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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 26.04.2004
Aktenzeichen: A 2 S 172/02
Rechtsgebiete: AuslG, AsylVfG


Vorschriften:

AuslG § 51 Abs. 1
AsylVfG § 77 Abs. 1
AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1
AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2
1. Tatsachen, die nach grundlegender Änderung der Verfolgungslage ihre Bedeutung - auch für Altfälle - verloren haben, sind nicht mehr klärungsbedürftig.

2. Eine (nachträgliche) Divergenz in Bezug auf solche Tatsachen kann nicht (mehr) zur Zulassung der Berufung führen.

3. Politische Verfolgung im Irak, die an die Machtausübung des Regimes Saddam Husseins anknüpft, ist in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.

4. Die Gefahr politischer Verfolgung wegen Stellung eines Asylantrags und illegaler Ausreise aus dem Irak besteht daher nicht mehr.


A 2 S 172/02

VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Anerkennung als Asylberechtigter und Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 2. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Strauß, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Vogel und die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schmitt-Siebert

am 26. April 2004

beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Beteiligten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Februar 2002 - A 12 K 10369/00 - zuzulassen, wird abgelehnt.

Der Beteiligte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungszulassungsverfahrens.

Gründe:

Der auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung kann keinen Erfolg haben.

Die durch Senatsurteil vom 11.4.2002 - A 2 S 712/01 - bejahend geklärte Frage, ob für irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit aus dem Zentralirak eine inländische Fluchtalternative im Gebiet der autonomen Kurdenprovinzen im Nordosten des Irak (kurz: Nordirak) auch dann besteht, wenn sie über keine verwandtschaftlichen oder sozialen Beziehungen dorthin verfügen, stellt sich in dem für die Zulassung maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 AsylVfG) nicht mehr.

Derzeit und für die nächste Zukunft ist eine politische Verfolgung im Irak, die eine Verknüpfung mit einer etwaigen früheren Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins aufweisen könnte, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, so dass eine etwa - mangels Bestehens einer Fluchtalternative - anzunehmende Vorverfolgung durch dieses Regime keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz zu begründen vermag (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 27.4.1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250).

Vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich eingetretenen tiefgreifenden politischen Veränderungen im Irak ist die Möglichkeit einer derartigen Verfolgung nicht mehr als derart "real" zu erachten, dass ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr nicht mehr auf sich nähme. Vielmehr können Verfolgungsmaßnahmen, die an die Machtausübung des Regimes Saddam Husseins anknüpfen, auf der Basis der vorliegenden Erkenntnisse über die tatsächlichen aktuellen Verhältnisse im Irak ausgeschlossen werden. Diese Prognose kann trotz der zu berücksichtigenden gegenwärtigen instabilen Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers getroffen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 3.12.1985 - 9 C 22.85 -, NVwZ 1986, 760).

Die politische Situation im Irak hat sich - wie auf Grund der umfangreichen und detaillierten Presseberichterstattung allgemeinkundig ist - durch den am 20.3.2003 begonnenen und am 2.5.2003 weitgehend beendeten 3. Golfkrieg grundlegend verändert. Das bis zu diesem Zeitpunkt herrschende Regime Saddam Husseins besteht nicht mehr fort. Anhaltspunkte für eine Wiedererlangung der Macht durch dieses Regime gibt es nicht (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.8.2003 - 20 A 430/02.A - und Urteil vom 18.11.2003 - 9 A 4107/99.A -; SächsOVG , Beschluss vom 28.8.2003 - A 4 B 573/02 -; NdsOVG , Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39/03 -; BayVGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751 -; HessVGH, Beschluss vom 21.11.2003 - 10 UZ 984/03.A -; VG Stade vom 22.9.2003 - 6 A 1963/02 -; VG Magdeburg vom 30.10.2003 - 4 A 142/02 MD -; VG Leipzig, Urteil vom 7.1.2004 - A 6 K 30201/02 -).

Seit Beendigung der militärischen Kampfhandlungen steht der Irak unter Besatzungsrecht der alliierten Streitkräfte des 3. Golfkrieges. Zum Neuaufbau wurde eine Zivilverwaltung unter Leitung des Sonderbeauftragten Paul Bremer eingerichtet. Sie stützt sich auf amerikanische Streitkräfte, eine multinationale Truppe sowie Polizeikontingente aus verschiedenen Ländern der Militärkoalition. Die amerikanische Zivilverwaltung löste die Stützpfeiler des alten Regimes, vor allem die Baath-Partei, die republikanische Garde und die irakischen Streitkräfte auf. Viele der Vertrauenspersonen des früheren Diktators Saddam Hussein wurden mittlerweile gefasst. Seine Söhne Udai und Qusai, die wesentliche Stütze des Regimes waren, wurden im Juli 2003 bei einem Festnahmeversuch getötet. Saddam Hussein selbst wurde am 13.12.2003 verhaftet.

