bereits getan (vgl. § 12 Abs. 1 AsylVfG), oder ist ein solcher Antrag angezeigt, so kann grundsätzlich nicht davon ausgegangen werden, dass er innerhalb kürzerer Zeit in sein Heimatland verbracht werden wird. Es muss sich dann die Prüfung anschließen, ob Hilfe zur Erziehung für die Entwicklung des Jugendlichen notwendig und geeignet ist (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Diese ist vorwiegend daran ausgerichtet, ob der Jugendliche überhaupt (noch) einer Erziehung bedarf und ob er bejahendenfalls erziehungsfähig ist. Liegt beides vor, wird schließlich die Art der Hilfe zur Erziehung in den Blick genommen werden müssen.

Die Klärung dieser Fragen kann und muss durch das Jugendamt bereits vor Bestellung des Amtsvormundes eingeleitet werden. Insoweit ist dem Verwaltungsgericht zuzustimmen, dass die bis zur Zustellung des Beschlusses des Familiengerichts verstrichene Zeit der Inobhutnahme des Jugendlichen dem Jugendamt zur Bewältigung der für einen unbegleitet eingereisten Ausländer bestehenden Krisensituation genutzt werden kann.

Die dem Jugendamt hierfür zur Verfügung stehende Zeit, die zugleich den Rahmen für die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme bildet, lässt sich nicht generell und verallgemeinernd festlegen. Es kommt vielmehr auf die konkrete Ausgestaltung des Einzelfalles an. Gleichwohl lässt sich auf dem Hintergrund der gesetzlichen Ausgestaltung der Inobhutnahme als vorübergehende Unterbringung zur Krisenintervention in tatsächlicher Hinsicht feststellen, dass im Allgemeinen ein Zeitraum von drei Monaten für die Inobhutnahme ausreicht, um den mit ihr beabsichtigten Zweck zu erreichen und darüber hinausgehende Zeiträume, von besonderen Fallgestaltungen abgesehen, nicht mehr als dem Sozialgesetzbuch - Achtes Buch - entsprechende Aufgabenerfüllung im Sinne des § 89f Abs. 1 Satz 1 angesehen werden kann.

Der Zeitraum von drei Monaten seit tatsächlicher Inobhutnahme des Jugendlichen in einer Erstversorgungseinrichtung reicht nach dem vom Senat in zahlreichen vergleichbaren Verfahren gewonnenen Erkenntnis gewöhnlich aus, um den Jugendlichen mit Hilfe eines Dolmetschers anzuhören, seinen Betreuer in der Erstversorgungseinrichtung zu hören oder, wie üblicherweise geschehen, einen Erziehungsbericht anzufordern und schließlich mit dem vom Familiengericht bestellten und dann bestallten Amtsvormund die weitere Vorgehensweise abzuklären und diese auch zu beginnen.

Der Einwand der Klägerin, Hilfe zur Erziehung könne nur durch den personensorgeberechtigten Amtsvormund beantragt werden, so dass die Inobhutnahme bis zu diesem Antrag, und in der Folge auch bis zur Gewährung der Hilfe zur Erziehung, rechtmäßig sei, verfängt nicht. Richtig ist, dass ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung hat, wenn eine dem Wohl des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für die Entwicklung geeignet und notwendig ist (vgl. § 27 Abs. 1 SGB VIII). Ob die Zuordnung dieses Hilfeanspruchs an den Personensorgeberechtigten auch eine Beschränkung des Antragsrechts insoweit enthält, dass das Jugendamt selbst keinen Antrag auf Hilfe zur Erziehung stellen kann, wie die Klägerin vorträgt (a.A. wohl OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.04.2000 - 12 A 11123/99 - FamRZ 2001, 1184), kann der Senat offen lassen, denn das Jugendamt der Klägerin ist verpflichtet darüber zu wachen, dass der Amtsvormund seiner Pflicht zur Personensorge ordnungsgemäß genügt. Es darf nicht hinnehmen, dass der Vormund seiner Pflicht zur Sorge für den Jugendlichen zuwider untätig bleibt.

Ohne Erfolg verweist die Klägerin darauf, sie habe keine rechtliche Handhabe zur Einwirkung auf den Personensorgeberechtigten. Im Allgemeinen gilt, dass das Jugendamt gegenüber einem bestellten Vormund eine Entscheidung des Familiengerichts über die zum Kindeswohl erforderlichen Maßnahmen herbeiführen, also veranlassen kann, dass das Gericht dem Vormund Weisungen erteilt. Besteht Amtsvormundschaft und ist das Jugendamt selbst Amtsvormund, so kommt auch eine innerdienstliche Einwirkung auf den Mitarbeiter in Betracht, der mit der Führung der Vormundschaft beauftragt ist. Dieser ist zwar weisungsunabhängig (vgl. § 55 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII), jedoch unterliegt er der Rechtsaufsicht des Jugendamtes. Dieses kann und muss notfalls einen anderen Mitarbeiter mit der Ausübung der Vormundschaft beauftragen.

