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Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 14.05.2009
Aktenzeichen: A 11 S 610/08
Rechtsgebiete: AufenthG, EGRL 04/83, VwGO
Vorschriften:
AufenthG § 60 Abs. 7 | |
AufenthG § 60a Abs. 1 | |
EGRL 04/83 Art. 15c | |
VwGO § 110 | |
VwGO § 120 | |
VwGO § 128 |
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil
In der Verwaltungsrechtssache
wegen Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 2009
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 19. September 2007 - A 6 K 4738/07 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger, ein am 05.02.1986 im Dorf Tschardehi in der Provinz Ghorband/Distrikt Parwan geborener lediger und kinderloser afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens vom Volk der Tadschiken reiste am 03.10.2003 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 21.10.2003 stellte er einen Asylantrag mit der Begründung, sein Vater und Bruder sowie zwei Vettern seien im Rahmen eines blutigen Familienstreits um die Verheiratung eines Mädchens ums Leben gekommen. Aus Rache werde der Kläger bis heute von seinen Vettern mit dem Tode bedroht. Seine Mutter und ein Onkel lebten zwischenzeitlich im vom Familiendorf etwa 3 1/2 Autostunden entfernten Kabul. Die Ausreise Anfang Oktober 2003 über den Flughafen Kabul sei mit Hilfe von Schleppern gegen Bezahlung von 15.000 US-Dollar gelungen.
Die Beklagte lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt -) vom 28.10.2003 als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - offensichtlich nicht vorliegen sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht gegeben sind, und drohte ihm die Abschiebung nach Afghanistan an. Der Bescheid wurde am 11.11.2003 bestandskräftig.
Unter Berufung auf neuere Rechtsprechung zum Vorliegen einer extremen Gefahrenlage in Afghanistan auch für alleinstehende Männer stellte der Kläger am 16.05.2007 einen so genannten Folgeschutzantrag hinsichtlich eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
Mit Bescheid vom 16.08.2007 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Änderung des Bescheids vom 28.10.2003 bezüglich der Feststellungen zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG ab. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens seien nicht erfüllt. Weder führe die Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Tadschiken in Afghanistan zu einer landesweiten Verfolgungsgefahr noch ergebe sich aus der dortigen allgemeinen Versorgungslage eine extreme Gefahrensituation für den Kläger. Jedenfalls in Kabul könne er sein Existenzminimum sichern.
Am 30.08.2007 hat der Kläger unter Bezugnahme auf sein bisheriges Vorbringen beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts vom 16.08.2007 zu der Feststellung zu verpflichten, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Bezug auf Afghanistan vorliegen.
Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 19.09.2007 - A 6 K 4738/07 - hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Feststellung eines Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verpflichtet, insoweit den Bundesamtsbescheid vom 16.08.2007 aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung des stattgebenden Teils seines Urteils hat es im Wesentlichen ausgeführt, wegen der in Afghanistan bestehenden unzureichenden Versorgungslage bestehe für den Kläger bei einer Rückkehr dorthin eine extreme Gefahrensituation. Da der Vater des Klägers bereits vor dessen Ausreise aus Afghanistan verstorben sei, müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger in seiner Heimat über keine hinreichenden finanziellen Mittel zur Existenzsicherung verfüge. Bei einer Abschiebung werde er gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert. Zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG äußert sich die übrige Begründung des Urteils nicht.
Der Kläger hat keinen Zulassungsantrag gestellt.
Mit ihrer vom erkennenden Gerichtshof mit Beschluss vom 28.02.2008 - A 8 S 2412/07 - zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, eine extreme Gefahrensituation könne jedenfalls für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche afghanische Rückkehrer nicht angenommen werden. Die Versorgungslage in Kabul sei für diese Personengruppe nicht derart schlecht, dass eine Hungerkatastrophe befürchtet werden müsse. Unterstützung gebe es für Rückkehrer durch internationale Organisationen, auch bei der Unterkunftsbeschaffung. In der Berufungsverhandlung hat die Vertreterin der Beklagten klargestellt, der angegriffene Bescheid vom 16.08.2007 sei so zu verstehen, dass das Bundesamt das Verfahren in Bezug auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von Amts wegen wiederaufgegriffen und zur Sache entschieden habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 19. September 2007 - A 6 K 4738/07 - zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt im Wesentlichen vor, in Afghanistan heute keinerlei unterstützungsbereite Familienangehörige mehr zu haben; diese seien entweder tot oder geflohen. Aus diesem Grund und wegen der katastrophalen Versorgungssituation in seiner Heimat lägen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 14.05.2009 informatorisch angehört. Dabei gab er an, seine Heimat wegen einer Familienfehde verlassen zu haben. Sein Vater habe zwei Brüder gehabt, die mit Ehefrauen und vier Söhnen bzw. einer Tochter ebenfalls im Dorf Tschardehi gelebt hätten. Ein Vetter des Klägers habe die Tochter des anderen, verstorbenen Onkels heiraten wollen, was diese jedoch vehement abgelehnt habe. Hierüber sei es zu einem blutigen Streit gekommen, in dessen Rahmen sowohl der Vater des Klägers als auch dessen Bruder zu Tode gekommen seien. Daraufhin seien der Kläger und seine Mutter zu einem Onkel mütterlicherseits nach Kabul geflüchtet, der dort ein Geschäft betrieben habe. Dieser Onkel habe die Mutter versorgt und dem Kläger die Ausreise nach Deutschland organisiert und bezahlt. Die Mutter habe später den gesamten Familienbesitz im Dorf Tschardehi verkauft. Sowohl mit seiner Mutter als auch mit dem Onkel in Kabul habe er bis 2005 Telefonkontakt gehabt. Seine Mutter habe über ein Mobiltelefon verfügt. Im letzten Telefonat sei ihm mitgeteilt worden, dass insbesondere die wirtschaftliche Lage sehr schlecht sei und man beabsichtige, das Land zu verlassen. Dann sei der Kontakt abgerissen. Wo seine Mutter oder sein Onkel oder sonstige Familienangehörigen heute seien, wisse er nicht. Es sei ihm seit 2005 nicht mehr gelungen, irgendeinen Familienkontakt herzustellen. In Deutschland arbeite er seit etwa neun Monaten; zuerst bei einer Leiharbeitsfirma, seit Januar 2009 in einer Pizzeria. Er verdiene derzeit netto ca. 700 € monatlich. Seine Mietkosten beliefen sich auf monatlich ca. 200 €. Relevante Ersparnisse habe er nicht.
Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergeben sich aus der Gerichtsakte sowie den Verfahrensakten des Bundesamts. Dem Senat liegen des Weiteren die Akte des Verwaltungsgerichts Stuttgart im Verfahren A 6 K 4738/07 sowie die Erkenntnisquellen, die den Beteiligten mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung und in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt worden sind, vor. Die beigezogenen Akten und die Erkenntnisquellen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig unter Stellung eines Antrags und unter Bezugnahme auf die ausführliche Begründung des Zulassungsantrags begründete Berufung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420 m.w.N.) der Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass der Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (- Aufenthaltsgesetz -) in der Fassung der Änderung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (- Richtlinienumsetzungsgesetz -, in Kraft seit 28.08.2007, BGBl I 1970) beanspruchen kann. Die Zulässigkeit des so genannten Folgeschutzantrags des Klägers vom 16.05.2007 insbesondere hinsichtlich § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG bedarf keiner Klärung, weil die Beklagte klargestellt hat, dass das Bundesamt das Verfahren im angefochtenen Bescheid - jedenfalls - in Bezug auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von Amts wegen wiederaufgegriffen und zur Sache entschieden hat.
I. Das grundsätzlich vorrangige - europarechtlich begründete - Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG ist vom Senat im vorliegenden Berufungsverfahren nicht zu prüfen. Zwar ist ein Antrag auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Bezug auf das Herkunftsland seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Asylprozess sachdienlich dahin auszulegen, dass in erster Linie die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG und hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG begehrt wird (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 = NVwZ 2008, 1241). Auch war im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in seiner heutigen Fassung bereits in Kraft und der Kläger hatte die Feststellung von Abschiebungsverboten "nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG" beantragt. Das Verwaltungsgericht hat über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG jedoch - rechtsirrtümlich - nicht entschieden. Da es nach den Urteilsgründen keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass das Verwaltungsgericht bewusst nur über einen Teil des Streitgegenstandes entscheiden und den Rest einer späteren Entscheidung vorbehalten wollte, liegt kein Teilurteil im Sinne des § 110 VwGO vor. Das Urteil ist vielmehr bezüglich des nicht erwähnten Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG fehlerhaft. Es verstößt gegen § 88 VwGO, weil es über das europarechtliche Abschiebungsverbot rechtsirrtümlich nicht vorrangig entscheidet. Gemäß § 88 VwGO darf das Gericht einerseits nicht über das Klagebegehren hinausgehen, muss dieses andererseits aber erschöpfen. Das Verwaltungsgericht hat die Eigenständigkeit des Streitgegenstands bzw. abtrennbaren Streitgegenstandsteils des § 60 Abs. 7 Satz 2 VwGO, die das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen erstmals mit Urteil vom 24.06.2008 (a.a.O.) rechtsgrundsätzlich geklärt hat, nicht erkannt und diesen Streitgegenstandsteil irrtümlich als nicht rechtshängig angesehen. Damit wäre insoweit ein Urteilsergänzungsverfahren nach § 120 VwGO von vorneherein nicht in Betracht gekommen, weil kein "Übergehen" im Rechtssinne vorliegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.1994 - 9 C 529.93 - BVerwGE 95, 269), sondern nur ein Antrag auf Zulassung der Berufung gemäß § 78 Abs. 2 AsylVfG. Der Kläger hat jedoch keinen Zulassungsantrag gestellt und der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung war auf den stattgebenden Teil des angefochtenen Urteils, also das - nationale - Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begrenzt; nur insoweit wurde vom Senat die Berufung zugelassen. Nach dem Verfahrensgrundsatz der Dispositionsmaxime ist der Streitgegenstand des Berufungsverfahrens damit hierauf beschränkt (vgl. §§ 128 Satz 1, 129 VwGO). Mit der rechtskräftigen Abweisung der Klage durch das Verwaltungsgericht im Übrigen ist die Rechtshängigkeit des unbeschieden gebliebenen europarechtlich begründeten Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entfallen (ausführlich hierzu: BVerwG, Urteil vom 22.03.1994, a.a.O.). Selbst wenn insoweit von einem Übergehen des Antrags im Sinne des § 120 Abs. 1 VwGO ausgegangen würde, wäre ein Urteilsergänzungsverfahren ausgeschlossen, weil binnen der Zweiwochenfrist des § 120 Abs. 2 VwGO kein entsprechender Antrag gestellt worden ist.
II. Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) besteht zu Gunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Hiernach kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn für ihn dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das ist beim Kläger aufgrund der in Afghanistan derzeit vorherrschenden katastrophalen Versorgungslage der Fall.
Allerdings sind Gefahren der die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Denn hinsichtlich des Schutzes vor allgemeinen Gefahren im Zielstaat soll Raum sein für ausländerpolitische Entscheidungen, was die Anwendbarkeit von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG insoweit grundsätzlich sperrt und zwar selbst dann, wenn diese Gefahren den einzelnen Ausländer zugleich in konkreter und individualisierbarer Weise betreffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324). Aus diesem Normzweck folgt weiter, dass sich die "Allgemeinheit" der Gefahr nicht danach bestimmt, ob diese sich auf die Bevölkerung oder bestimmte Bevölkerungsgruppen gleichartig auswirkt, wie das bei Hungersnöten, Seuchen, Bürgerkriegswirren oder Naturkatastrophen der Fall sein kann. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG kann vielmehr auch bei eher diffusen Gefährdungslagen greifen, etwa dann, wenn Gefahren für Leib und Leben aus den allgemein schlechten Lebensverhältnissen (soziale und wirtschaftliche Missstände) im Zielstaat hergeleitet werden. Denn soweit es um den Schutz vor den einer Vielzahl von Personen im Zielstaat drohenden typischen Gefahren solcher Missstände wie etwa Lebensmittelknappheit, Obdachlosigkeit oder gesundheitliche Gefährdungen geht, ist die Notwendigkeit einer politischen Leitentscheidung in gleicher Weise gegeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1). Für die Personengruppe, der der Kläger angehört, besteht eine solche politische Abschiebestopp-Anordnung gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG in Baden-Württemberg derzeit nicht (mehr), seit mit Schreiben des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 15.04.2005 (geändert am 01.08.2005, vgl. 21. Fortschreibung vom 23.01.2009, Az.: 4-13-AFG/8) in Umsetzung entsprechender Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder bezüglich der Rückführung afghanischer Staatsangehöriger entschieden wurde, dass "volljährige, allein stehende männliche afghanische Staatsangehörige, die sich zum Zeitpunkt der Beschlussfassung am 24. Juni 2005 noch keine sechs Jahre im Bundesgebiet aufgehalten haben, mit Vorrang zurückzuführen sind". Im konkreten Einzelfall greift die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gleichwohl aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ein.
1. Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG greift aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ein, wenn der Ausländer im Zielstaat landesweit einer extrem zugespitzten allgemeinen Gefahr dergestalt ausgesetzt wäre, dass er "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert" würde (st. Rspr. des BVerwG, s. Urteile vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 und vom 19.11.1996 - 1 C 6.95 - BVerwGE 102, 249 zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG und Beschluss vom 14.11.2007 - 10 B 47.07 - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Damit sind nicht nur Art und Intensität der drohenden Rechtsgutsverletzungen, sondern auch die Unmittelbarkeit der Gefahr und ihr hoher Wahrscheinlichkeitsgrad angesprochen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 C 9.95 - BVerwGE 102, 249). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau zu ermitteln (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.03.1999 - 9 B 866.98 - juris).