Die Vereinigten Staaten haben sich verpflichtet, die Besatzung des Iraks zum 30.6.2004 zu beenden. Derzeit besteht ein irakischer Übergangsrat. Am 1.3.2004 hat sich der Regierungsrat auf eine Übergangsverfassung geeinigt und sie am 8.3.2004 unterzeichnet. Die ehemals kurdische autonome Zone im Nordirak blieb von der militärischen Intervention der Koalition der USA und Großbritanniens weitgehend unberührt.

Unabhängig davon, ob eine Gesamtwürdigung der derzeit von Kämpfen radikaler Schiiten gegen die Besatzer geprägten Verhältnisse im Irak die Annahme der Herausbildung einer irakischen Staatsgewalt als Grundvoraussetzung für eine mögliche politische Verfolgung in nächster Zeit erlaubt, ist jedenfalls davon auszugehen, dass eine neue politische Führung des Landes die Politik des Regimes Saddam Husseins nicht fortführen wird, so dass Verfolgungshandlungen, die an das Vorgängerregime anknüpfen, hinreichend sicher auszuschließen sind. Die etwaige Schutzunfähigkeit eines künftig neu entstehenden Staates oder einer quasi-staatlichen Macht allein könnte im Übrigen schon nicht die Gefahr politischer Verfolgung begründen. Eine derartige Annahme würde die Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen Dritter voraussetzen, die ihrerseits politischen Charakter im Rechtssinne aufwiesen (BVerwG, Urteil vom 2.8.1983, Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG, Nr.12). Dass Derartiges den zur Zeit stattfindenden Attentaten und Übergriffen anhaftet, ist nicht ersichtlich.

Auch soweit die Besatzungsmächte im Irak Herrschaftsgewalt ausüben, fehlen jegliche Anhaltspunkte dafür, dass sie irakische Staatsangehörige, die angeben, von Saddam Husseins Regime politisch verfolgt gewesen zu sein oder derartige Verfolgung bei Rückkehr wegen Stellung eines Asylantrags und illegaler Ausreise befürchten zu müssen, mit hieran anknüpfenden oder anderen politischen Verfolgungsmaßnahmen überziehen werden. Derartige früher gefahrbegründende Vorgänge haben ihre Bedeutung verloren, weil ihr damals gefährdender Charakter entscheidend auf dem Unrechtsregime Saddam Husseins beruhte. In einem Berufungsverfahren wäre auch über die nachträglich eingetretene Divergenz in der o.a. Frage (vgl. Senatsurteil vom 11.4.2002 - A 2 S 712/01 -) nicht mehr zu entscheiden. Da die aufgeworfene Frage weder für die streitige Entscheidung noch für künftige Entscheidungen der Instanzgerichte in "Altfällen" von Bedeutung wäre, könnte in einem solchen Verfahren die aufgezeigte Divergenz nicht berichtigt und damit auch der ihretwegen geforderte Beitrag zur Rechtseinheit nicht geleistet werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.6.1996, NVwZ 1996,1010; BVerwG, Beschluss vom 27.2.1997, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff.1 VwGO Nr. 15; vgl. auch Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde 1990, Rdnrn. 168, 171). Eine Berufungszulassung wegen der unzweifelhaft eingetretenen nachträglichen Divergenz kam daher ebenfalls nicht in Betracht.

Der Senat bemerkt abschließend, dass es die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der nachträglich eingetretenen Divergenz dem Berufungsgericht nicht erlauben, die Berufung nur deshalb zuzulassen, weil die vom Verwaltungsgericht getroffene Entscheidung auf Grund der durch den 3. Golfkrieg hervorgerufenen - allgemeinkundigen - grundlegenden Änderung der innenpolitischen Verhältnisse im Irak überholt ist und heute so nicht mehr ergehen würde. Dies bedeutet freilich in der Sache nicht, dass die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter unter allen Umständen Bestand haben muss (vgl. § 73 AsylVfG).

Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG).

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 (entspr.) VwGO, 83b Abs. 1 AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

Ende der Entscheidung

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