Der vorliegende Fall weist keine Besonderheiten auf, die es rechtfertigten, die Inobhutnahme des unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendlichen über den Zeitraum von 3 Monaten aufrecht zu erhalten. Die Anhörung des Jugendlichen mit Hilfe des Dolmetschers ist hier - wie in vergleichbaren Fällen - zügig erfolgt; gleiches gilt für die Bestellung des Amtsvormundes durch das Familiengericht. Zögerlich ist dagegen die Abklärung eines eventuell bestehenden Bedarfs an Hilfe zur Erziehung im Zusammenwirken mit der Erstversorgungseinrichtung. Die Klägerin - zumindest das Jugendamt des Bezirksamts Wandsbek - geht in einem Formularschreiben (Beiakten in den Verfahren - 9 S 2384/02, 9 S 2385/02, 9 S 2388/02, 9 S 2389/02 und 9 S 2398/02 -), das nach ca. drei Monaten an die Unterbringungseinrichtung versandt wird, "von einer durchschnittlichen Verweildauer in Erstversorgungseinrichtungen von acht Monaten" aus. Dies steht mit der Zielrichtung der Regelungen der Inobhutnahme nicht in Einklang und wird durch die von der Klägerin geforderte Wahrnehmung des Wohls des Jugendlichen nicht gerechtfertigt. Notwendige Erziehungsberichte können jedenfalls früher angefordert und auch erstellt werden. Die Fortdauer der Aufnahme des Jugendlichen in der Erstversorgungseinrichtung nach Ablauf von 3 Monaten ist deshalb nicht mehr rechtmäßig im Sinne des § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Die Kosten hierfür können deshalb nicht geltend gemacht werden.

Der Kostenerstattungsanspruch ist auch nicht ab dem Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Hilfe zur Erziehung durch den Amtsvormund (erneut) begründet. Auch insoweit werden von der Klägerin die Kosten für die Inobhutnahme des Jugendlichen in ihrer Erstversorgungseinrichtung geltend gemacht. Deren Erstattungspflichtigkeit durch den Beklagten endet jedoch, wie oben ausgeführt, drei Monate nach der Aufnahme des Jugendlichen in dieser Einrichtung. Hieran vermag ein Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung nichts zu ändern. Ein solcher Antrag ist nicht Voraussetzung für eine rechtmäßige Inobhutnahme. Zur Gewährung von Hilfe zur Erziehung bedarf es keiner Inobhutnahme des Jugendlichen. Diese ist vielmehr ausgeschlossen, weil sie lediglich der Bewältigung einer Krisensituation dient. Die Inobhutnahme mag vielfach in Fällen der vorliegenden Art Vorstufe für eine sich anschließende Hilfe zur Erziehung sein. Dem entspricht die Bezeichnung der Inobhutnahme als "Drehscheibe" zur Abklärung von Erziehungsdefiziten und deren Bewältigung. Da aber die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme nicht voraussetzt, dass ein Erziehungsdefizit vorliegt; zu ihren Voraussetzungen auch nicht gehört, dass eine Hilfe zur Erziehung, und sei es auch nur prognostisch, erforderlich sein wird, so kann ein entsprechender Antrag auch nicht zur Rechtmäßigkeit einer wegen Zeitablaufs rechtswidrig gewordenen Inobhutnahme führen.

Der Senat verkennt nicht, dass das tatsächliche Belassen des Jugendlichen in der Erstversorgungseinrichtung bis zum Einsetzen der Hilfe zur Erziehung sinnvoll sein kann. Diese Frage zu beantworten ist nicht Aufgabe des vorliegenden Verfahrens, in dem es allein darum geht Kosten, die unzweifelhaft im Bereich der Jugendhilfe entstanden sind, auf die Kostenträger zu verteilen. In diesem Zusammenhang kommt es allein darauf an, ob die Inobhutnahme im Sinne des Kostenrechts (§ 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) rechtmäßig war. Dies ist zu verneinen, wenn entsprechend dem Gesetzeszweck die Inobhutnahme keinen vorübergehenden Charakter mehr hat, sondern auf längere Zeit angelegt ist oder aus Gründen, die dem Jugendhilfeträger zuzurechnen sind, tatsächlich einen längeren oder gar langen Zeitraum in Anspruch nimmt.

Der Senat setzt sich mit dieser Entscheidung nicht in Widerspruch zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.06.1999 (a.a.O.). Diese Entscheidung befasst sich nicht mit der Frage, wann die rechtmäßig begründete vorläufige Unterbringung des Jugendlichen aus Rechtsgründen zu enden hat; ihr faktisches Fortdauern also nicht mehr rechtmäßig im Sinne der Kostenerstattungsregelung ist.

Der geltend gemachte Zinsanspruch folgt aus §§ 262 ZPO, 291, 288 Abs. 1 BGB. Ihre Geltendmachung ist nicht ausgeschlossen. Lediglich Verzugszinsen dürfen nicht gefordert werden (§ 89f Abs. 2 Satz 2 SGB VIII).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 188 Satz 2 VwGO.

Die Revision ist zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Frage hat grundsätzliche Bedeutung, wann die Kostentragungspflicht des vom Bundesverwaltungsamt bestimmten Landes für die vom örtlichen Träger der Jugendhilfe rechtmäßig begründete Inobhutnahme eines unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendlichen endet.

Ende der Entscheidung

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