Im Fall einer allgemein schlechten Versorgungslage sind insoweit Besonderheiten zu berücksichtigen. Denn hieraus resultierende Gefährdungen entspringen keinem zielgerichteten Handeln, sondern treffen die Bevölkerung gleichsam schicksalhaft. Sie wirken sich nicht gleichartig und in jeder Hinsicht zwangsläufig aus und setzen sich aus einer Vielzahl verschiedener Risikofaktoren zusammen, denen der Einzelne in ganz unterschiedlicher Weise ausgesetzt ist und denen er gegebenenfalls auch ausweichen kann. Intensität, Konkretheit und zeitliche Nähe der Gefahr können deshalb auch nicht generell, sondern nur unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände beurteilt werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.11.2002 - A 6 S 967/01 - juris). Um dem Erfordernis des unmittelbaren - zeitlichen - Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung zu entsprechen, kann hinsichtlich einer allgemein schlechten Versorgungslage eine extreme Gefahrensituation zudem nur dann angenommen werden, wenn der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann. Mit dem Begriff "alsbald" ist dabei einerseits kein nur in unbestimmter zeitlicher Ferne liegender Termin gemeint (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1998 - 9 C 13.97 - NVwZ 1998, 973). Andererseits setzt die Annahme einer extremen allgemeinen Gefahrenlage nicht voraus, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat, eintreten. Eine extreme Gefahrenlage besteht auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert sein würde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.01.1999 - 9 B 617.98 - InfAuslR 1999, 265).
2. Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers gegeben. Denn er gehört zu der Gruppe der beruflich nicht besonders qualifizierten afghanischen Staatsangehörigen, die in ihrer Heimat ohne Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte sind und dort weder über Grundbesitz noch über nennenswerte Ersparnisse verfügen. Für diese Personengruppe besteht aufgrund der derzeit katastrophalen Versorgungslage bei einer Abschiebung nach Kabul eine extreme Gefahrensituation im dargelegten Sinne (ebenso: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.05.2008 - 6 A 10749/07 - AuAS 2008, 188).
a) Der Kläger wäre bei einer Abschiebung nach Kabul ohne Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte. In der mündlichen Verhandlung hat er glaubhaft und überzeugend ausgeführt, dass sein Vater und Bruder getötet worden sind, er in seinem Heimatdorf Tschardehi keine Unterstützung erlangen könnte, seine Mutter den Familienbesitz veräußert sowie mit dem Onkel aus Kabul Afghanistan - wohl schon 2005 - verlassen hat und dass seither kein Kontakt mehr zu irgendwelchen Personen in seiner Heimat besteht. Der Senat ist aufgrund des schlüssigen Vortrags des Klägers zudem überzeugt, dass er in Deutschland bisher keine nennenswerten Ersparnisse machen konnte. Der gesamte Vortrag des Klägers ist widerspruchsfrei und fügt sich stimmig in seine dokumentierten Angaben vor dem Bundesamt bei der Erstanhörung am 22.10.2003. Hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Kläger die Unwahrheit sagt, ergeben sich für den Senat nicht.
b) Aufgrund der nachfolgend (aa) bis cc)) im Einzelnen dargelegten Erkenntnisse und Wertungen ist der Senat überzeugt, dass der Kläger ohne Ersparnisse, Grundbesitz und Unterstützung durch Familie oder Bekannte bei einer Abschiebung nach Kabul mangels jeglicher Lebensgrundlage unausweichlich dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert wäre. Im Falle der zur Zeit allenfalls nach Kabul tatsächlich möglichen Abschiebung (vgl. AA, Lagebericht vom 03.02.2009, S. 30) müsste er dort mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst mit einem kriminell motivierten Überfall oder einer Entführung rechnen, weil Rückkehrern aus Europa offenbar häufig der Besitz von finanziellen Mitteln unterstellt wird. Da sich die Sicherheitslage auf den Straßen nach und aus Kabul aufgrund der Bürgerkriegssituation schon seit 2007 deutlich verschlechtert hat, wäre dem Kläger ein Ausweichen in andere Landesteile ohne extreme Gefährdung von Leib und Leben nicht möglich; ohnehin verfügt er dort über keine familiäre, tribale oder soziale Vernetzung. In Kabul würde er ohne finanzielle Mittel keinen Wohnraum finden, weil dieser dort knapp und nur zu hohen Preisen erhältlich ist. Der Kläger, der weder eine Schule noch eine Ausbildung durchlaufen hat und nicht über besondere berufliche Qualifikationen verfügt, hätte in Kabul keine Möglichkeit einer legalen Erwerbstätigkeit. Aufgrund der Nahrungsmittelkrise wäre er darauf verwiesen, sich, wenn überhaupt, dauerhaft ausschließlich von Brot und Tee zu ernähren. Dadurch würde er alsbald und unausweichlich in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten, weil eine hinreichende medizinische Versorgung in Kabul nicht gegeben ist. Der Kläger würde mithin durch eine Abschiebung nach Kabul mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert. Im Einzelnen:
aa) Zur Einschätzung der Gefahren für Leib und Leben eines afghanischen Staatsangehörigen, der aus Europa ohne Vermögen oder (groß-)familiäre Unterstützung nach Afghanistan zurückkehrt, hat das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 06.05.2008 - 6 A 10749/07 - (AuAS 2008, 188) unter Auswertung auch vom Senat beigezogener Erkenntnisquellen in einem vergleichbaren Fall ausgeführt:
"aa. Im Falle seiner Abschiebung nach Afghanistan würde der Kläger das zum Leben Notwendige an Nahrungsmitteln nicht aus eigener Kraft sichern können.
(...) Der Kläger würde vielmehr in Kabul mit einem geringen Barbetrag und der "Starthilfe" des UNHCR, der alle Rückkehrer mit 12 US-Dollar (vgl. Dr. Danesch, Gutachten vom 4. Dezember 2006 an HessVGH und vom 18. Mai 2007 an VG Koblenz; Panhölzl, Humanitäre Lage in Kabul, in: Informationsverbund Asyl e.V., Zur Lage in Afghanistan, 2006, S. 9 ff.) unterstützt, darauf angewiesen sein, sich durch eine kleingewerbliche Tätigkeit oder eine abhängige Beschäftigung den Lebensunterhalt zu verdienen. Das wird ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit weder in Kabul noch in einer Provinz gelingen. Der Sachverständige Rieck, der als Senior Advisor für Arbeitsmarktfragen im Auftrag der International Labour Organisation in Afghanistan tätig war, hat in seinem dem Senat erstatteten Gutachten vom 15. Januar 2008 ausgeführt, auf dem afghanischen Arbeitsmarkt sei die Wahrscheinlichkeit gering, dass an- und ungelernte Arbeitskräfte eine auf Dauer angelegte und den Lebensunterhalt sichernde Erwerbsmöglichkeit finden. Selbst wenn einem Rückkehrer berufliche Bildungsangebote unterbreitet würden, erlange er durch solche in der Regel keine am Arbeitsmarkt verwertbaren beruflichen Kenntnisse. Fachkräfte aus Handwerksberufen könnten jedoch häufig in Arbeit vermittelt werden. Die Rekrutierung von Arbeitskräften sei so stark von persönlichen Beziehungen geprägt, dass private und öffentliche Arbeitgeber Medien oder Arbeitsvermittlungsbüros erst dann einschalteten, wenn das persönliche Beziehungsgeflecht bei der Stellenbesetzung nicht zum Erfolg geführt habe. Bestätigt wird diese Einschätzung durch die gutachterliche Stellungnahme vom 31. Januar 2008, die Dr. Glatzer dem Senat gegenüber abgegeben hat. Danach sind für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche Afghanen, die unfreiwillig aus Deutschland nach Kabul zurückkehren und dort nicht mit der Hilfe von Verwandten oder Bekannten bei ihrer Wiedereingliederung rechnen können, legale Erwerbsmöglichkeiten - wenn man die Faktoren Zufall oder Glück außer Acht lässt - kaum gegeben, wenn diese Personen nicht über besondere professionelle Qualifikationen verfügen. Die Arbeitsmarktsituation in den Provinzen sei deutlich ungünstiger als in Kabul. Afghanistan leide unter einer Arbeitslosigkeit von ca. 65 v. H. der arbeitsfähigen Bevölkerung, wobei der Bedarf an ungelernten Arbeitern wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage eher zurückgehe. Selbst in Boomzeiten gebe es viel mehr Arbeitswillige als Arbeitsplätze, um die hart und rücksichtslos gekämpft werde. Dr. Danesch (Gutachten vom 18. Mai 2007 an VG Koblenz und vom 24. August 2007) spricht von einer Arbeitslosigkeit im Umfang von 70 bis 80 v. H. der afghanischen Männer. Panhölzl (Humanitäre Lage in Kabul, a.a.O. S. 13) referiert eine Studie der Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) vom April 2006, derzufolge von den befragten armen und armutsgefährdeten Haushalten ein Viertel der Arbeitskräfte maximal 54 Tage im Jahr Zugang zu Arbeit, die Hälfte 131 Tage oder weniger und nur 25 v. H. für 193 und mehr Tage im Jahr eine Arbeitsmöglichkeit hatten. Als Rückkehrer ohne persönliche Bindungen oder Beziehungen und ohne verwertbare berufliche Qualifikation müsste der Kläger der erstgenannten Gruppe zugerechnet werden, also in jeder Woche durchschnittlich für einen Tag eine Aushilfstätigkeit finden, was ihm einen wöchentlichen Durchschnittsverdienst von ca. einem bis zwei US-Dollar verschaffen würde (Dr. Danesch, Gutachten vom 18. Mai 2007 an VG Koblenz und vom 24. August 2007; Panhölzl, Humanitäre Lage in Kabul, a.a.O.). Ein selbständiges Kleingewerbe als Schuhputzer (vgl. Rieck, Gutachten vom 15. Januar 2008) bzw. Karrenzieher oder Straßenverkäufer verspricht keine gegenüber der abhängigen Beschäftigung besseren Erwerbsmöglichkeiten (Panhölzl, Humanitäre Lage in Kabul, a.a.O. S. 13) (...)
Unter diesen wirtschaftlichen Verhältnissen würden dem Kläger ausschließlich Tee und Brot als Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Er würde zu der Hälfte der Bevölkerung Kabuls gehören, die sich - wie dem Schriftsatz der Beklagten vom 26. Februar 2008 im Verfahren 6 A 10230/08.OVG entnommen werden kann, der insoweit auf Erkenntnisse der Hilfsorganisation "Action contre la faim" Bezug nimmt - nur von Tee und Brot ernähren und dafür den größten Teil ihres Einkommens verwenden muss. Auch das Auswärtige Amt erwähnt in seinem Lagebericht vom 7. März 2008, dass fast ein Viertel aller Haushalte in Afghanistan die Grundversorgung an Nahrungsmitteln nicht selbständig sichern kann. Dem Gutachten Dr. Daneschs vom 18. Mai 2007 (an VG Koblenz) zufolge leiden 8,9 v. H. der Kabuler Bevölkerung unter akuter Unterernährung. Auf seiner Homepage (www.auswaertiges-amt.de) bezeichnet das Auswärtige Amt die Nahrungmittelunsicherheit, chronische Mangelernährung, fehlenden Zugang zu sauberem Trinkwasser und Mangel an medizinischer Versorgung als die humanitären Hauptprobleme Afghanistans; der Anstieg der Weizenpreise im Laufe des Jahres 2007 um durchschnittlich 60 Prozent habe die Versorgungslage der besonders bedürftigen Bevölkerungsschichten wie Flüchtlinge und Binnenvertriebene sowie werdender Mütter und Kinder weiter verschlechtert.
bb. Diese Versorgungssituation wird auch nicht durch Unterstützungsmaßnahmen der afghanischen Regierung oder internationaler Organisationen in wesentlichem Umfang verbessert (vgl. auch HessVGH, 8 UE 1913/06.A., juris; OVG B-B, 12 B 9.05, juris). Staatliche soziale Sicherungssysteme sind nicht vorhanden; vielmehr übernehmen Familien und Stammesverbände die soziale Absicherung (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008). Deshalb stoßen nach diesem Lagebericht Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbands oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren, wenn ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen.
Zwar erwähnt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008, dass die Vereinten Nationen Millionen von Afghanen mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern versorgen und sich die Versorgungslage in Kabul grundsätzlich verbessert habe, schränkt dies aber insoweit ein, als mangels Kaufkraft längst nicht alle Bevölkerungsschichten davon profitierten. Darüber hinaus weist das Auswärtige Amt in diesem Lagebericht auf die Schwierigkeiten humanitärer Nothilfeleistungen infolge schlecht ausgebauter Verkehrswege, widriger Witterungsverhältnisse und wegen Sicherheitsproblemen hin. Dass die Vereinten Nationen Millionen von Afghanen mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern (in einem nicht näher bezeichneten Umfang) versorgen, erklärt sich ohne Weiteres aus der eine solche Verantwortlichkeit begründenden Hilfe, die der UNHCR bei der Rückkehr von ca. vier Millionen Afghanen aus Pakistan und dem Iran geleistet hat und die zu einem guten Teil auf den verstärkten "Rückführungsbemühungen" der pakistanischen und der iranischen Regierung beruhen (vgl. hierzu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008). Nach der Auskunft, die amnesty international dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof unter dem 17. Januar 2007 erteilt hat, kann die Versorgung der bedürftigen Bevölkerung angesichts der enorm großen Zahl von Rückkehrern und der prekären Sicherheitslage nicht durch Angebote internationaler Hilfsorganisationen aufgefangen werden, zumal viele dieser Organisationen ihre Aktivitäten aufgrund von Sicherheitsbedenken immer stärker einschränken müssten. Dr. Glatzer teilt diese Einschätzung in seinem Gutachten vom 31. Januar 2008. Auch das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 7. März 2008) bestätigt, dass sich die Sicherheitslage für Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen durch regelmäßige Anschläge seit dem Jahr 2006 und durch Entführungen verschlechtert und sich das subjektive Unsicherheitsgefühl in den Reihen der internationalen Gemeinschaft seit dem Anschlag vom 24. Januar 2008 auf das Hotel Kabul Serena erheblich verstärkt habe. Dass internationale Hilfsorganisationen nicht einmal eine notdürftige Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung Kabuls sicherstellen, ist den Gutachten Dr. Daneschs vom 18. Mai 2007 (an VG Koblenz) und vom 24. August 2007 zu entnehmen. Danach gibt es keine Grundversorgung der Flüchtlinge durch internationale Hilfsorganisationen in Kabul. Die Lebensbedingungen der Kabuler hätten sich seit dem Jahre 2001 drastisch verschlechtert. Tag für Tag verhungerten in Kabul Menschen, nach denen in Afghanistan "kein Hahn kräht". Konkrete Zahlen über Todesfälle unter der armen Bevölkerung ließen sich in einem Land, in dem es keine Meldepflicht gebe, nicht erlangen, da sie nicht aktenkundig würden. Außerdem sei unter den afghanischen Verhältnissen die Grenze fließend zwischen regelrechtem Verhungern und Erkrankungen, die aufgrund von Mangelernährung, katastrophaler Hygiene, Kälte bzw. fehlender ärztlicher Behandlung tödlich verliefen. Allein in den drei von der "Action contre la faim" betreuten Krankenhäusern stürben täglich zwischen fünf und sieben Personen allein wegen Unterernährung, obwohl diese zu den "wenigen Glücklichen" gehörten, die überhaupt in ein Krankenhaus kämen. Menschen, die Mangelernährung und Krankheiten erlägen, würden ohne viel Umstände verscharrt. Die durch das jahrelange Elend abgestumpfte Bevölkerung nehme solche Todesfälle oft fatalistisch hin.
cc. Auch die Möglichkeiten, eine winterfeste Unterkunft zu erlangen, sind für einen mittellosen Rückkehrer, der nicht auf (groß-)familiäre Hilfe zurückgreifen kann, minimal. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008 führt hierzu aus, die Wohnraumversorgung sei unzureichend; Wohnraum sei knapp und die Preise in Kabul seien hoch. Freiwillig zu ihren Angehörigen zurückkehrende Afghanen strapazierten die nur sehr knappen Ressourcen an Wohnraum und Versorgung weiter. Eine zunehmende Zahl von Rückkehrern verfüge zudem nicht mehr über solche Anschlussmöglichkeiten. Bemühungen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR und anderer Einrichtungen um die Errichtung von Unterkünften hätten nur geringe Wirkung gehabt. Das afghanische Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer beabsichtige, Rückkehrer in Neubausiedlungen unterzubringen, von denen ein Großteil für eine dauerhafte Ansiedlung ungeeignet sei, so dass von einem "Aussetzen in der Wüste" gesprochen werden könne. Nichtregierungsorganisationen leisteten hier humanitäre Hilfe. Von dem "Auffangwohnheim" auf dem Gelände des Flüchtlingsministeriums, das das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 29. Mai 2007 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof erwähnt und in dem Rückkehrer für eine Übergangszeit Unterkunft finden konnten, ist im Lagebericht vom 7. März 2008 nicht (mehr) die Rede.
Dr. Danesch (Gutachten vom 18. Mai 2007 an VG Koblenz und vom 24. August 2007) berichtet, dass ein einfaches Zimmer bis zu 20 US-Dollar im Monat koste. Dafür erhalte man eine Unterkunft in weitab vom Zentrum gelegenen Außenbezirken, wo es oft nicht die geringste Infrastruktur gebe. Erschwinglicher Wohnraum außerhalb der Flüchtlingslager existiere für Rückkehrer nicht.
Nach der Auskunft, die amnesty international dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof unter dem 17. Januar 2007 erteilte, hat der enorme Bevölkerungszuwachs in Kabul einen akuten Mangel an Wohnraum verursacht, so dass sich große Slumviertel gebildet hätten. Viele Menschen lebten in Ruinen. Nach Schätzungen der Caritas verfüge etwa eine Million Menschen in Kabul weder über ausreichenden und winterfesten Wohnraum noch über regelmäßiges Trinkwasser. Die hygienischen Verhältnisse in den Armenvierteln seien katastrophal.
Das Rückkehrerprogramm "Return, Reception and Reintegration of Afghan Nationals to Afghanistan (RANA)" ist nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 29. Mai 2007 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof Ende April 2007 ausgelaufen, so dass auf die Darlegungen von Herrn D..., der während einer Beurlaubung als Beamter der Beklagten im Rahmen des RANA-Programms in Kabul bis zum 22. Mai 2006 tätig war und wegen dieser Tätigkeit von dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg am 24. März 2006 als sachverständiger Zeuge vernommen worden ist, nicht eingegangen werden muss.
dd. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die medizinische Versorgung selbst in Kabul völlig unzureichend ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008). Amnesty international berichtet dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof unter dem 17. Januar 2007, dass viele Menschen wegen der desolaten Verhältnisse im Gesundheitswesen unter Infektionskrankheiten, Tuberkulose etc. litten. Eine Behandlung sei in der Regel nicht möglich, weil die Gesundheitsversorgung in Afghanistan unzulänglich sei. Während es auf dem Land oft überhaupt keine Versorgung gebe, sei es in Kabul, wo einige Krankenhäuser vorhanden seien, meist nur über Beziehungen oder gegen Bestechung möglich, auch tatsächlich behandelt zu werden. Diese Situation erkläre die geringe Lebenserwartung und eine der weltweit höchsten Kindersterblichkeitsraten. Auch Panhölzl (Humanitäre Lage in Kabul, a.a.O.) referiert, dass die Kosten für einen Arztbesuch fast den Tageslohn eines einfachen Arbeiters - Transportkosten nicht inbegriffen - ausmachen; die Mehrheit der Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern betrieben nebenbei private Kliniken und verwiesen die Patienten in diese, was sich die Ärmeren aber nicht leisten könnten.
ee. Ist mithin davon auszugehen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nur eine notdürftige und nicht winterfeste Unterkunft finden würde, nahezu ohne medizinische Versorgung unter hygienisch völlig unzureichenden Verhältnissen leben müsste und darauf verwiesen wäre, sich ausschließlich von Brot und Tee zu ernähren, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er durch seine Abschiebung nach Afghanistan zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den in sich schlüssigen ernährungsmedizinischen Ausführungen der Sachverständigen Dr. med. T.. Danach führt eine erzwungene Mangelernährung, die aus Brot und Tee besteht, selbst bei ausreichender Kalorienzufuhr, d.h. einer Menge von 1.000g bis 1.500g Weißbrot pro Tag, zu einem verstärkten Abbau von Eiweiß und Fett und insbesondere zu einem Eisenmangel. Die dadurch bedingte Beeinträchtigung der Sauerstoffversorgung habe erhebliche Auswirkungen auf das Gehirn und das Herz und schwäche die Körperimmunabwehr. Dies wiederum könne zu Organschäden am Herzen bis hin zum Herzinfarkt führen. Die Schwächung der Immunabwehr führe in der Regel spätestens nach sechs Monaten zum Ausbruch der Eisenmangelanämie. Die genannten Symptome träten unter den in Afghanistan herrschenden Lebensbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit noch früher ein, zumal bei einem Rückkehrer nach einem fünf Jahre langen Aufenthalt in Deutschland wegen der erheblichen Klimaumstellungen mit schwerwiegenden Infektionen der Atmungs- und Verdauungsorgane bis hin zur Tuberkulose gerechnet werden müsse. Unter den im Winter in Afghanistan gegebenen Klimabedingungen bestehe die Gefahr von Lungeninfekten. Sie könnten insbesondere dann zum Tod führen, wenn der Organismus bereits zuvor durch Eisenmangel und andere Infekte geschwächt sei. Bei einer Rückkehr nach Kabul im Sommer sei mit Darminfektionen zu rechnen. Unter diesen Umständen könnten bis zu zwei Durchfallerkrankungen möglicherweise ohne große Schäden überwunden werden. Ab der dritten entsprechenden Erkrankung müsse dann aber mit lebensbedrohlichen Entwicklungen gerechnet werden. Eine Anpassung des Körpers im Sinne einer zunehmenden Immunität sei in diesen Fällen ausgeschlossen. Insbesondere im Sommer komme es darüber hinaus auch durch das Trinken von nicht abgekochtem Wasser zu gesundheitlichen Schäden.
Aus diesen sachverständigen Ausführungen ergibt sich, dass vergleichsweise junge Männer, die in gutem Ernährungs- und Gesundheitszustand aus Europa nach Kabul zurückkehren, nicht etwa über körperliche "Reserven" verfügen, die ihnen ein Überleben auf längere Sicht erleichtern. Vielmehr erweist sich die über mehrere Jahre vollzogene Anpassung an die in Europa herrschenden klimatischen und hygienischen Bedingungen als Nachteil beispielsweise gegenüber afghanischen Rückkehrern aus Pakistan oder dem Iran. Insbesondere die dadurch erhöhte Infektanfälligkeit wird in Verbindung mit dem ernährungsbedingten Eisenmangel zu schwerwiegenden Infektionen der Atmungs- und Verdauungsorgane führen und mit hoher Wahrscheinlichkeit einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen auslösen.
Diese schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen reichen aus, um eine zwangsweise Rückkehr als unzumutbar erscheinen zu lassen, auch wenn sehr viele Afghanen in der beschriebenen Weise unterhalb des Existenzminimums "dahinvegetieren" und keine Berichte über eine Hungersnot in Kabul vorliegen, wie das Sächsische Oberverwaltungsgericht (A 1 B 58/06, AuAS 2007, 5, juris) bemerkt. Gerade den bereits zitierten Ausführungen Dr. Daneschs vom 18. Mai 2007 (an VG Koblenz) und vom 24. August 2007 ist zu entnehmen, aus welchen Gründen sich Angaben über diese Zustände einer "weiteren Präzisierung", die das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (20 A 5164/04.A, juris) vermisst, entziehen und über Hungertote oder an den Folgeerkrankungen der chronischen Mangelernährung Verstorbene nicht im Einzelnen berichtet wird. Im Übrigen beruhen die Entscheidungen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts (A 1 B 58/06, AuAS 2007, 5, juris) und des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (20 A 5164/04.A, juris) wesentlich auf den wegen des inzwischen ausgelaufenen RANA-Programms nicht mehr aktuellen Bekundungen des Herrn D.. Zwar geht auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof (8 UE 1913/06.A, juris) davon aus, dass ein junger, allein stehender Afghane ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung wahrscheinlich in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren; er räumt aber ein, manche von den Gutachtern mitgeteilte Details sprächen auch für die gegenteilige Schlussfolgerung. Soweit das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (12 B 9.05, juris) für männliche Flüchtlinge mittleren Alters im Falle der Rückkehr nach Afghanistan in der Regel keine extremen allgemeinen Gefahren sieht, lagen der Entscheidung tatsächliche Besonderheiten in der Person des Klägers zugrunde, der aus einer wohlhabenden Familie mit einflussreichen Kontakten auch in Kabul stammte (...). Ebenso wenig vergleichbar sind die Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte (OVG S-H, 2 LB 38/07, juris; OVG B-B, 12 B 11.05, juris), deren abweichende Einschätzung der Gefährdungslage darauf beruht, dass die um Abschiebungsschutz nachsuchenden afghanischen Staatsangehörigen in ein (groß-)familiäres Umfeld zurückkehren konnten."
Dieser überzeugenden Einschätzung schließt sich der Senat an. Die seit Ergehen dieses Urteils eingegangenen weiteren Erkenntnismittel belegen die Richtigkeit dieser Einschätzung und zeigen zudem eine weitere Verschärfung der Situation auf.
bb) Seit Mai 2008 hat sich die Versorgungssituation für Rückkehrer aus Europa ohne Vermögen oder (groß-)familiären Rückhalt in Afghanistan weiter verschlechtert. Auch wenn die Lage in einzelnen Provinzen und Distrikten erhebliche Unterschiede aufweist (Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan, 2009 S. 9), befindet sich das Land insgesamt gesehen in einer "Abwärtsspirale" (FAZ vom 07.02.2009). US-Geheimdienste zeichnen ein "äußerst düsteres Bild" (SZ vom 10.10.2008). Versorgungsengpässe sind an der Tagesordnung, und dies nicht nur in abgelegenen Gebieten oder den Elendsvierteln von Kabul. Die Einwohnerzahl Kabuls explodierte auch aufgrund von Landflucht sowie der massenhaften Rückkehr von Flüchtlingen in den letzten Jahren von circa einer auf nunmehr weit über drei Millionen Menschen (Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan, 2009 S. 224). Im neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 03.02.2009 heißt es, Afghanistan durchlebe insbesondere eine Nahrungsmittelkrise. Das Land gelte zwischenzeitlich in Asien als das ärmste. Die Lebensbedingungen seien landesweit schlecht. Seit dem Winter 2007/08 habe sich die Lage mit den weltweit steigenden Nahrungsmittelpreisen, verbunden mit Exportbeschränkungen der Nachbarländer für Weizen und einer Dürre in einigen Landesteilen, noch einmal erheblich verschärft. Eine weitere Verschlechterung im Winter 2008/09 und in der folgenden "mageren Jahreszeit" im ersten Halbjahr 2009 sei wahrscheinlich. Besonders problematisch sei die Lage in den ländlichen Gebieten, deren Versorgung oftmals sehr schwierig, im Winter überhaupt nicht möglich sei. Aber auch in Kabul und zunehmend in anderen großen Städten sei die Lage nicht wesentlich besser. Wegen sinkender oder ganz fehlender Kaufkraft profitiere von einer seit 2001 zwar grundsätzlich verbesserten Versorgungslage derzeit allenfalls eine kleine Bevölkerungsschicht. Angemessener Wohnraum sei knapp und nur zu hohen Preisen erhältlich. Selbst Kabul habe keine geregelte Stromversorgung. Staatliche soziale Sicherungssysteme seien weiterhin praktisch nicht vorhanden; Korruption sei weit verbreitet, der Verwaltungsapparat sei hoch ineffizient. Die medizinische Versorgung sei immer noch unzureichend. Selbst die Ansiedlung organisiert zurückgeführter Flüchtlinge in vorgesehene "townships" erfolge etwa wegen fehlender Wasserversorgung und abseitiger Lage unter "schwierigen Rahmenbedingungen" und gleiche, trotz humanitärer Hilfe von Nichtregierungsorganisationen, teilweise weiterhin einem "Aussetzen in der Wüste". Der Zugang zu Arbeit, Wasser bzw. Grundversorgung sei häufig nur sehr eingeschränkt möglich. Ohne familiäre oder soziale Netzwerke und ohne notwendige Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse würden Rückkehrer "auf größere Schwierigkeiten" stoßen. Sie könnten zudem auf übersteigerte Erwartungen ihrer finanziellen Möglichkeiten treffen und mit überhöhten Preisen konfrontiert werden. Von den im Land gebliebenen Landsleuten würden Rückkehrer im Übrigen häufig nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert. Hinzu komme, dass die Gefährdung des Einzelnen, zu einem Opfer von Gewalt zu werden, im ganzen Land gegeben sei. Die afghanische Nationalpolizei werde ihrer Aufgabe bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz nicht gerecht und gelte wegen Korruption und niedrigem Ausbildungsstand an vielen Orten selbst als Unsicherheitsfaktor. Von der sich verschlechternden Sicherheitslage seien inzwischen fast alle Landesteile betroffen. Auch die Gefahr, Opfer der deutlich zugenommenen Entführungen zwecks Erpressung von Lösegeld zu werden, treffe Rückkehrer, wenn ihnen ausreichende finanzielle Mittel für einen Freikauf unterstellt würden. Ob sich eine Person diesen Gefahren entziehen könne, hänge maßgeblich von dem Grad ihrer familiären, tribalen und sozialen Vernetzung ab.
Weitere aktuelle Erkenntnisquellen geben kein besseres Bild von der in der Gesamtschau für Rückkehrer ohne Vermögen oder (groß-)familiären Rückhalt katastrophalen Lage: Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass die Situation 2009 noch schlechter werde; "so viel Pessimismus war nie" (Der Spiegel vom 13.10.2008). Die Schere zwischen Reich und Arm klafft immer weiter auseinander. Einerseits lassen sich Drogenbarone und Warlords in Kabul "protzige Villen" bauen. Andererseits leben immer mehr Menschen in nicht winterfesten Unterkünften, oftmals Ruinen (SFH vom 21.08.2008 u. 26.02.2009), und es müssen nach einer repräsentativen Erhebung von ARD, ABC und BBC zwischenzeitlich über die Hälfte aller Haushalte (54 %) mit weniger als umgerechnet 100 Dollar (ca. 78 EUR) im Monat auskommen. Gerade noch rund ein Drittel der afghanischen Bevölkerung (37 %) gibt an, sich notwendige Lebensmittel leisten zu können. Und nur noch 31 % der Bevölkerung ist in der Lage, den Preis für Heizöl zu bezahlen (dpa-News vom 09.02.2009). Alles sei dramatisch teurer geworden, vor allem Lebensmittel, Brennholz, Benzin, Gas und Baumaterialien (SZ vom 24.10.2008); insbesondere die Lebensmittelpreise sind zwischen Februar 2008 und Februar 2009 um bis zu 130 % gestiegen (SFH vom 26.02.2009) Nach UN-Angaben müssen heute 42 % der Afghanen von weniger als einem Dollar am Tag leben (ai-Pressespiegel 2/2009, S. 46). Die Arbeitslosenrate liege zwischen 32 und 60 Prozent; ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung versuche, sich als Tagelöhner zu verdingen (SFH vom 26.02.2009). Überall könne man Armut sehen, etwa Leute, die sich "nur von Wasser, Brot und ein bisschen Tomatenpüree oder allenfalls mal von einem Teller Reis" ernähren (SZ vom 24.10.2008). Für die große Mehrheit der Afghanen würden Armut, Krankheit, Dürreperioden und interne Konflikte noch größere Bedrohungen darstellen als das Risiko, durch kriegerische oder terroristische Attacken verletzt oder getötet zu werden. Die Richtigkeit dieser Einschätzung illustrieren auch Indikatoren zum Gesundheitszustand der Bevölkerung: So stirbt heute in Afghanistan durchschnittlich alle 30 Minuten eine Frau aufgrund von Komplikationen während Schwangerschaft oder Geburt. Die Hälfte der Kinder bis zum Alter von fünf Jahren gelten als chronisch unterernährt. Lediglich zwei von zehn ländlichen Haushalten verfügen über sauberes Trinkwasser, was wiederum dazu führt, dass 85.000 Kinder im Alter unter fünf Jahren jährlich an den Folgen von Magen- und Darmerkrankungen sterben. Jedenfalls für die Mehrheit der auf dem Land lebenden Afghanen gibt es weder eine medizinische Grundversorgung noch Ernährungssicherheit (Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan, 2009 S. 105 f.). Die Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung gehört heute mit 42 Jahren zu den geringsten der Welt (SFH vom 26.02.2009). Zudem verläuft der Wiederaufbau offenbar überall schleppend. Die Korruption habe "atemberaubende Ausmaße" angenommen. Einer der wenigen funktionierenden Erwerbszweige sei die Drogenökonomie. Afghanistan hat zwischenzeitlich beinahe ein weltweites Monopol für Schlafmohn, aus dem Heroin gewonnen wird (dpa-News vom 29.01.2009). Mit den Erlösen aus Schlafmohnanbau und Drogenhandel füllen nicht nur, aber vor allem die Taliban ihre Kriegskasse (dpa-News vom 13.02.2009). Jeder zehnte Afghane baut nach UN-Berichten oftmals notgedrungen Schlafmohn an; das entspricht rund 2,5 Millionen Menschen. Hinzu kommen noch diejenigen, die Drogen schmuggeln, veredeln und weiterverkaufen. Niemand wage, ihre Zahl zu schätzen. Den Wert ihrer Früchte dagegen schon: Allein die 7,7 Tonnen Rohopium, die 2008 in Afghanistan geerntet wurden (93 % der Weltopiumsproduktion), haben einen Marktwert von 3,5 Milliarden Dollar. Ein Kilo Heroin hat derzeit in Afghanistan den Gegenwert von 30 Maschinengewehren. Täglich starten aus Girdi Jungal und Baramcha schwer bewachte Konvois mit mehreren Hundert Kilo Heroin an Bord Richtung Iran. An der Grenze zu Pakistan wurden Labore zur Veredelung des Rohopiums von fabrikartigen Ausmaßen errichtet, in denen mehrere Hundert Menschen arbeiten sollen. Rund 90% der Ernte wird inzwischen in Afghanistan selbst zu Heroin und Morphiumprodukten verarbeitet (Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan, 2009 S. 231). Ein US-Militär brachte die Verbindung zwischen Taliban-Renaissance und Drogenschmuggel lakonisch auf den Punkt: "Drogen raus, Waffen rein." Hochrangige Regierungsvertreter und sogar der Bruder von Präsident Karzai sollen sich nach Ansicht des Weißen Hauses an Drogengeschäften beteiligen (ZEIT-online vom 04.02.2009), weshalb die Bevölkerung Drogenbekämpfungsmaßnahmen als Ausdruck von Doppelmoral ansieht. Vernichtungskampagnen würden vor allem jenen verarmten Bevölkerungsteil treffen, der existenziell auf den Schlafmohnanbau angewiesen sei. Die Nato-Truppen haben dennoch beschlossen, nunmehr aktiv die Drogenproduktion zu bekämpfen; ein durchgreifender Erfolg dieser Aktionen erscheint jedoch außerordentlich fraglich (taz vom 13.10.2008). Die Schwierigkeiten Afghanistans dürften zudem kaum trennbar mit denen Pakistans verbunden sein. Die Problemzone Afghanistan besteht gewissermaßen aus einem Rumpfstaat um Kabul, dessen Aufbau nicht vorankommt, während bei seinem atomar bewaffneten Nachbarn "ein beängstigender Staatszerfall" stattfindet. Die in der Regierung von Präsident Karzai wütende Korruption habe den Zusammenbruch zentraler Autorität ebenso beschleunigt wie die wachsende Gewalt durch Militante aus Zufluchtsorten in Pakistan (netzwerk-afghanistan.info vom 09.10.2008). Die pakistanische Regierung verliere immer mehr den Zugriff auf ihre nordwestliche Grenzregion. Islamabad hat nun verkündet, man werde dort ein System islamischer Gerichtsbarkeit im Gegenzug für einen Waffenstillstand mit den Taliban akzeptieren (Die Zeit vom 19.02.2009).
cc) Die ohnehin katastrophale Versorgungssituation in Afghanistan wird zudem durch die inzwischen landesweit schwierige Sicherheitslage verschärft. Die Kämpfe zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen haben tausende Familien gezwungen, in größeren Städten Schutz zu suchen. Zehntausende intern Vertriebene leben in Slums rund um Kabul und Herat. UNHCR schätzte im Januar 2009, dass ca. 235.000 Menschen neu vertrieben wurden (SFH vom 11.03.2009). Auch die Versorgung der ländlichen Gebiete mit Hilfsgütern ist aufgrund der schwierigen Sicherheitslage nur noch eingeschränkt möglich. Die Kosten für eine LKW-Fuhre mit Hilfsgütern von Kabul nach Kandahar etwa haben sich wegen der "Gefahrenzulagen" von 1.800 Dollar im Frühjahr 2008 auf nunmehr fast 18.000 US-Dollar verzehnfacht (Der Spiegel vom 13.10.2008). Afghanistan ist heute eines der am stärksten verminten Länder der Welt (SFH vom 21.08.2008). Für die internationalen Truppen war 2008 das verlustreichste Jahr seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001. Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 2008 hat der Konflikt am Hindukusch nach UN-Angaben mehr als 4.000 Menschen das Leben gekostet, über ein Drittel davon Zivilisten; andere Schätzungen gehen von über 2000 getöteten Zivilisten im letzten Jahr aus (FAZ vom 18.02.2009). Deutschen Soldaten ist es in Kabul verboten, sich zu Fuß oder mit ungepanzerten Fahrzeugen zu bewegen; vom Elend der Flüchtlinge bekommen sie kaum etwas mit (SZ vom 02.09.2008). An eine rein militärische Konfliktlösung glaubt inzwischen offenbar niemand mehr. Präsident Karzai hat den Taliban wiederholt Verhandlungen angeboten, die jedoch abgelehnt wurden, solange ausländische Truppen im Land sind (FR vom 27.02.2009). Im Süden, Osten und Westen konnten die Taliban immer näher an Kabul heranrücken. Sie seien bereits auf 72 % des afghanischen Territoriums "dauerhaft präsent" (dpa-News vom 10.10.2008). US-Präsident Obama's angekündigte Offensive und Truppenaufstockungen um mindestens 17.000 weitere Soldaten (Die Welt vom 19.02.2009) bedeuteten noch mehr Kämpfe und Gewalt, denn die Aufständischen seien mächtig wie nie (BNN vom 17.12.2008; FAZ vom 22.12.2008). Aber nicht nur die Taliban, auch kriminelle Banden machen das Land und selbst die Hauptstadt Kabul unsicher (dpa-News vom 29.01.2009). Hinzu kommt, dass die Grenzen zwischen organisierter Kriminalität, ehemaligen Warlords, die ihre Einflussbereiche nun als Gouverneure oder Distriktchefs sichern, bis hin zu Gruppierungen der Taliban oder anderen militanten Kräften fließend verlaufen (Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan, 2009 S. 10). Kabul, jahrelang als "letzte sichere Insel im von Gewalt zerrütteten Land am Hindukusch" bezeichnet, erscheint im Frühjahr 2009 "alles andere als sicher" (Der Spiegel vom 25.01.2009). Die Zahl der registrierten Bombenanschläge (ca. 2.000) und Entführungen (ca. 300) hat sich laut US-Angaben 2008 etwa verdoppelt (taz vom 30.12.2008). Zudem habe sich zwischenzeitlich eine Art "Entführungsindustrie" entwickelt, die jeden treffen könne (SZ vom 24.10.2008). Auch das Auswärtige Amt warnt deshalb dringend vor Reisen nach Kabul und Afghanistan. Das Risiko, Opfer einer Entführung zu werden, bestehe landesweit. Auch in der Hauptstadt Kabul könnten Überfälle und Entführungen nicht ausgeschlossen werden; im übrigen Land bestünden teilweise noch deutlich höhere Sicherheitsrisiken. Wer sich dennoch nach Afghanistan begebe, müsse sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Trotz Präsenz der Internationalen Schutztruppe ISAF komme es überall zu Attentaten. Die Sicherheitskräfte der Regierung seien nicht in der Lage, Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Zudem sei die medizinische Versorgung, insbesondere die stationäre Behandlungsmöglichkeit, völlig unzureichend und in etlichen Landesteilen nahezu nicht existent bzw. nicht nutzbar (www.auswaertiges-amt.de; Zugriff vom 16.03.2009).
In einer Gesamtgefahrenschau muss vor diesem Hintergrund im konkreten Einzelfall des Klägers eine extreme Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bejaht werden.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83 b AsylVfG. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein gesetzlicher Zulassungsgrund vorliegt (§ 132 Abs. 2 VwGO).
Ende der Entscheidung
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